Über die gesellschaftlichen Wirkungen der Corona-Pandemie und über die richtigen Methoden, sie zu bekämpfen, gibt es viele Meinungen. Eines aber ist sicher: Eine der effektivsten Methoden, die Krankheit einzudämmen, sind Massenimpfungen. Selbst wenn man für das Impfen viele Milliarden ausgibt, ist das immer noch sehr viel billiger als ein wochen- oder monatelanger Lockdown. Ganz besonders Deutschland hätte an einer erfolgreichen Impfkampagne interessiert sein müssen, denn wir tragen die finanziellen Lasten ja nicht nur für unser eigenes Land, sondern zu großen Teilen auch für den Rest der EU – über den vor kurzem beschlossenen Sonderhaushalt der EU von 750 Milliarden Euro, der überproportional von uns finanziert wird.
Deutschland hatte im Gegensatz zum Vereinigten Königreich, das der EU ja nicht mehr angehört, den Impfstoffkauf fürs Erste und wohl faktisch auch auf Dauer ganz der EU überlassen. Als Grundidee war das gar nicht völlig falsch, weil die Marktmacht der EU-Länder gemeinsam in der Theorie sehr groß ist, so dass man beim Einkauf günstige Konditionen erhalten kann. Außerdem hat Deutschland durchaus ein Interesse daran, dass in ganz Europa die Wirtschaft wieder normal arbeiten kann, und dafür sind Impfungen der beste Weg.
Brüssel betreibt die falsche Einkaufspolitik
So weit so gut, oder leider, so schlecht. In Brüssel hat offenbar keiner gemerkt, dass man in einer solche Ausnahmesituation wie der jetzigen einfach nicht zu viel Impfstoff haben kann. Statt daher von allen halbwegs aussichtsreichen Vakzinen vorab jeweils genug zu bestellen – genug selbst für den Fall, dass die anderen ausfallen sollten – hat man eher auf preiswerte Produkte gesetzt, die aber entweder im Fall von Sanofi selbst im Herbst noch nicht auf dem Markt sein werden oder in anderen Fällen erst in den nächsten Monaten schrittweise zur Verfügung stehen. Insgesamt wollte man offenbar nicht mehr als zwei bis drei Milliarden Euro ausgeben. Ob man auf die rechtzeitige Bestellung der besonders aussichtsreichen Impfstoffe von Pfizer und Moderna in ausreichender Menge daher deshalb verzichtet hat, weil diese besonders teuer und zum Teil auch umständlich zu handhaben sind, oder weil tatsächlich Präsident Macron darauf bestand, möglichst wenig aus den USA und möglichst viel von europäischen Produzenten und dort wieder besonders von französischen zu kaufen, ist unklar. Aber eine französische Intervention hat es wohl gegeben. Klar ist in jedem Fall, dass die EU-Kommission kurzsichtig gehandelt hat. Das nun wiederum kann eigentlich nicht überraschen, denn die ganzen Entscheidungsmechanismen der EU sind nicht geschaffen worden, um rasche eindeutige Ergebnisse zu produzieren, sondern um im günstigsten Fall gerade eben noch tragfähige Kompromisse zu ermöglichen und im schlechtesten Fall unüberwindliche Konflikte zwischen den Nationen durch unendlich lange Verhandlungen zu entschärfen oder auch nur durch bloße Formelkompromisse unsichtbar werden zu lassen. Das ist nicht die Art von Entscheidungsprozess, der für eine Krise geeignet ist.
Allerdings hätte Deutschland bei gutem Willen vermutlich auf das Handeln der Kommission einwirken können. Frankreich hat das ja offenbar auch getan. Deutschland hätte etwa anbieten können, einen Großteil der Kosten der Vakzine für ganz Europa zu übernehmen, um so Einwände gegen den großzügigen Kauf teurer Mittel zu entkräften. Das wäre vermutlich wirksam gewesen, auch wenn es uns vielleicht 20 oder 30 Milliarden gekostet hätte, aber das wäre gut angelegtes Geld gewesen. Doch ein solcher Versuch unterblieb. Merkel kam es offenbar nur darauf an, dass die EU neue Kompetenzen erhielt, um Kritik an Deutschland als potentiell kaufkräftigstem Abnehmer von Impfstoffen zu vermeiden und um der Welt zu demonstrieren, wie selbstlos unser Land ist. Minister Spahn, der den Kaufprozess in Brüssel eigentlich hätte beaufsichtigen müssen, war offenbar seinerseits einfach nur froh, die Verantwortung für die schwierigen Entscheidungen los zu sein, anders kann man sein Verhalten nicht verstehen.
