Israel, bedrängt von allen Seiten und innenpolitisch zunehmend zerstritten, droht nun eine politische Zerreißprobe. Die Islamisten und palästinensischen Extremisten, die einen Palästinenserstaat eng verbunden mit der Auslöschung Israels verknüpfen, dürfen sich freuen.
Die Kalkulation der Hamas geht auf. Wer im vergangenen Herbst dachte, dass die Massaker der islamistischen Terroristen am 7. Oktober im Gaza-Grenzgebiet Israels und die Geiselnahme von mehr als 230 Menschen, darunter viele Frauen, Kinder und Greise, die Welt im Zorn auf die Palästinenser einigen würde, hat sich massiv geirrt.
Israel steht international mit dem Rücken an der Wand
Schon bevor Israel den Krieg gegen die Hamas richtig startete, flammten weltweit, natürlich auch in Deutschland, pro-palästinensische Proteste auf, die sich angeblich um das Schicksal der Zivilisten im Gaza-Streifen sorgten. Allen war klar, dass Israel nach dem schlimmsten Massenmord an Juden seit dem Holocaust reagieren musste.
Nach sechs Monaten Krieg steht Israel international mit dem Rücken an der Wand. Die Entscheidungen der UN-Vollversammlung, den Status der Palästinenser aufzuwerten, die Gleichsetzung der israelischen Führung mit den Verbrechern der Hamas durch den Chefankläger beim Strafgerichtshof in Den Haag sowie die Absicht Norwegens, Irlands und Spaniens, einen Palästinenserstaat anzuerkennen, haben eine gemeinsame Botschaft: Die ganze Welt scheint zu den Interessenvertretern der Palästinenser zu werden.
Auf den Straßen und in den Hochschulen westlicher Städte dominieren ohnehin schon die enthemmten Feinde Israels und die linken Freunde islamistischer und anderer Terror-Organisationen. Die Vorstellung in europäischen Hauptstädten, die Anerkennung eines fiktiven Staates Palästina, werde einen Friedensprozess befördern, könnte weltfremder nicht sein.
Palästinenser wollen Staat „from the river to the sea“
Zumal die vergangenen Jahrzehnte nachdrücklich gezeigt haben, dass es unter den Palästinensern keine nennenswerte Kraft für einen Friedensschluss mit Israel gibt, keine Bereitschaft, Israel anzuerkennen oder auf Terrorismus zu verzichten.
Die Führungen von PLO und Hamas haben in den von ihnen kontrollierten Gebieten auch deutlich demonstriert, wie unfähig sie sogar untereinander zu Kompromissen und der Einhaltung demokratischer Spielregeln sind. Sie haben keinen Zweifel daran gelassen, dass unter ihrer Herrschaft die Korruption wuchert, Willkür, Grausamkeit gegenüber Andersdenkenden oder sexuellen Minderheiten sowie eine tiefe Feindseligkeit gegenüber allen westlichen Werten dominieren.
Die Vorstellung, in naher Zukunft könnte es ein friedliches Nebeneinander eines israelischen und eines palästinensischen Staates geben, könnte von der Realität nicht weiter entfernt sein. Führer der Palästinenserorganisationen betonen immer wieder, dass sie ein „Palästina vom Fluss bis zum Meer“, also vom Jordan bis zum Mittelmeer anstreben – in dem ein jüdischer Staat nicht mehr existieren würde.
Auch die PLO will den „Heiligen Krieg“ gegen Israel
Während die Hamas offiziell auch in den westlichen Staaten, die man als Israel-feindlich bezeichnen könnte, als Terrororganisation gilt, ruhen offenbar viele Hoffnungen auf den Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, Mahmoud Abbas, und seine PLO. Dabei unterscheiden sich PLO und Hamas nicht wesentlich, wenn es um ihr Verhältnis zu Israel und zur Demokratie überhaupt geht. Auch die PLO ruft immer wieder zum Dschihad, dem „Heiligen Krieg“ auf.
