Forscher der Universität Gießen haben herausgefunden, dass seit Beginn der Pandemie auffallend viele Kinder und Jugendliche an Typ-1-Diabetes erkranken. Die Autoimmunkrankheit wurde zwischen Januar 2020 und Juni 2021 bei 5162 unter 18-Jährigen diagnostiziert – das entspricht einem Inzidenz-Anstieg von 15 Prozent gegenüber den Vorjahren 2011 bis 2019. Im Sommer nach der ersten Coronawelle habe es sogar 50 Prozent mehr Fälle gegeben als erwartet. Auffallend fanden die Forscher auch, dass die vermehrten Diabetes-Diagnosen immer im Abstand von drei Monaten zur letzten Coronawelle auftraten. Die Daten für die Studie wurden dem bundesweiten Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation-Register (DPV-Register) entnommen, das über 90 Prozent aller Erkrankungen von Kindern in Deutschland erfasst.
Eine zur Coronapanik neigende Fraktion der Wissenschaft glaubt nun, dass eine Coronainfektion das Ausbrechen von Typ-1-Diabetes verursachen kann. Schon länger werden Virusinfektionen als mögliche Auslöser für den sogenannten juvenilen Diabetes diskutiert. Man stellt sich das so vor: Ein Mensch wird mit der Erbanlage für Typ-1-Diabetes geboren – ob und wann die Krankheit ausbricht, ist aber davon abhängig, ob der Mensch mit bestimmten Triggerfaktoren der Umwelt in Berührung kommt. Das können Virusinfektionen, aber auch Stress in jeglicher Form sein. Durch den Trigger werden die Erbanlagen aktiviert und die zerstörerische Autoimmunreaktion in Gang gesetzt. Einige Forscher glauben, dass auch das Coronavirus diesen Prozess auslösen könnte.
Das Immunsystem-Training fällt aktuell weg
Es gibt jedoch Argumente, die stark gegen Corona als Ursache sprechen. Wie Clemens Kamrath Privatdozent der Universität Gießen und Leiter der oben genannten Studie, erklärt, wurden im Untersuchungszeitraum von 2020 bis 2021 nach jeder Coronawelle gleichbleibend hohe Zunahmen der Diabetes-Neuerkrankungen festgestellt. Kamrath: „Der Anstieg für das Risiko, nach der ersten und der zweiten beziehungsweise dritten Corona-Welle Diabetes zu bekommen, ist exakt gleich. Die Covid-19-Fallzahlen in der zweiten und dritten Welle waren aber viel höher als in der ersten. Wenn Sars-CoV-2 den Diabetes auslöst, hätten wir erwartet, dass sich das entsprechend widerspiegelt, die Zahlen hätten höher sein müssen als die nach der ersten Welle.“ Dies sei aber nicht der Fall gewesen.
Kamrath vermutet, dass andere Faktoren der Pandemie zum Anstieg der Typ-1-Diabetesfälle geführt haben. Zum einen könnte statt dem Virus auch erhöhter psychischer Stress Triggerfaktor für das Ausbrechen der Krankheit gewesen sein. Die Kita- und Schulschließungen, das Abkapseln zuhause und der fehlende Kontakt zu Gleichaltrigen – all das hat Kinder und Jugendliche sehr mitgenommen und dürfte bei ihnen das Stresshormon Cortisol in die Höhe getrieben haben. Durch diesen Stress könnte auch die initiale Autoimmunreaktion zur Entstehung des Typ-1-Diabetes in Gang gesetzt worden sein.
Zum anderen hält es Kamrath für möglich, dass die lange Isolation zuhause das Immunsystem kleiner Kinder aus der Bahn gebracht hat, was wiederum zum Ausbruch der Autoimmunerkrankung geführt haben könnte. Kamrath: „Jeder kennt das Beispiel, dass Kinder, die auf einem Bauernhof aufwachsen, weniger Allergien entwickeln, vermutlich weil das Immunsystem gut beschäftigt und trainiert wird. Dieses Training fällt weg, wenn es keine Kontakte und damit keine Möglichkeiten, sich mit anderen Erkrankungen anzustecken, gibt.“
Zu dieser These passt, dass Kamrath in seiner Studie vor allem bei Kleinkindern im Alter unter sechs Jahren einen starken Anstieg an Typ-1-Diabetes-Neuerkrankungen festgestellt hat (23 Prozent im Gesamtzeitraum; 34 Prozent im ersten Halbjahr 2021). Bei den 6- bis 18-Jährigen waren die Ansteige der Neuerkrankungen deutlich geringer. Kamrath erklärt: „Kleinkinder könnten […] besonders betroffen sein, weil ihr Immunsystem sich noch entwickelt und anfälliger für solche veränderten Umstände [Lockdowns, Anm. d. A.] ist“.
Wie wahrscheinlich seine Hypothesen sind, wird sich laut Kamrath schon in den nächsten Monaten nach der Omikron-Welle zeigen. „Derzeit findet ja leider eine massive Durchseuchung bei den Kindern statt […]. Wäre tatsächlich das Virus Sars-CoV-2 der Auslöser, dann hätten wir in einigen Monaten eine massive Zunahme bei den Typ-1-Diabetes-Fällen.“ Ist dies nicht der Fall, steht ein schwerer Vorwurf im Raum: Die ewige Lockdown-Politik könnte bei den Kleinsten nicht nur, wie bereits bekannt, zu zahlreichen psychischen Schäden geführt haben – sie könnte auch der Auslöser dafür sein, dass zahlreiche Kinder nun ihr Leben lang mit einer unheilbaren und therapieaufwändigen Krankheit leben müssen.