Er ist der „oberste Gerichtshof“ der EU, wie es nun wieder gerne in der anhimmelnden Presse heißt. Das bedeutet auch: ein Gerichtshof, dem niemand widersprechen kann, dessen Urteile kein anderer Richter kassieren darf. Das steht zwar im Widerspruch zur nationalen Souveränität, aber die Gegenposition leidet noch immer unter Durchsetzungsschwierigkeiten. Karlsruhe hat da so seine Erfahrungen sammeln müssen. Mit dem EZB-Urteil kam das Bundesverfassungsgericht gerade so durch, weil es – so ein Europarechtler damals – die Autorität des EuGH nicht grundsätzlich in Frage gestellt hatte.
Der Gerichtshof der EU (EuGH) nutzt wieder reihenweise seine angemaßte Richtlinienkompetenz für die gesamte EU. Laut einem neuen Urteil des EuGH sollen die EU-Mitgliedsstaaten Frauen auch dann „internationalen Schutz“ gewähren, wenn diese in ihren Heimatländern nicht von staatlichen, sondern von privaten Akteuren bedroht werden, wenn beispielsweise bei Rückkehr in die Heimat häusliche Gewalt droht. In Bulgarien hatte eine türkische Kurdin einen Antrag auf Asyl gestellt und zur Begründung gesagt, sie sei mit 16 Jahren zwangsverheiratet und während der kinderreichen Ehe immer wieder von ihrem Mann geschlagen worden. Sie habe sich scheiden lassen, sei aber weiter von ihrem Ex-Mann bedroht worden. Ihre Herkunftsfamilie habe ihr ebenfalls nicht geholfen. Sie fürchtete, Opfer eines Ehrenmords zu werden, wie die Zeit weiß.
Bulgarische Gerichte hatten den Antrag der Kurdin abgelehnt. Häusliche Gewalt sei nach bulgarischem Recht kein Asylgrund. Die Frau sei auch nicht Opfer von Verfolgung aufgrund ihres Geschlechts – mit anderen Worten, sie kann als Frau in der Türkei gut leben. Doch für den EuGH war der Knoten nach jener dürren Geschichte bereits geschürzt. Das Luxemburger Gericht sah die Bedingungen für internationalen Schutz erfüllt. Frauen in der Türkei bilden laut EuGH eine „soziale Gruppe“, die wegen ihrer Verfolgung die „Flüchtlingseigenschaft“ tragen und folglich internationalen Schutz in EU-Staaten bekommen sollen. Für den EuGH war die Kurdin in der Türkei wegen ihres Geschlechts verfolgt.
Europa will seine Moral auch jenseits seiner Grenzen durchsetzen
Und natürlich, die Istanbul-Konvention sagt es ja deutlich aus, stellt die Sache in einen klaren Rahmen. Der EuGH verweist auf das Übereinkommen. 2011 hatten sich dreizehn Erstunterzeichnerstaaten aus den Reihen des Europarats in der alten Kaiserstadt am Bosporus getroffen, um ein gemeinsames Dokument zum Schutz von Frauen vor Gewalt und besonders vor häuslicher Gewalt zu beschließen. Das galt damals als der neueste Moral-Chic, zu dem man glücklicherweise sogar die Türkei von Recep Tayyip Erdogan überredet hatte – als Brückenland in den womöglich besonders frauenhassenden Orient. So in der Art war damals der Medien-Spin.
Die gastgebende Türkei hat sich inzwischen allerdings wieder von der Konvention distanziert. Kritiker im Land hatten bemängelt, dass das Schriftstück der „Einheit der Familie“ schade und damit Scheidungen fördere. Das mögen so osmanisch-islamische Werte des Stammes und der Religion sein. Das Patriarchat war wieder auf dem Vormarsch – zum Leidwesen der westlichen Journaille. Also keine Frauenschutzkonvention mehr in der Türkei, die damit zum logischen Abgeberland von Frauenschutzkonventionsbrecheropfern wurde.
Denn so ist das berühmte „internationale“ und „europäische“ Recht gebaut: Man schreibt auf, was man selbst (als Europäer in Europa) gut und moralisch findet, vergleicht dann die restliche Welt damit und findet, dass dieselbe sich in unserem Sinn ändern müsste. Die Folgen der absehbaren Nicht-Änderung der nicht-westlichen Welt lädt man im Umkehrschluss wieder dem eigenen Kontinent auf, der sich ja zur Einhaltung seiner Regeln verpflichtet hat – seit Unterzeichnung und Ratifizierung einer internationalen Konvention auch jenseits der eigenen Grenzen. So funktionieren Schutzkonventionen aller Arten von der Genfer angefangen, und so funktioniert auch zu einem Gutteil das deutsche und das EU-Asylwesen.
