Tichys Einblick
Entscheidung für nationale Selbstbestimmung

Fidesz 49 Prozent: Die Opposition verwechselt ihre Kreise in Budapest mit Ungarn

Noch nie in der postkommunistischen Geschichte Ungarns war es einer Partei gelungen, dreimal hintereinander zu gewinnen. Die gestrige Wahl ist wahrscheinlich der größte Erfolg von Fidesz und Viktor Orbán.

© Laszlo Balogh/Getty Images

Viktor Orbán und die Partei Fidesz (Verband der jungen Demokraten) haben die ungarischen Wahlen am Sonntag mit einem noch größeren Vorsprung vor allen anderen Parteien gewonnen, als selbst die optimistischsten Unterstützer zu hoffen gewagt haben. Noch nie in der postkommunistischen Geschichte Ungarns war es einer Partei gelungen, dreimal hintereinander zu gewinnen. Die gestrige Wahl ist wahrscheinlich der größte Erfolg von Fidesz und Viktor Orbán.

Mit 48,9 Prozent hat Fidesz seinen Stimmanteil noch einmal um 4,5 Prozent im Verhältnis zu 2014 steigern können und damit eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erreicht. Von der Opposition ist es nur den Grünen der LMP (Eine andere Politik ist möglich) gelungen, etwa 1,5 Prozent hinzuzugewinnen, sie erhielten 6,9 Prozent. Verloren haben alle anderen Oppositionsparteien: Etwa einen Prozent hat die einst rechtsradikale, inzwischen undefinierbare Partei Jobbik (Die Rechten) eingebüßt und erreichte 19,5 Prozent. Bedeutend sind die Verluste der Sozialisten, der Nachfolgepartei der ungarischen Kommunisten: Sie haben mit 12,3 Prozent etwas mehr als fünf Prozent weniger Stimmen bekommen als 2014, was unter anderem der Abspaltung der Partei DK (Demokratische Koalition) des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány zuzuschreiben ist. Seine Partei hat knapp die 5-Prozent-Hürde geschafft und kam ins Parlament. Drei kleinen Aktionsparteien ist das nicht gelungen.

Ein Signal für Brüssel
Orbán gewinnt höher als vorhergesagt
Am Sonntag im Laufe des Tages wurde schon klar, dass mit einer für ungarische Verhältnisse sehr hohen Wahlbeteiligung zu rechnen sein wird, und am Abend war sie mit 70 Prozent tatsächlich um fast zehn Prozent höher als 2014. Sofort gab es zwei sehr verschiedene Interpretationen der möglichen Auswirkungen auf das Ergebnis. Die Oppositionsparteien erklärten das große Interesse der Wähler mit dem Aufkommen einer Wechselstimmung. Noch um 20 Uhr sah Peter Juhász, Vorsitzender der linken Minipartei „Együtt“ (Gemeinsam), den Systemwechsel in greifbarer Nähe. Die besonders hohe Wahlbeteiligung habe die Legitimität der Partei von Viktor Orbán, Fidesz, erschüttert, sagte er. Der Opposition nahestehende Kommentatoren erlebten das Land in Proteststimmung und registrierten den Aufruhr der Jugend. Noch bis zum Schluss, als endlich 22 Uhr die ersten Ergebnisse offiziell verkündet wurden, waren die Vertreter der Opposition voller Zuversicht, dass sie Fidesz und Viktor Orbán einen entscheidenden Schlag haben versetzen könnten.

Fidesz hatte eine andere Interpretation für die hohe Wahlbeteiligung, die sich schließlich als die richtige erweisen sollte. Der Partei war es gelungen, vor allem auf dem Lande und in kleinen Gemeinden jene zu mobilisieren, die sich nicht für Politik interessieren und eher nicht wählen gehen. Das hat sie erreicht, indem sie drei mit einander zusammenhängende Fragen in den Mittelpunkt ihrer Kampagne stellte: die Frage der nationalen Selbstbestimmung, den Kampf gegen Migration und die Islamisierung Europas und die Verteidigung der traditionellen Werte der Familie und der Nation. Ihre Kandidaten haben den Wählern glaubhaft vermitteln können, dass diese Fragen über die Zukunft Ungarns und ganz Europas entscheiden werden. Es ist gut möglich, dass viele Wähler die wahre Tragweite der drei Punkte nicht in voller Tiefe begriffen haben. Aber sie erinnerten sich gewiss lebhaft noch an die Tage 2015, als 400.000 Fremde innerhalb kurzer Zeit das Land durchquerten, Fremde, die nicht als Schutzsuchende, sondern – mit dem Wissen um die Merkelsche Unterstützung im Rücken – als Fordernde ins Land einfielen.

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Wichtige Wahlhelfer Viktor Orbáns waren die seither stattfindenden Ereignisse in Deutschland und Europa. Auch in Ungarn wurde – wenn auch nur allmählich – bekannt, welche Verhältnisse dort infolge der unkontrollierten Migration herrschen, und es bedurfte in Anbetracht der täglichen Nachrichten keiner spitzfindigen Argumentation, um damit Stimmen für die Abwehr solcher Zustände zu gewinnen. Es mag einigen Wählern vielleicht auch klar geworden sein, dass allein schon ein schwächerer Wahlsieg Orbáns möglicherweise das Ende der Visegrád-Gruppe mit unabsehbaren Folgen für ganz Europa bedeutet hätte.

Eine weitere Quelle des Fidesz-Wahlsieges war die außerordentlich gut laufende Konjunktur. Es herrscht Vollbeschäftigung, es sind so viele Menschen wie noch niemals seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Arbeit und Brot. Die Arbeitslosigkeit lag Ende 2017 bei 3,8 Prozent, das Wirtschaftswachstum bei 4,2 Prozent (nach Angaben der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer). Die durchschnittlichen Netto-Löhne und Gehälter sind im Verhältnis zu Westeuropa mit 634 Euro zwar immer noch niedrig, verzeichneten aber ein Wachstum von über 10 Prozent 2017.

