Was in diesen Tagen als virtuelles Demokratiespektakel stattfindet, nennt sich „Europawahl“. Aber es ist dies eine größenwahnsinnige Bezeichnung. Denn Europa (geographisch definiert bis an den Ural) besteht aus 49 Ländern. Es ist also keine Europawahl, sondern eine Wahl innerhalb der Europäischen Union (EU), die 28 Mitgliedsstaaten hat – besser: 27,5, denn die Briten sind ja halb draußen. Gewählt werden die Abgeordneten (aktuell 751) des „Europäischen Parlaments“, was ebenfalls eine größenwahnsinnige Benennung ist, denn dieses Parlament ist kein Parlament im Sinne von Legislative, und es ist schon gar nicht europäisch im Sinne von paneuropäisch. Noch weniger Länder sind es, die zur EURO-Zone gehören: exakt 19. Wenn also jemand sagt, „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ (Merkel), dann ist das sowas von daneben, wie es nur daneben sein kann. Aber mit der historischen Unterkellerung ist es in den real existierenden politischen und medialen „Eliten“ nicht weit her.
Also wird es Zeit für ein wenig Geschichtsunterricht! Oder kurz vorweg: Die Europäische Union hat eine – geht man auf die Römischen Verträge und die Gründung der damaligen Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG) im Jahr 1957 zurück – nun knapp über 60jährige Geschichte. Europa als Kulturraum und Wertekosmos hat eine Geschichte von zweieinhalb Jahrtausenden. Demensprechend ist Europa Leitkultur – und EU ist Kultur light.
Weil „Europa“ und „EU“ nicht auseinandergehalten werden, steht „Europa“ in der Bevölkerung in keinem guten Ruf. Das ist ungerecht, denn der Unmut der Bürger richtet sich eigentlich nicht gegen Europa, sondern gegen die EU: mit ihrem Zentralismus und Demokratiedefizit, ihren Bussi-Bussi-Gipfeltreffen, ihrem Haushalt von jährlich 150 Mrd. Euro, ihrem Präsidentenapparat mit sieben Vizepräsidenten, 28 EU-Kommissaren (inkl. Präsident), ihrem EU-Parlament samt 14 Vizepräsidenten.
Der Unmut richtet sich ferner gegen die Regelungswut der EU in Sachen Bananengröße, Traktorensitze, Gurkenkrümmung, Glühlampen, Grenzwerte für Presslufthämmer, Regeln für Zahnersatz, Glühbirnen und Kondome; dagegen, dass das EU-Amtsblatt pro Jahr mehr als eine Tonne wiegt, dass 80 Prozent aller „Gesetze” nicht von den nationalen Parlamenten beschlossen, sondern von den Brüsseler Behörden verordnet werden. Das sind keine Zerrbilder, sondern Realitäten. Die EU leidet überhaupt an Überdehnung und Gigantomanie. Wenn aber alle (Länder) und alles (alle Lebensbereiche) zu Europa oder zur EU gehören, gehört keiner und nichts mehr zu Europa und zur EU.
„Europa“ – was ist das? Es ist kein rein geographischer Begriff mehr, wie er dies mit der erstmaligen Verwendung dieses Namens durch Herodot (484 bis 424 v. Chr.) war – damals als Bezeichnung für die Länder um das Mittelmeer. Europa ist ansonsten kein Kontinent, sondern nur ein Subkontinent der Landmasse Eurasiens. Kulturell, ideell aber ist es weltumspannend, denn es reicht von den atlantischen Inseln bis nach Sibirien, von Australien bis Island und von Chile bis zu den Philippinen.
Europa kann auch keine bloße „Freihandelszone“ sein. Eine überwiegende Ausrichtung der europäischen Frage auf das Währungs- und Wirtschaftspolitische ließe nämlich vergessen, dass Europa als Idee und Wirklichkeit sich nicht primär aus ökonomischen Überlegungen ableiten lässt, sondern als Idee kulturstiftend wirkte. Wohlstand und Sozialstaat sind das sichtbare Ergebnis dieser Ideen. Europa oder EU nur als Wirtschaftsorganisation, das wäre kaum etwas anderes als eine seit dem Wechsel zu Donald Trump für die USA verstärkt angesagte Politik, der es vor allem um „deals“ geht.
Das einigende ideelle Band hatten selbst die Begründer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Auge. Für deren Begründer ging es um Europas Seele – für Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schumann, Jean Monnet. Dieser Anfangsenthusiasmus ist verblasst. Was Adenauer, de Gasperi, Schumann und Monnet nicht ahnen konnten: Sie konnten nicht ahnen, vor welchen Problemen ihr Europa sechs Jahrzehnte später steht. Für die vier war das Hauptproblem die Bedrohung durch den Sowjetkommunismus.