In Deutschland wird das schon lange so praktiziert
Die Sichtweise konservativ-muslimischer Türken mag nun so sein, wie oben angedeutet – das bedeutet aber noch nicht, dass eine Türkin oder Kurdin nicht innerhalb der Türkei Zuflucht und Sicherheit finden kann, wenn sie von häuslicher Gewalt bedroht ist. Für den EuGH bedeutet es das offenbar schon.
Die Argumentation des EuGH ist dabei letztlich absurd. Denn sie würde bedeuten, dass jeder, der – egal ob Mann oder Frau – in der Öffentlichkeit oder im Privatleben von Gewalt bedroht wird, Anrecht auf den Flüchtlingsstatus oder internationalen Schutz in der EU hätte. In der Tat hat man aber den Eindruck, dass sich das fast genauso schon seit einiger Zeit verhält. Man tut so, als gäbe es außerhalb der eigenen Sphäre gar kein Recht, an dem man sich im internationalen Verkehr orientieren könnte.
Hinzu kommt aber eine wichtige Information für alle Bürger: Hierzulande ist die Situation von weiblichen „Gewaltopfern“ (auch ausländischen, asylsuchenden) schon seit einiger Zeit ziemlich komfortabel, und zwar auch wieder dank der Istanbul-Konvention. Das bestätigt auch Peter von Auer von der Organisation Pro Asyl: In Deutschland hätten „die Gerichte allerdings in den vergangenen Jahren ohnehin schon öfter zugunsten der Frauen entschieden“, sagte von Auer der Online-Redaktion der Tagesschau.
Eigentlich hatte die Bundesregierung ja 2018 noch Vorbehalte gegen einige Bestimmungen eingelegt, darunter auch den Artikel 59, in dem es um die „aufenthaltsrechtliche Situation von ausländischen Gewaltopfern“ geht. Das geschah aber nur „vorsorglich, da Unsicherheiten bei der Auslegung der Norm bestanden“, so Familienministerin Lisa Paus (Grüne). Paus nahm den Vorbehalt und einen weiteren im Februar 2022 zurück, sagte aber zugleich, dass sie das gar nicht hätte tun müssen. Denn die Bundesrepublik setzte den Artikel schon zu jenem Zeitpunkt vollständig um: „Die persönliche Situation der Opfer wird bei jeder aufenthaltsrechtlichen Prüfung berücksichtigt.“
Paus: Deutschland uneingeschränkt an der Seite von Frauen und Mädchen
In Deutschland wirkt es sich also schon seit 2022 oder sogar seit 2018 positiv für die Bleibechancen aus, wenn eine Frau angeben kann, in ihrem Herkunftsland eventuell von ihrem Mann bedrängt oder bedroht zu werden. Deutsche Gerichte brauchten in dieser Sache keine EuGH-Ermahnung, bulgarische offenbar schon. Auch Peter von Auer freut sich, dass es nun „insgesamt europaweit dadurch einfach Klarheit“ gibt.
Mit anderen Worten: Die Bundesregierung („wir“) steht schon seit geraumer Zeit „uneingeschränkt“ an der Seite von Frauen und Mädchen, so Bundesministerin Paus – zumal von solchen, die in Deutschland Asyl suchen, unbesehen der Tatsache, dass diese Frauen und Mädchen oft genug ihre ganze Familie nachholen, was dann wieder für gefährliche Situationen für deutsche Frauen führen mag.
Mit dem neuen EuGH-Beschluss wird nun allen EU-Mitgliedern auferlegt, sich genauso tugendhaft wie Deutschland in Sachen „Gewalt gegen Frauen und Asyl“ zu verhalten und die Istanbul-Konvention nach ihrem größten „Mehrwert“ hin auszulegen. Die Ausweitung der „Asyl-“ und „Fluchtgründe“ schreitet umgekehrt proportional zur Aufnahmefähigkeit der europäischen Staaten für Migranten aller Art voran. Man will den Wahnsinn anscheinend komplettieren.