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Den zentralen Fidesz-Themen nationale Selbstbestimmung, Islamismus und Schutz von Land und Familie konnte die Opposition nichts entgegensetzen. Nach anfänglichen „humanitären“ Protesten gegen den Zaun an der Südgrenze Ungarns war sie zwischenzeitlich auch nur sehr zögerlich bereit, sich für die Aufrechterhaltung auszusprechen. Aber zu einer klaren Stellungnahme gegen die Massenmigration und zur Forderung der EU nach Umverteilung war sie nicht zu bewegen. Alle gaben sich betont als treue Anhänger der EU und der europäischen Mainstream-Ideologien von Diversität, Ökologismus und Antipopulismus. Das erwies sich als kapitaler Fehler. Fidesz gelang es, den Hauptwiderspruch der Zeit zu benennen, dessen Gewicht die meisten spürten und neben dem jede andere Kritik an der Politik der Partei unbedeutend erschien.

Dabei hätte es viel zu kritisieren gegeben, allerdings nicht das, was die Opposition tatsächlich kritisierte. Ungarn sei eine Diktatur, in der keine Rede- und Medienfreiheit existiere, behaupteten am lautesten jene Magazine und Fernsehsender, die, wären ihre Vorwürfe war, gar nicht existieren könnten. Überzogene Behauptungen wie diese und die ausländischen Kampagnen gegen Ungarn, die sich auf die Klagen dieser Politiker im Ausland stützten, verärgerten viele, die Fidesz durchaus kritisch gegenüberstanden. Berechtigte oppositionelle Kritik gab es an den Zuständen im Gesundheits- und Schulwesen, manche Kritik an der Sozialpolitik war zumindest erwägenswert. Doch für den freien Markt, den freien Bürger, gegen die Wucherung des Staates argumentierte in diesem Wahlkampf niemand. Alle Oppositionsparteien sind – ebenso wie Fidesz – Etatisten, der Zwist unter ihnen geht ausschließlich um Fragen der Umverteilung. Sie sind für die weitere Einschränkung des ohnehin schon stark regulierten Marktes und begeistern sich für den europäischen Mindestlohn. Bei diesen Fragen befinden sich linke Sozialisten und die Rechten von Jobbik in bestem Einvernehmen. Die Opposition neidet Fidesz den Staat als Beute, und möchte ihn für sich und ihre Klientelen erobern. Dass dieses Ansinnen als Wahlprogramm nicht zündet, ist nicht weiter erstaunlich.

Handeln triumphiert über Reden
Kakanien-Block, Balkanroute und Folgen
Der einzige Ort, wo die Oppositionsparteien Erfolg hatten, ist die Metropole Budapest. Hier leben die EU- und Globalisierungsgewinner, hier lebt die intellektuelle und wirtschaftliche Elite des Landes mit traditionell guten Beziehungen zu den tonangebenden westlichen Eliten. Der unabhängige politische Analyst Gábor Török sieht in dieser Wahl gar die Manifestation einer tiefen Spaltung zwischen dem Land und der Hauptstadt. „Jede Erfahrung zeigt, dass die beiden Welten immer weiter außeinanderdriften“, schreibt er in seiner Analyse des Wahlergebnisses. In dieser Hinsicht ist Ungarn inzwischen nicht anders als die anderen westeuropäischen Länder. Viktor Orbán, der ein feines Gespür für Stimmungen und gesellschaftliche Bewegungen hat, sprach schon seit langem bewusst nicht die westlich orientierten Eliten, sondern die einfachen Menschen an, womit er den Zorn und die Verachtung der Gebildeten auf sich zog. Auch diese haben wohl einen großen Fehler gemacht, als sie Orbáns Affinität zum Ländlichen, zu den Arbeitern und den einfachen Vergnügungen als intellektuellen Mangel interpretierten.

Als gestern Nacht klar wurde, dass Fidesz ein noch besseres Ergebnis erzielen würde als bei der vorhergehenden Wahl 2014, stand die Bestürzung allen Führungskräften der Oppositionsparteien ins Gesicht geschrieben. Sie wurden öffentlich vorgeführt, und es zeigte sich, dass sie ganz offensichtlich keine Ahnung davon haben, was im Lande tatsächlich vorgeht. Ein Rücktritt folgte daraufhin auf den nächsten: Inzwischen ist die gesamte Führungsmannschaft der Sozialisten zurückgetreten, ebenso Gábor Vona, Vorsitzender der früher rechtsradikalen Jobbik, und auch die Führung von „Együtt“, trat zurück, so wie ein Führungsmitglied der Grünen. Ferenc Gyurcsány, ehemaliger sozialistischer Ministerpräsident, entschied sich anstelle von Selbstkritik für Drohungen: „Statt eines europäischen, bürgerlichen Ungarn erwartet uns eine dumpfe östliche Macht, Retorsionen, die Vernichtung der restlichen menschlichen Zusammenhänge, die Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten und die Vernichtung der menschlichen Würde“, schrieb er in einer Erklärung heute Morgen. Bei aller Zerknirschung und Wut ist eine Frage von keinem der oppositionellen Parteiführer gestellt, geschweige denn beantwortet worden: Warum hat sich die Bevölkerung mit solcher Mehrheit gegen sie und für Fidesz entschieden?


Krisztina Koenen ist Publizistin und Übersetzerin. Zuletzt erschien von Ihr in deutscher Übersetzung:

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