Tichys Einblick
Flüchtlingsverteilung an die Bundesländer

Berlins Hauptbahnhof versinkt im Chaos, Tegel muss herhalten

Am Hauptbahnhof Berlin bricht zunehmend Chaos bei der Verteilung der Flüchtlinge in andere Bundesländer aus. Nun soll der alte Flughafen Tegel die Hauptstadt retten. Ohne viele freiwillige Helfer, private Organisationen und Soldaten wäre Berlin bei der Bewältigung schon längst zusammengebrochen.

IMAGO/Jens Schicke

Die Hauptstadt versinkt im Chaos. Über 200.000 Menschen sind derweil in Deutschland angekommen – die Mehrheit davon am Berliner Hauptbahnhof. Bei der größten Fluchtbewegung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg sind es jetzt bereits zwischen 10.000 und 15.000 Personen, die täglich in Berlin ankommen. Die Flüchtlingszahlen werden demnächst noch steigen, aufgrund Putins zunehmender Bombardierung der Städte. Doch Berlin ist bereits an seiner absoluten Belastungsgrenze angekommen.

HAUPTSTADT AM LIMIT
Franziska Giffey mitten im Chaos: Flüchtlinge verlieren ihre Unterkünfte
Am Hauptbahnhof brach am Freitag endgültig das absolute Chaos aus, als es plötzlich keine Unterkünfte mehr innerhalb Berlins gibt: „Es gibt keine Quartiere mehr“, sagen verzweifelt immer wieder Helfer. Die Mehrheit der Helfer am Hauptbahnhof sind Freiwillige. Nicht die Stadt hat als erste das Flüchtlingsmanagement organisiert, wieder waren es freiwillige Helfer und private Organisationen. „Zwei Wochen hat es gedauert, bis der Senat am Hauptbahnhof wirklich etwas in die Hand genommen hat“, sagt ein Helfer in einer orangenen Weste. Was wäre passiert, wenn nicht Freiwillige oder auch die Deutsche Bahn große Eigeninitiative gezeigt hätten? Dann wäre Berlin Land unter gegangen.

Mittlerweile hat der Senat die Organisationen am Hauptbahnhof übernommen. Ob es „wirklich besser“ ist, das kann oder will kein Helfer schlussendlich beantworten. Die Helfer, die man dort antrifft, wurden jedenfalls nicht vom Senat geschickt. Aus dem letzten Ärmel schüttelte Franziska Giffey den alten Flughafen Tegel als Notunterkunft, der seit vergangenem Wochenende gleichzeitig als Ankunftszentrum dient. Von hier aus sollen Flüchtlinge in die Bundesländer verteilt werden. Doch bevor Tegel zum Ankunftszentrum wurde, brach nun erst einmal das Chaos am Hauptbahnhof aus.

Auf dem DB-Gelände vor dem Bahnhof, wo normalerweise der „Ersatzverkehr“ stattfindet, kommen die Busse an, welche die Flüchtlinge in andere Bundesländer verteilen sollen. Hunderte Menschen stehen an den Haltestellen und warten auf den einen Bus, der sie in eine Unterkunft fährt. Sie alle haben eine mehrtägige, nicht selten strapaziöse Reise hinter sich. Am Hauptbahnhof müssen sie noch einmal stundenlang warten, bis die Busse kommen. Willkommen in Berlin, die Einwohner der Hauptstadt haben sich in den letzten Jahren längst daran gewöhnt, dass die öffentlichen Verkehrsmittel deutlich später kommen, wenn überhaupt.

Unter den geflüchteten Menschen, die nun auf Busse warten, macht sich Angst breit, dass sie in eine andere Region gebracht werden als ihre Familienmitglieder oder Freunde, die vor ein paar Stunden in einen anderen Bus gestiegen sind. Tränen fließen.

REPORTAGE
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Wer für was genau zuständig ist, das weiß an den Bushaltestellen auf dem DB-Gelände weder ein Helfer noch ein DB-Mitarbeiter, mit denen man als Journalist übrigens nicht sprechen darf. „Jeder will zuständig sein und gleichzeitig auch nicht“, sagt der freiwillige Helfer Thomas, der angeblich schon seit über zwanzig Stunden vor Ort ist. „Hier gibt es keine Kommunikation, typisch Berlin“, sagte eine andere Helferin in ihrer gelben Weste. Einige Helfer müssen drei Frauen beruhigen, ihnen versprechen, dass sie in der selben Stadt ankommen werden wie ihre Verwandten. Als endlich Busse einfahren, bricht abermals Chaos aus. Mehrere Helfer rennen ohne Absprachen auf die Busse zu, fragen mehrmals wohin ein Bus fährt.

