Was haben Annalena Baerbock und Sigmar Gabriel (SPD) gemeinsam? Sie haben den größten Applaus ihrer Karriere erhalten, als sie ihren Verzicht auf ihre Kanzlerkandidatur erklärt haben. In einer Umfrage des Focus bewerteten es 75 Prozent der Befragten als „sehr positiv“, dass Baerbock nicht noch einmal antritt. Gabriel war nach seinem Verzicht weg und lebt seitdem eine Zombie-Existenz als politischer Kommentator. Baerbock bleibt feministische Außenministerin auf Kurzstreckenflügen von Frankfurt nach Luxemburg.
Eine Konsequenz haben die Grünen aus der verlorenen Europawahl bereits gezogen. Mit dem auf dem Nato-Gipfel inszenierten Verzicht Baerbocks haben sie sich personell neu aufgestellt. Ob Robert Habeck der bessere Kandidat ist, sei dahingestellt. Seine Bilanz als „Wirtschaftsminister“ ist einer der wichtigsten Gründe, warum die Grünen außerhalb ihrer Oberlehrer-Schutzzone die Modefans verloren haben, die sie in 16 Jahren Opposition gesammelt haben.
„Die Menschen fühlen sich von der Politik nicht gehört …“ Oder: „Die Menschen haben berechtigte Sorgen und das Gefühl, dass wir an diesen vorbeireden.“ Da draußen, außerhalb von Berlin, sitzt also jemand mit irrationalen Gefühlen, der darauf wartet, dass ihm jemand die rationale Vernunft bringt. So viele Prozente kann ein Grüner bei einer Wahl nicht verlieren, dass er nicht immer noch meint, der vom Schicksal auserwählte Besserwisser zu sein, auf den die Welt zu ihrer Belehrung gewartet hat. Auch wenn er gerade wie Lang oder Nouripour aus strategischen Gründen das Gegenteil von sich behauptet.
Die meisten der acht Punkte sind keine Selbstkritik, sondern ein Aufruf an sich selbst, noch stärker grün und noch weniger kompromissbereit zu sein: „Wenn wir Mehrheiten organisieren wollen, dann können wir uns kein Entwederoder leisten.“ Die Grünen sollen sich stärker mit ihren eigenen Stärken statt mit den Kampagnen der Gegner beschäftigen und dabei optimistischer sein. Selbst der Deutschlandfunk, eigentlich eine grüne Schutzzone, räumte ein, dass diese acht Lehren doch recht belanglos seien.
Was genau Lang und Nouripour unternehmen wollen, um Klimaschutz „hörbar“ zu machen, sagen sie nicht. Da hat der Deutschlandfunk recht, da bleiben die grünen Vorsitzenden ungenau. Noch mehr Sven Plöger oder Maden-Experte Mark Benecke, der vor dem „Höllensommer des Jahrtausends“ warnt und dann hat es 20 Grad Celsius und Dauerregen? Immerhin fordern Lang und Nouripour, dass Klimaschutz bezahlbar sein muss. Das ist nett. Denn es bedeutet, dass er es bisher nicht war – was der vermutlich ehrlichste Moment des Webinars war.
Das und die Einsicht: „Jungwähler treffen rationale Entscheidungen.“ Diese Jungwähler haben die Grünen abgestraft und lieber AfD oder CDU gewählt. Was, wie sogar Lang und Nouripour einräumen, in Ordnung sei, weil die Jungen schon in der Pandemie das Opfer der Politik waren und die danach nichts für die Jungen getan hat. Was zu dem achten Punkt führt: „Wir machen Politik für ein Land, in dem die Dinge wieder funktionieren.“ Also wollen die Grünen künftig vernünftig Politik machen, die funktioniert. Das wäre in der Tat mal was Neues und einen Versuch wert.