Erst kürzlich bestritt Abbas, dass es sowas wie eine „Unabhängigkeit des Staates Israel“ gebe, das sei „eine große Lüge“ und gehöre zu einem „kolonialistisch-westlichen, zionistischen Narrativ“. Im palästinensischen Fernsehen wird die Parole „From the river to the sea“ immer wieder genannt.
Ein Prediger im offiziellen PA-Fernsehen betonte am 14. Mai (Israels Unabhängigkeitstag), dass es die Pflicht der Palästinenser sei, gegen Israel zu kämpfen, und dass „so Allah will, Palästina frei zurückkehren wird, von seinem Meer bis zu seinem Fluss“.
Die Delegitimierung Israels gehört seit der Staatsgründung 1948 zu dem gängigen palästinensischen Narrativ – dazu passt, dass in Büchern und Karten Israels Existenz geleugnet wird. Auf manchen Karten Palästinas finden sich die israelischen Städte Haifa, Jaffa, Akko, Lod und Ramla.
In Israel wenig Vertrauen in die Palästinenser
Auch in Israel gibt es kaum politische Kräfte, die an eine Zwei-Staaten-Lösung glauben. Netanjahus Ansicht, dass ein Palästinenserstaat derzeit nur als enorme Bedrohung der Existenz Israels realisierbar wäre, teilen ziemlich sicher eine überwältigende Mehrheit der Israelis. Dennoch befindet sich Israels Premier zunehmend in der Zwickmühle.
Im Gaza-Streifen lassen sich Israels militärische Ziele nur verwirklichen, wenn man sich über die Warnungen der USA und der meisten europäischen Staaten hinwegsetzt. Angesichts der zu erwartend großen Zahl auch ziviler Opfer wäre die weltweite Feindseligkeit gegenüber Israel kein geringer Preis, falls Netanjahu sich trotz der internationalen Ablehnung für einen finalen Militärschlag Israels gegen die Hamas entscheiden sollte.
Ultimatum und Drohungen auch im Kriegskabinett
Zudem wird Netanjahu auch intern bedrängt. Benny Gantz, Mitglied im israelischen Kriegskabinett, droht mit dem Austritt aus der Regierung, falls der Regierungschef nicht bis zum 8. Juni seine konkreten Vorstellungen für die Nachkriegsordnung im Gazastreifen vorlegt.
Gantz unterstützt einen sehr kühnen, weil schwierig umzusetzenden Sechs-Punkte-Plan, der eine befristete Verwaltung des Gazastreifens durch die USA, europäischer und arabischer Staaten sowie der Palästinenser selbst vorsieht. Israel solle aber die Kontrolle über die Sicherheit behalten.
Netanjahu wies die Forderungen von Gantz brüsk zurück, weil eine Beendigung des Krieges derzeit eine Niederlage für Israel bedeuten würde, bei der die Hamas weiter existiere und die Geiseln keineswegs automatisch freikämen.
Zudem würde ein Rückzug Israels aus dem Gaza-Streifen die rechts-nationalistische Koalition Netanjahus zu Fall bringen; die Ultra-Rechten würden die Aufgabe der Kriegsziele nicht hinnehmen. Ohnehin bringen sie Netanjahu mit der Forderung nach einer Annexion und der jüdischen Besiedlung des Gazastreifens zusätzlich in die Bredouille – dieses Konzept würde mit Sicherheit heftige Unruhen, neue Kämpfe und vor allem Terrorismus provozieren.
„Nicht Hamastan durch Fatahstan ersetzen!“
Israelischen Medienberichten zufolge sollen sich Verteidigungsminister Joav Gallant und Gantz für die Übergabe des Gazastreifens an die Palästinensische Autonomiebehörde von Abbas einsetzen, sobald der Krieg beendet ist. Ähnliche Vorstellungen hat wohl auch US-Präsident Joe Biden.
Netanjahu ist entschieden gegen die Einbindung von Abbas und der PLO in Gaza: „Ich werde Hamastan nicht durch Fatahstan ersetzen“, wurde er zitiert.
Das Misstrauen gegenüber der palästinensischen Autonomiebehörde in Israel ist enorm. Genährt wird die Ablehnung der dort dominierenden PLO durch zahlreiche israel-feindliche Äußerungen hoher Funktionäre.
