„Wenn Sie nichts finden, dann finden Sie was!“ Es klingt wie aus einem Polit-Thriller oder aus den ideologischen Systemen des 20. Jahrhunderts. Doch im Grunde hatte Nancy Faeser sinngemäß nichts anderes in der Causa Schönbohm gefordert, als die Faktenlage zu dünn war, um den Chef der Cybersicherheit zu belasten. Also erging die Anweisung: nochmals das Bundesamt für Verfassungsschutz abfragen und alle Geheimunterlagen zusammentragen. Die Bundesinnenministerin war „sichtlich unzufrieden“, wie es in einem Aktenvermerk heißt.
Vor zwei Jahren, zu Beginn der Ampel-Koalition, hätte man solche Anekdoten anführen können, um etwas über die Persönlichkeit der Ministerin zu erfahren. Doch seit mehreren Monaten ist klar: Hier handelt es sich um einen Regierungsstil. Ihr Adlatus Thomas Haldenwang (CDU) macht passend, was passend gemacht werden muss, die Flanke deckt Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), die es unerträglich findet, wenn im Netz Sachen stehen, die zwar von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, aber ihrer Meinung nach justiziabel sein müssten. Im Land von Friedrich Schiller ist Don Carlos plötzlich wieder aktuell: Geben Sie Gedankenfreiheit!
Denn längst geht es in Deutschland nicht mehr lediglich um Meinungsfreiheit. Immer häufiger attestieren Politiker den Bürgern eine unkonventionelle Gedankenwelt. Es geht Grünen und SPD mittlerweile nicht mehr nur darum, dass konträre Meinungen öffentlich publiziert werden. Das Problem steckt im Kopf der Bürger, alternativer Parteien und neuer Medien. Sie entziehen sich des Nudgings der Merkeljahre. Sie stellen sich seit der Euro- und Finanzkrise quer zur Mehrheitslinie. Faeser, Paus und Haldenwang erwecken zusehends den Eindruck, dass bereits das Gedachte eine Straftat sein könnte.
Um Gedanken geht es auch bei jener Affäre, die den Stein ins Rollen gebracht hat. Den neuen Vorstoß zum „Demokratiefördergesetz“, das nach Karl Popper als Demokratieabschaffungsgesetz einzuordnen wäre, gäbe es ohne die Correctiv-Affäre gar nicht.
Man muss das immer wieder betonen. Politik und Medien sind am 10. Januar einem ungeprüften Medienbericht aufgesessen, der Massenaufmärsche, Einschüchterung von politischen Gegnern im Besonderen und Andersdenken im Allgemeinen sowie eine Diskussion über Fiktion und Wahrheit ausgelöst hat. Denn der Correctiv-Beitrag fußt auf Suggestionen. Und eine der Schlüsselfiguren ist ein Journalist namens Jean Peters, der in seiner Kurzbiografie schreibt, er erfinde Geschichten und nehme mit Aktionen Einfluss auf das gesellschaftliche Geschehen – ein Passus, der ominöserweise verschwunden ist, seitdem er das Augenmerk der Öffentlichkeit weckte.
Dass Peters den Text zu einem Bühnenstück mit ebenso großem Suggestiv-Inhalt schrieb und als Autor von Jan Böhmermann auch in die Affäre um das Ibiza-Video von Heinz-Christian Strache involviert war, hätte jeden Journalisten in einer funktionierenden Presse- und Medienlandschaft aufrütteln müssen. Nichts dergleichen geschah: Denn das gesellschaftliche Leben bestimmt nicht die Wahrheit, sondern das Narrativ.
Dieser Suggestivjournalismus (oder auch: Suggestivkunst, will man davon beim Bühnenstück sprechen) spielt mit den Gedanken der Protagonisten. Nicht das Geschehen auf dem Potsdamer Privattreffen spielt eine Rolle. Sondern die (vermuteten) Gedanken – denn an Meinungsäußerungen bleibt das Treffen dünn wie die Beweislage gegen Schönbohm. Seine Wirkung hat der Artikel nicht durch die Beschreibung des Geschehens entfaltet. Sondern er bedient sich der Gedankentricks: Was Martin Sellner sagt, das ist unwichtig, denn wir wissen, was er denkt. Sellner spricht nicht von Deportationen, aber man legt eine historische Finte zum Madagaskarplan. Niemand der Beteiligten zieht Parallelen zu Wannsee – aber es ist ja klar, dass sie daran gedacht haben müssen.
Es gehört zu den diabolischen Verdrehungen der Gegenwart, dass ein „Faktenportal“, das jedem ideologisch Verdächtigen inquisitorisch auf die Pelle rückt, in dieser vermeintlich wichtigsten Geschichte der Plattform größtenteils mit Nichtfakten arbeitet. Nicht die Meinungsäußerungen – von denen zitiert Correctiv bemerkenswert wenige –, sondern die vermuteten Gedanken spielen die Hauptrolle. Wenn man die Beteiligten nicht eines Verbrechens überführen kann, dann doch wenigstens eines, das sie gedacht haben. Vielleicht.
Auch bei den Massenaufmärschen ging es demnach nie darum, was passiert ist, sondern vermutet wurde. Der vermeintlich aufgeklärten Demokratie wohnt der unheimliche Zauber des Ungewissen inne. Man will schaudern und gruseln. Der Bundeskanzler hat diese Stimmung in seinen Videobotschaften maßgeblich angefeuert. Es wurden Bilder evoziert, dass die ausländische Kassiererin ebenso wie Schulfreunde morgen bereits in einem dunklen Van verschwinden oder wie Vieh in Wagons gequetscht würden. Hier waren schon nicht mehr die Gedanken der Anwesenden in der Villa Adlon, sondern die eigenen Gedanken maßgeblich. Fantastische Gedanken, die man zur Realität stilisierte – aber mehr über die dahinterstehende Persönlichkeit aussagen, als einem recht sein mag. Man fühlt sich in eine Goya-Radierung versetzt.
