(aktualisierte Fassung) Parallel zum vielstimmigen Chor der GroKo-Verhandler wird versucht, die Öffentlichkeit über den Umfang des zu erwartenden Nachzugs in falsche Sicherheit zu wiegen – von beiden Seiten. Schenkt man einer Vielzahl von Umfragen Glauben, so erfreut sich die Idee des Familiennachzugs für in Deutschland lebende subsidiär Schutzberechtigte keiner überschwänglichen Beliebtheit. Trotzdem war es ein Streitpunkt in den Koalitionsgesprächen. Monatlich 1.000 plus ist eine unbestimmte Fall von Härtefällen. Die Union setzt wohl darauf, dass bis dahin die Wähler den Sachverhalt schon wieder vergessen haben.
Die Union setzt auf das Vergessen
Zur Erinnerung: Das Recht auf Familiennachzug wurde für diese Gruppe bis Mitte März 2018 ausgesetzt, nachdem man es ausgerechnet im August 2015 eingeführt hatte. Das Recht auf Familiennachzug für anerkannte Flüchtlinge ist davon nicht betroffen, sondern kann auch gegenwärtig in Anspruch genommen werden. Nach diversen Schätzungen sind bereits bis zu einer Viertelmillion Menschen eingereist. Offiziell erfasst werden sie nicht, schon gar nicht als „Asylbewerber“ – sie herhalten ja sofort einen Aufenthaltsstatus. An dieser Stelle zeigt sich bereits die erste – vermutlich nicht ungewollte – begriffliche Verwirrung der öffentlichen Debatte, denn politisch und medial wird hartnäckig vom Familiennachzug für Flüchtlinge gesprochen, obwohl die Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten, um die es eigentlich geht, eben genau diese Flüchtlingseigenschaft nicht aufweist. Jedoch kann diese Taktik bisher noch keine durchschlagenden Erfolge vorweisen.
Deshalb bringen die Lobbygruppen für eine Fortsetzung der ungeregelten Migration nach Deutschland im Augenblick an allen wichtigen Positionen wieder ihre Nebelwerfer in Stellung, um durch deren flächendeckenden Einsatz für so viel Verwirrung und Orientierungslosigkeit im gesellschaftlichen Diskurs zu sorgen, dass die Politik die verbliebenen kritischen und besorgten Stimmen geflissentlich überhören und ungestört zu Werke gehen kann.
Die Kirchen als Lobby
An der humanitären Front kamen der EKD-Vorsitzende Bedford-Strohm und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Marx zum Einsatz, die den Familiennachzug in Windeseile zum christlichen Gebot erhoben haben. Beim öffentlich-rechtliche Fernsehen erklärte Georg Restle in einem Kommentar in den tagesthemen, warum die Europäer für eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen ihre Seelen verkauft hätten. Doch in diesem Konzert durfte die Stimme eines echten Experten nicht fehlen, der gegenüber der Öffentlichkeit die Unbedenklichkeit des Familiennachzugs attestiert.
Diese Aufgabe fiel dieser Tage nicht zum ersten Mal Professor Herbert Brücker zu, der den Forschungsbereich Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung am IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) in Nürnberg leitet. Professor Brücker kann für solcherlei Statements vollkommen unbedenklich herangezogen werden, denn er hat sich bereits als Co-Vorsitzender der Özoguz-Kommission bewährt, welche bekanntlich das kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer vorschlug. Diesen Vorschlag ergänzte Brücker noch um die Forderung nach dem „Vorantreiben der interkulturellen Öffnung von Verwaltung, Wirtschaft und Medien“ oder alternativ nach einem „Bundespartizipationsgesetz“. Wie erwartet enttäuschte er auch beim Thema Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte nicht, sondern feuerte seine Nebelkerze in Form einer „belastbaren Zahl“ von 50.000-60.000 Familienmitgliedern, die nach Deutschland übersiedeln könnten, hinaus ins Schlachtfeld der Öffentlichkeit.