Der stellvertretende Sekretär des Zentralkomitees der PLO- Kampforganisation Fatah, Dschibril ar-Radschub, hatte im November in einem ägyptischen Fernsehsender zum Massaker der Hamas am 7. Oktober gesagt: „Der Ausbruch war Teil des palästinensischen Verteidigungskrieges, und der nächste Ausbruch wird in der Westbank stattfinden“.
Es scheint nur eine Frage der Zeit, wann es auch im Westjordanland zu neuen Feindseligkeiten gegen Israel kommt. Im Süden Libanons decken die islamistischen Hisbollah, enge Verbündete Teherans, den Norden Israels ohnehin seit vielen Monaten mit Raketenbeschuss ein. Je schwächer Israel international da steht, desto größer ist die Versuchung für die Feinde des jüdischen Staates, ihre Angriffe zu verstärken.
Umfragen zeigen die Unterstützung der Hamas
Umfragen in den Palästinensergebieten – sowohl im Gaza-Streifen als auch im Westjordanland – belegen, wie groß die Unterstützung der Islamisten und Extremisten in der Bevölkerung ist. Mehr als 80 Prozent der befragten Palästinenser bewerteten den barbarischen Überfall auf Israel und überwiegend Zivilisten als gut.
Die wachsende Bereitschaft in Europa, Israel von einer Zerschlagung der Hamas abzuhalten und stattdessen einen Palästinenserstaat durchzusetzen, zeugt entweder von einem enormen Realitätsverlust oder aber einer absoluten Gleichgültigkeit gegenüber der Existenz des jüdischen Staates.
Für Israel ist die politische Bilanz des Krieges, mit dem Ziel die Hamas zu zerschlagen und die Geiseln zu befreien, angesichts der jüngsten Entwicklung bitter und verheerend. Ganz abgesehen von der enormen Zahl ziviler und militärischer Opfer und der gigantischen Zerstörungen im Gaza-Streifen, sind weder die Geiseln befreit noch die Hamas zerschlagen.
In Rafah entscheidet sich der Krieg gegen die Hamas
Insbesondere der Druck Washingtons verhindert seit Wochen eine Großoffensive Israels in Rafah, wo die regionale Hamas-Führung mit vier Bataillonen und vermutlich vielen Geiseln, umgeben vom Schutzschild einer Million palästinensischer Flüchtlinge, ausharrt.
Nun verschärft sich auch der internationale Druck. Wenngleich eine Anerkennung Palästinas als Staat durch Norwegen, Irland und Spanien genauso wenig bedeutet wie die der 143 anderen Länder, so steht Israel in wachsendem Maße alleine da. Israel wird zum moralisch Schuldigen des Nahostkonflikts erklärt, kommentierte die Neue Züricher Zeitung (NZZ).
Auswärtige Amt in Berlin besonnen
Nachdem sich vor Kurzem in Berlin Kanzler Olaf Scholz (SPD) nicht geschämt hat, eine Festnahme Netanjahus für möglich zu erachten, hat sich nun wenigstens das Auswärtige Amt gegen eine Anerkennung eines Palästinenserstaates ausgesprochen – die könne es sinnvollerweise nur nach eine friedlichen Zwei-Staaten-Lösung geben.
Auch die USA begründeten die Ablehnung der Anerkennung eines Palästinenserstaates mit der Notwendigkeit, dass zuerst die Voraussetzungen für Staatlichkeit durch Reformen geschaffen werden müssten. Eine Anerkennung sei nur im Rahmen eines Friedensprozesses mit Israel möglich.
Noch steht Israel also nicht alleine da. Es steht zu befürchten, dass sich die Lage noch einmal drastisch verändern könnte, wenn die Israelis der Hamas in Rafah wirklich den Garaus machen würden. Die Alternative zu dieser Offensive allerdings würde den Sieg der Islamisten und palästinensischen Extremisten komplett machen. Spanien, Irland und Norwegen hätten sich dann als nützliche Idioten erwiesen – denn der Frieden wäre weiter weg denn je.