Das Gedankenverbrechen zieht sich demnach durch den gesamten Ablauf seit dem 10. Januar. Da ist es nur konsequent, nach der Ablenkung vom Ampel-Versagen, der Kleinhaltung der Bauernproteste, der Übertünchung sich ändernder Umfragewerte, der Verächtlichmachung der Opposition, der Einschüchterung des politischen Spektrums jenseits der linken Mitte – wohin auch CDU/CSU und FDP gehören – und der angekündigten Einschränkung von Freiheitsrechten die Stimmung mitzunehmen, mit den Unliebsamsten der Unliebsamen abzurechnen.
Im Grunde weiß jeder Politiker, dass ein AfD-Verbotsverfahren eine Katastrophe wäre, weil die AfD ein solches Verfahren mit sehr großer Wahrscheinlichkeit gewinnen könnte. Doch auch hier kommt es nicht mehr auf Fakten an. Getrieben von der eigenen Gedankenwelt und in der merkwürdigen Hoffnung, das Bundesverfassungsgericht könnte nach dem bereits eingesackten Haushalt in dieser Angelegenheit wieder nachgeben, haben sich einige Personalien sichtlich verrannt. Daher heißt es wieder: Finden Sie irgendwas!
In Zeiten, in denen der Bundesverfassungsschutz selbst als Richtschnur für die Katholische Kirche in Deutschland gilt, ist die Anordnung eindeutig. Und justament heute die wenig überraschende Nachricht: Der Bundesverfassungsschutz will den Status der AfD neu überprüfen. Dieselbe Bundesrepublik, die seit Jahren einen Privatkrieg gegen Ungarn und dessen Ministerpräsidenten Viktor Orbán fährt, kommt kaum damit hinterher, nach den angekündigten Grundrechtsverletzungen nun auch der Opposition zuleibe zu rücken. Nun denn: Polnische Verhältnisse hat es in Deutschland bekanntlich schon gegeben, bevor Berlin auf genau solche im Nachbarland hingewirkt hat.
Die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass das BfV die AfD bald als „gesichert extremistische Bestrebung“ einstufen will. Das letzte Gutachten stammt aus dem Frühjahr 2021. Damals hatte der Bundesverfassungsschutz die Partei als „Verdachtsfall“ bewertet. Ein neues Gutachten steht schon länger aus, man habe dies aber mit Rücksicht auf einen Rechtsstreit zwischen AfD und BfV verschoben. Die AfD klagt vor dem Oberverwaltungsgericht in Münster gegen ihre Beobachtung.
Vielsagend sind die E-Mails, die der SZ vorliegen. Als einige Mitarbeiter im Bundesamt für Verfassungsschutz einmal nachfragten, was man der AfD denn nachweisen müsste, um von einer „Verdichtung“ der bisherigen Verdachtsmomente für Rechtsextremismus auszugehen, antworteten ihre Vorgesetzten per Mail: Allzu viele Neuigkeiten brauche es gar nicht. Es genüge schon, wenn bei der AfD alles so bleibe, wie es ist. Das klingt nach vorbildlicher Arbeit. Oder nach Menü auf Bestellung.
Die Debatte darüber, wie viel die AfD selbst zu dieser Situation beigetragen hat, ist lang. Aber zahlreiche etablierte Medien beantworten sie schon genügend, als an dieser Stelle darauf einzugehen. Festzuhalten bleibt: Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat, und im Zweifel gilt es, die Regierung eher zu regulieren denn die Opposition. Auch hier spielen Gedanken eine Rolle: Denn die Gedanken, was alles eine AfD-Regierung tun könnte, spielen in der veröffentlichten Meinung eine größere Rolle als das, was die existente Regierung derzeit tut.
Kurz: Wenn die Demokratie so stark in Deutschland ist – warum hält sie dann keinen Regierungswechsel unter Beteiligung der AfD aus? Die Vergleiche zu Weimar machen die Berliner Republik zum Papiertiger. Denn sollte es wirklich so sein, dass es nur ein 1933-Szenario braucht, wie etwa Formate im Stile von Kontraste behaupten, um Deutschland danach auf zünftiges Viertes Reich umzustellen, dann kann es mit der Standfestigkeit dieser Demokratie wirklich nicht weit her sein. Und warum das so ist, wäre die deutlich schärfere und dringendere Frage, die nicht die Historiker der Zukunft erst zu debattieren hätten. Hat etwa Berlin Bonn so zerschossen, dass ein laues AfD-Lüftchen das Kartenhaus umpusten könnte? Ist Politik und Medien eigentlich klar, was sie mit derlei Mottenkistenparallelen suggerieren?
Die mahnenden Stimmen von juristischen Fachleuten, warum ein AfD-Verbot ein Eigentor werden kann, sind auch deswegen fehl am Platz, weil bereits der Extremismus-Limbus ein hervorragender Hebel sein dürfte, damit Faeser, Paus und Haldenwang die Daumenschrauben weiter anlegen könnten. Man würde ja die AfD zu gerne verbieten, traut sich aber wegen der Hürden nicht. Also braucht es mehr Maßnahmen. Mehr Einschränkungen. Mehr Überwachung.
Was nachher auch folgen mag: In den Abteilungen dürfte man parallel zur Prüfung eines Verbotsverfahrens längst an Gesetzesentwürfen arbeiten, mit denen man der AfD auf dem offenen Platz begegnen kann. 20 Prozent potenzielle Wähler sind eine ziemlich große Nummer. Und sie alle haben Gedanken. Ob vermeintliche oder tatsächliche.