Und heute? Europa ist heute nicht bedroht durch einen Sowjetkommunismus. Europa ist vielmehr bedroht von innen: vom Nachlassen seiner biologischen Vitalität, von seinem Werterelativismus, von seinen Selbstzweifeln, ja seinem Selbsthass – und vom Irrglauben, ein Bürokratie-Wasserkopf könnte Identität vermitteln.
Nach Jahrhunderten der ideellen (nicht kolonialen) Europäisierung der Erde befinden wir uns jedenfalls inmitten einer Ent-Europäisierung Europas. Vergessen wir dabei aber bitte nicht: Ohne den europäischen Wertekosmos und seine Leitkultur gäbe es keine universell geltenden Bürger- und Menschenrechte.
Nun: Eine Geschichte der Europäisierung der Erde würde Bände füllen. Die Europäisierung der Erde ist auch geographisch verortbar. Ab dem 18. Jahrhundert hat sich „Europa“ ausgeweitet: in den USA, in Kanada, Australien, Neuseeland. Eine Europäisierung fand via Christentum auch statt in Mittel- und Südamerika (siehe die Wahl eines Argentiniers Bergolio 2013 zum Papst) und auf den Philippinen (82 Prozent von 100 Mio. sind Katholiken). Und auch die Menschen in Sibirien sind weitgehend europäisch – wenn auch ostkirchlich – geprägt. (Moskau hatte sich immerhin nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1493 zum dritten Rom erklärt und Peter der Große (+ 1715) hat Russland zu einem westlichen Land zu machen versucht.)
Die Erde sähe jedenfalls anders aus, hätte es europäisches Denken und europäische Technik nie gegeben. Gewiss gab es lange Zeit sogar eine technische Überlegenheit Arabiens und Chinas. Diese Überlegenheit war so groß, dass eine dieser Kulturen den Wettlauf um die Weltherrschaft für sich hätte entscheiden müssen. Doch beide Mächte konnten ihre Chance wohl deshalb nicht nutzen, weil sie keinen agonalen Charakter hatten. (Es war kein geringerer als der große Baseler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, der die Bedeutung des Agonalen und den agonalen Charakter europäischer Menschen hervorhob.) Das Agonale freilich, das ja das Männliche/Väterliche ist, tritt nicht mehr in Aktion. Ein autoaggressiver „Antiheroismus“ ist angesagt.
Und nun die Ent-Europäisierung der Welt – und auch Europas! Sie hat allein schon demographische Gründe: Um 1900 war rund ein Drittel der Weltbevölkerung europäisch bzw. europäischstämmig (rund 550 Millionen von 1,6 Milliarden). Heute beträgt der Anteil der europäischstämmigen Menschen an der Weltbevölkerung noch 12 Prozent, im Jahre 2050 wird er bei nur noch 6 Prozent und am Ende des Jahrhunderts bei 4 Prozent liegen. Das hat schleichend eine dramatische Minderung des europäischen Einflusses auf das Geschehen in der Welt zur Folge. Nur ein Beispiel, das viel aussagt: Im Jahr 1913 hatten Deutschland und Frankreich zusammen in etwa so viele Menschen wie Afrika insgesamt: 110 zu 120 Millionen. Im Jahr 2013 (hundert Jahre später) ist das Verhältnis Deutschland/Frankreich vs. Afrika: 145 Mio. zu 1.072 Millionen. (Das ist der Faktor 7!)
Das heißt, Europa schrumpft: Die Fertilitätsrate in Europa liegt derzeit bei 1,4 (die notwendige Reproduktionsrate wäre 2,2). Zudem stecken wir inmitten einer Überalterung Europas. Heute schon gibt es in den europäischen Ländern mehr Menschen über sechzig als unter zwanzig. Das wird noch drastischer, zumal die Lebenserwartung 2060 bei 100 Jahren liegen könnte. Europas Vitalität scheint erschöpft. Andere Kulturkreise sind vitaler. Sich fortzupflanzen gehört nicht mehr zur Leitkultur Europas.
An die Stelle der Fortpflanzung und des Schutzes des Lebens sind ein Hyperindividualismus der vermeintlich schier ewigen Gegenwart und ein dramatischer Funktionsverlust der Familien getreten. Die Genderideologie lässt grüßen …… Womit übrigens eine Institution verschwindet, die in die Uranfänge der Menschheit zurückreicht. Dass man Vater und Mutter ehren soll, ist nicht nur ein Gebot des Alten Testaments, sondern Menschheitsüberlieferung.
Lesen Sie den 2. Teil am 24.05.2019