Sechs Monate vor der Bundestagswahl zeigt sich in den Umfragen eine interessante Pattsituation: Bedenkt man die bei solchen Umfragen übliche Fehlertoleranz, können sich momentan weder CDU/CSU noch SPD sicher sein, als stärkste Partei aus den Wahlen hervorzugehen. Darüber sollten beide Fraktionen beunruhigt sein, denn ihre Chancen, in einer großen Koalition als der jeweilige Juniorpartner zu enden, stehen damit praktisch 50:50. Allerdings stehen ihre Chancen, der großen Koalition mittels einer Drei-Parteien-Koalition zu entkommen, nicht besser, denn die Umfragewerte der drei koalitionswilligen kleineren Parteien FDP, Linke und Grüne unterscheiden sich aktuell unter Einbeziehung des statistischen Fehlers ebenfalls nicht ausreichend, um entweder dem Modell Schwarz-Gelb-Grün, Rot-Gelb-Grün, oder Rot-Rot-Grün eine sichere Mehrheit in Aussicht zu stellen.
Die Grünen und die FDP sind in diesen Rechnungen die beiden Kleinparteien, die zumindest theoretisch sowohl mit der Union, als auch mit der SPD koalieren könnten. Als „Zünglein an der Waage“ könnten sie sich ihren Eintritt in eine Koalition teuer entlohnen lassen, falls sie die notwendigen zusätzlichen Mandate auf den Tisch legen könnten. Das ist eine einfache Folge des Verhältniswahlrechts.
Den Grünen steht dabei vor allem ihre ausgesprochene Ehrlichkeit im Weg, denn sie machen schließlich keinen Hehl daraus, dass ihnen effektive Polizeiarbeit ein Dorn im Auge ist, während paternalistische Verbote nach wie vor ihr Liebstes sind.
Die FDP dagegen sagt momentan nichts, was bundesweit wahrgenommen werden würde und unterscheidet sich trotzdem (oder deshalb) statistisch nicht von den Umfragewerten der Grünen. Das heißt aber auch, dass ein erneutes Verfehlen der Fünfprozentmarke am Wahltag für die FDP immer noch im Rahmen des Wahrscheinlichen liegt. Kein Wunder, denn die FDP ist derzeit diejenige Partei, die am weitesten davon entfernt ist, ihr Wählerpotential voll auszuschöpfen.
Die Union mobilisiert mit Rot-Rot-Grün verhindern
Die Union mobilisiert ihre Wähler momentan mit der Entscheidung: Wir oder Rot-Rot-Grün. Die SPD mobilisiert nicht weniger erfolgreich mit: Wir oder noch vier Jahre Merkel. Beide Strategien implizieren zusammen zwei Dinge: Erstens eröffnet die Aussicht, Merkel einfach nur loswerden zu können, ein beachtliches Wählerpotential. Zweitens schrumpft dieses Wählerpotential wieder, wenn klar ist, dass für Merkels Abwahl die Kröte Rot-Rot-Grün geschluckt werden müsste.
Eine für die FDP abgegebene Stimme verringert im Gegensatz zu einer Stimme für die Grünen die rot-rot-grüne Gefahr. Gleichzeitig kann die FDP, wenn sie will, ihren potentiellen Wählern auf zweierlei Art einen Wechsel im Kanzleramt in Aussicht stellen: Entweder, indem sie eine Koalition mit SPD und Grünen bildet. Oder, indem sie in eine schwarz-gelb-grüne Koalition nur unter der Bedingung eintritt, dass die Kanzlerin ausgewechselt wird.
Letztere Option ist ernst zu nehmen. Sie wäre in der Geschichte der Bundesrepublik auch nicht neu, denn bereits nach der Bundestagswahl 1961 hatte die FDP durchgesetzt, dass der damals nochmalig gewählte Bundeskanzler Adenauer nach zwei weiteren Amtsjahren für seinen Nachfolger Erhard Platz machen musste. Es gibt 2017 keinen Grund, Angela Merkel dieselben zwei Jahre zu gewähren, denn die Merkel-Müdigkeit ist beachtlich und ihre Fehler sind gewaltig gewesen.
FDP: Mit der CDU ohne Merkel
Die Variante, die Kanzlerschaft Merkels durch den Koalitionspartner FDP beenden zu lassen, hätte übrigens für die Union den doppelten Vorteil, dass sie Merkel nicht selbst absägen müsste und immer noch weiterregieren könnte. Sollte die Union vor der Wahl stehen: Opposition ohne Merkel oder Regieren ohne Merkel – wofür würde sie sich wohl entscheiden? Auch Merkel würde man mit dieser Variante des politischen Abgangs ein vergleichsweise gutes Angebot machen, ihr Gesicht zu wahren: „Eigentlich unbesiegt und schweren Herzens, aber von der Pflicht dazu angehalten, Deutschland zu einer handlungsfähigen Regierung unter Führung ihrer geliebten Union zu verhelfen“, könnte sie ihren Rücktritt pathetisch und vielleicht sogar versöhnlich inszenieren.
Doch auch die Zusammenarbeit mit der SPD und den Grünen sollte nicht aus dem Blickfeld geraten. Die Sozialdemokraten würden mittlerweile ihr linkes Auge für eine SPD-geführte Regierung hergeben und einen ideologischen Unterschied zwischen einer Kanzlerin Merkel und einem Kanzler Schulz können die meisten Wähler sowieso nicht erkennen.
Eine starke AfD würde zwar ebenso „r2g“ unterbinden, aber wiederum eine große Koalition erzwingen, die weiter von Merkel geführt werden könnte. Zudem ist eine „starke“ AfD momentan nicht in Sicht, sondern eher eine Chaostruppe, die weder gute konservative und schon gar keine gute liberale Politik machen möchte. Die AfD profitiert davon, dass sogar ein auf den Satz „Merkel muss weg!“ dressierter Papagei im Jahr 2017 aus dem Stand fünf bis zehn Prozent holen könnte. Er könnte auch 15 Prozent holen, wenn er nicht gelegentlich „Volksverräter!“ krähen und nicht unter Zuckungen in seinem rechten Flügel leiden würde. Die FDP hat, wenn sie will, mehr als „Merkel muss weg!“ zu bieten, sollte dieses simple Anliegen aber deshalb nicht übergehen.
Angela Merkel loszuwerden, ohne gleichzeitig die Höckes und Kippings stark machen zu müssen, ist momentan ein stillgehegter Wunsch vieler Bürger und zugleich das Dilemma, vor dem sie stehen. Es liegt sowohl im Interesse der FDP wie dem des Landes, dass dieser Wunsch am Tag der Bundestagswahl 2017 eine politische Realität werden kann.
Mit den bösen Erinnerungen an zwei vergangene Fehler der FDP befasst sich der Autor in einem zweiten Teil.