Ein Vorgeschmack auf das Europa der Zukunft
Das Fazit aus diesen Vorgängen ist jedoch erschreckend. Offenbar sind die Verantwortlichen in Berlin und Brüssel im Zweifelsfall durchaus bereit, Menschenleben zu opfern oder doch zumindest das Risiko gravierender Folgen für Gesundheit und Leben vieler Menschen einzugehen, wenn es darum geht, das Prinzip „Mehr Europa ist die Lösung für Alles“ um jeden Preis durchzusetzen. Jeder kann sich ausrechnen, welche Wirkung die englische Variante des Virus demnächst auch auf dem Kontinent haben kann und vermutlich auch haben wird, falls nicht zumindest die Risikogruppen rasch durchgeimpft werden. Genau das wird jedoch, wie es jetzt aussieht, nicht rechtzeitig möglich sein, weil zu wenig Impfstoff vorhanden ist. Von daher wundert es auch nicht, dass Deutschland mittlerweile gerechnet auf eine Million Einwohner eine erkennbar höhere tägliche Corona-Mortalität hat als die USA, die ja von den deutschen Medien gern als Totalversager in der Bekämpfung der Pandemie dargestellt werden. Dass die Todesrate in Deutschland zur Zeit höher – und zwar deutlich höher – liegt als im Durchschnitt der EU-Länder, ist ebenfalls bezeichnend für den Misserfolg der Seuchenbekämpfung in Deutschland.
Da wird dann auch gern von einem verwerflichen „Impfstoffnationalismus“ gesprochen, womit die wackeren Verteidiger der Kanzlerin und der EU wohl meinen, dass eine Regierung allen möglichen Menschen gegenüber in Europa und in der ganzen Welt eine klare Verantwortung habe, aber ganz sicher nicht gegenüber ihren eigenen Bürgern. Ein Gedanke, der ja auch unmittelbar einleuchtet, namentlich, wenn man sich die Grundprinzipien der Demokratie vor Augen hält, falls dieser Sarkasmus gestattet ist. Aber es spielt natürlich auch eine Rolle, dass eigentlich alle Oppositionsparteien im Bundestag sich für eine Auseinandersetzung über diese Frage völlig falsch positioniert haben und die Regierung daher nicht stellen können.
Wie gut eine europäische Gesundheitsunion funktionieren würde, kann man sich ja leicht denken. Ihre größte Leistung wird es vermutlich sein, den Standard des Gesundheitswesens in Deutschland auf den der entsprechenden Einrichtungen in, sagen wir: Rumänien abzusenken, so wie ja auch der Euro langfristig in ähnlicher Weise segensreich homogenisierend wirken wird. Das aber bekümmert Herrn Weber wohl nicht. Man wird ihm keine Bösartigkeit unterstellen wollen, aber unendlich naiv ist er sicherlich. Außerdem lebt er, wie man vermuten muss, schon so lange in der abgeschirmten Welt der Brüsseler Institutionen, dass ihm jeder Zugang zur Lebenswirklichkeit normaler Menschen in Deutschland vollständig abhanden gekommen ist. Das hat er freilich mit vielen anderen deutschen Europapolitikern gemein. Und diese Europapolitiker dürften durchaus von einer Welt träumen, die überall so aussieht wie Brüssel, eine Welt, in der es faktisch keine lästigen Wähler mehr gibt, die einen für irgendetwas verantwortlich machen und womöglich abwählen könnten.
Wir müssen lernen, mit diesen tief verwurzelten Animositäten und mit der Instrumentalisierung der Geschichte des 20. Jahrhunderts für nationale Interessenpolitik zu leben. Das hat ein Herr Weber wie viele andere deutsche Europapolitiker wohl nie verstanden. Deshalb wird die immer weiter gehende fiskalische und politische Zentralisierung in Europa, die Herr Weber und andere so gern vorantreiben möchten, unseren Niedergang als Land unweigerlich beschleunigen, mit gravierenden Folgen für jeden einzelnen, bis hin zu den persönlichen Überlebenschancen in einer Gesundheitskrise, wie man jetzt sieht. Von der Tatsache, dass die EU auch die unbürokratische Auszahlung von Corona-Hilfen an Unternehmen, die wegen des Lockdowns kaum noch Umsatz machen, blockiert, sehen wir hier einmal ab. Es ist jedenfalls ein weiteres Beispiel dafür, dass die Abgabe von Souveränitätsrechten an eine nicht kontrollierbare ferne Instanz auch wirtschaftlich hoch gefährlich, ja tödlich sein kann.