Verwissenschaftlichte Nebelkerze
Eine Nebelkerze ist Brückers Prognose deswegen, weil sie vorgaukelt, dass die Rahmenbedingungen für einen geordneten Familiennachzug gegeben seien, so dass dessen Umfang seriös kalkuliert werden könne. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört zum Beispiel die Gewissheit darüber, dass alle nachzugsberechtigten minderjährigen Kinder auch tatsächlich minderjährig sind. Des Weiteren setzt der Familiennachzug die nachprüfbare Authentizität der vorgelegten Dokumente voraus, welche die Familienangehörigkeit belegen sollen. Nicht zuletzt kommt es auch darauf an, dass bestehende Regelungen in Kraft bleiben und durchgesetzt werden – wie die, dass nur die vor dem Asylgesuch eines Partners geschlossenen Ehen als für den Familiennachzug relevant erachtet werden.
Zu Professor Brückers eigentlichen Berechnungen gibt es bei bloßer Durchsicht schon zwei Kleinigkeiten anzumerken:
Erstens ging das IAB im Oktober 2017 bei seiner Schätzung von 50.000-60.000 nachzugsberechtigten Familienangehörigen von 200.000 subsidiär Geschützten in Deutschland am Ende des Jahres 2017 aus. Der kürzlich erschienene Asylgeschäftsbericht 2017 des BAMF weist allerdings aus, dass allein im Jahr 2016 153.700 Mal auf subsidiären Schutz entschieden wurde. Im Jahr 2017 wurde die gleiche Entscheidung noch zusätzliche 98.074 Mal gefällt, was zusammengenommen bereits mehr als 250.000 subsidiär Geschützte ergibt.
Zweitens bezeichnet Brücker seine Schätzungen unter anderem deswegen als „sehr belastbar“, weil anerkannte Flüchtlinge und solche mit subsidiärem Schutz zu ihrem Familienstand und der Zahl ihrer Anverwandten im Herkunftsland befragt worden sind. Diese Befragung erfolgte im Rahmen einer Kooperation von IAB, BAMF und Sozioökonomischem Panel (SOEP), welche seit 2016 wiederholt repräsentative Erhebungen unter zwischen 2013 und 2016 eingereisten Asylbewerbern durchführt. Allerdings erhielten wissenschaftliche Nutzer dieses Datensatzes Anfang 2018 eine E-Mail von verantwortlicher Stelle, in der sie davor gewarnt wurden, Teile desselben zu nutzen. Grund dafür war die Entdeckung gefälschter Interviews von unbekanntem Umfang, welche zuerst aus dem Datensatz gelöscht werden mussten.
Gänzlich den Boden der Tatsachen verlässt schließlich die rosige Einschätzung, dass der Familiennachzug die Integration befördern werde, denn dafür gibt es bislang keine wissenschaftliche Evidenz.
Zugegebenermaßen weist Professor Brücker in der IAB-eigenen Publikationsreihe kurz selbst darauf hin, dass der Umfang des Familiennachzugs erheblich steigen könnte, wenn neben Lebenspartnern und minderjährigen Kindern auch die „erweiterte Kernfamilie“ das Recht auf Nachzug erhalte. Aber solche Klippen übersieht man in einer Nebelbank bekanntlich leicht.
Unter erweiterter Kernfamilie zählen wohl auch Kinder, die man benennen kann. Manche Behörden haben den Begriff Familie auch auf „Zweifrauen“ und deren Kinder ausgedehnt. Ohnehin geht es nur um den „privilegierten Familiennachzug“. Die SPD hatte bereits 2015 durchgesetzt, dass man auch bei subsidiär Schutzberechtigten von den bis dahin üblichen Voraussetzungen des Familiennachzugs absieht, nämlich den selbst erwirtschafteten Lebensunterhalt nebst selbst finanzierter Wohnung. D.h. die SPD kämpft offensichtlich mit Erfolg dafür, dass auch diejenigen, die nach nunmehr zwei Jahren sich nicht selbst ernähren können und die nicht selbst ihre Wohnung zahlen können, ihre Familie nachholen dürfen und damit eindeutig in die Sozialsysteme einwandern. Der so viel gepriesene Ingenieur oder Arzt bräuchte diese Regelung nicht. Der könnte seine Familie trotz „nur“ subsidiärem Schutz auch jetzt schon nachholen, weil er seinen Unterhalt selbst sichert und seine Wohnung selbst zahlt. Doch die Nebelkerzen verhindern den Blick auch auf diesen Sachverhalt.