Jeder ruft etwas anderes. Erneut muss das Fahrtziel geprüft werden. An diesem Tag sind elf bis fünfzehn Busse geplant, zwei davon womöglich nach Frankreich. „In zwei Minuten kann sich hier alles ändern“, sagt Thomas. „Zuerst hieß es, es gäbe keinen Bus mehr nach Süden. Und dann kommt plötzlich doch ein Bus nach Süden.“ Wer die Busse konkret stellt, das kann keiner beantworten. Mehrheitlich werden die Busse von der Deutschen Bahn gestellt und organisiert, nicht vom Senat. Woher die anderen Busse kommen, das kann die Deutsche Bahn selbst nicht beantworten, auf deren Gelände sie einfahren. Wohl werden sie von Landesregierungen anderer Bundesländer organisiert. Aber so richtig: weiß keiner hier irgendwas.

„Seit der Senat hier was organisieren will, ist es erst chaotisch geworden“, beklagt ein junger Helfer. Die gelbe Weste steht für „Deutsch, Englisch“, die orangene für „Russisch“. Wer eine blaue Weste trägt, ist meist ein Koordinator. Doch mittlerweile gibt auch die DB ihren Mitarbeitern orangene Westen und der Senat seinen Mitarbeitern blaue. Dies sorgt für große Verwirrung, nicht nur bei Geflüchteten, sondern auch bei den Helfern vor Ort. Mitten in der Verteilung der Geflüchteten auf die Busse bricht ein Streit zwischen zwei Helfern aus. Beide wollen hier das Sagen haben, beide engagiert in der Gesamtsituation.

Schnell wird klar: Der Senat überlässt die freiwilligen Helfer sich selbst. Keiner von den Helfern, mit denen ich spreche, ist in der Flüchtlingshilfe aktiv, alle kommen einem anderen Beruf nach, keiner von ihnen hat gelernt, wie man Flüchtlingsmanagement betreibt. Hier fließen mittlerweile Tränen bei einer der im Streit geratene Helfer. Und immer wieder fragt man sich: Wo sind Frau Giffeys Helfer? Fototermin für die Presse absolviert und das war’s, dieser Eindruck hat sich bei vielen freiwilligen Unterstützern mittlerweile verfestigt, auf deren Schultern man offensichtlich gerne noch länger baut: „Ein Kind wurde fast eingequetscht“, jeder versuche für Ordnung zu sorgen, obwohl niemand verantwortlich sei, „das sorgt für Chaos hier“, sagt Thomas. „Der Senat hat komplett versagt. Der Senat gibt nur Interviews im Fernsehen, mehr nicht.“

KEINE REGISTRIERUNGEN
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Seit dem Wochenende wird versucht, die ankommenden Flüchtlinge mit BVG-Bussen zum alten Flughafen Tegel zu shutteln. Von dort aus sollen sie nach dem „Königsberger-Schlüssel“ weiterverteilt werden. Hier zeigt sich Franziska Giffey gerne vor der Kamera. An 120 Schaltern werden Namen und Passdaten der angekommenen Personen eingetippt. Doch bevor dies geschah, sind bereits Tausende in Berlin nicht registriert worden, gingen ihrer eigenen Wege.

Kaum ein illegal Einreisender oder eingereister Verbrecher steigt freiwillig in den BVG-Bus, um sich in Tegel registrieren zu lassen. Eine politische Illusion und ein politisches Versagen zugleich. Wenigstens können hier bis zu dreitausend Menschen vorübergehend in der Nacht unterkommen. In den Nächten zuvor gab es keine Unterkünfte mehr, und Flüchtlinge wurden zum zweiten Mal obdachlos. Auf eigene Faust stiegen zahllose Menschen in irgendwelche Züge, ganz gleich wohin, ein, um nicht auf der Straße schlafen zu müssen. Mittlerweile gibt es kaum noch mehr aufzufindende Helfer, Soldaten müssen hier aushelfen am alten Flughafen.

Berlin – eine Stadt im permanenten Ausnahmezustand.

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