„Am 16. 11. 2017 wurde im Europäischen Parlament in Straßburg ein „Bericht“ abgestimmt. „Bericht“ ist Eurokraten-Sprech für Gesetz. Der Name des Berichtes war wie so oft recht lang und schwer verständlich. Der deutsche Titel lautet:
„Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist.“
Es ist üblich, die Gesetze nach dem verantwortlichen Berichterstatter zu benennen. In diesem Falle nach der Abgeordneten Cecilia Wikström von den schwedischen Liberalen. Dieser sogenannte „Wikström-Bericht“ sorgt aktuell für erhebliches Aufsehen.
Auf Deutsch handelt es sich bei diesem Bericht um nichts anderes als einen Gesetzentwurf zur Neufassung der aktuell gültigen Dublin-III-Verordnung. Das Gesetz ist Teil eines kleinen Paketes an Gesetzesänderungen, das in seiner Gesamtheit, wenn es den Gesetzgebungsprozess vollständig durchlaufen sollte, zu Dublin IV werden wird. Die Dublin-Verordnung regelt, welcher Staat der EU für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist.
Innerhalb des EU-Parlaments wurde das Gesetz inhaltlich nur vom LIBE-Ausschuss für „Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres“ beraten und angenommen. Die Vorlage des Ausschusses wurde dann in seiner Gesamtheit vom Plenum als Vorschlag an den Ministerrat überwiesen. Wenn der Ministerrat zustimmt, wird das Gesetz an das Parlament zurücküberwiesen und dort inhaltlich abgestimmt. Ob es durch den Rat geht, ist sehr fraglich. Eine Sperrminorität von vier Staaten kann es dort blockieren. Nach aktuellem Stand dürften weit mehr als nur vier Staaten dieses Gesetz ablehnen.
Die Gesetzesvorlage des Parlamentes ist entgegen einiger im Internet kursierender Behauptungen noch nicht geltendes Recht. Trotzdem ist die Vorlage aus dem EU-Parlament von großer Bedeutung. Sie dient der Kommission und dem Ministerrat als offizielle Verhandlungsbasis des Parlamentes für die weitere Arbeit.
Es ist also möglich, dass ein Gesetz in die Verhandlungen mit den anderen Institutionen (Kommission, Ministerrat) geschickt werden kann, das nur vom zuständigen Ausschuss, aber nicht vom gesamten Parlament inhaltlich abgestimmt worden ist. Das ist durchaus problematisch.
Einige Ausschüsse sind personell so besetzt, dass sie politisch nicht annähernd repräsentativ für das insgesamt schon sehr „pro-europäische“, zentralistische und umverteilungsorientierte Parlament sind. Besonders weit links steht ohne Zweifel der FEMM-Ausschuss für die „Rechte der Frau und Gleichstellung der Geschlechter“. Auch der Ausschuss EMPL für „Beschäftigung und soziale Angelegenheiten“ ist zumeist mit links stehenden Abgeordneten besetzt. Der für dieses Papier zuständige Ausschuss LIBE hat ebenfalls eine linke Übermacht.
Die Stoßrichtung des Wikström-Gesetzes wird schon anhand der Berichterstatter klar: Neben der linksliberalen Schwedin Wikström waren das die linke italienische EVP-Abgeordnete Alessandra Mussolini, die linke Sozialdemokratin Elly Schlein, die deutsche Abgeordnete der Linkspartei Cornelia Ernst, die englische grüne Abgeordnete Jean Lambert und die linke italienische Abgeordnete Laura Ferrara von der Fünf-Sterne-Partei, die sogar über Menschenrechte promoviert hat. Die Fünf-Sterne Partei ist im EU-Parlament in der EFDD, die wegen der Mitgliedschaft der britischen UKIP in der Presse meist als rechte Fraktion geführt wird. Da die UKIP aber nahezu alle Mitarbeit verweigert, wird die inhaltliche Arbeit der EFDD insbesondere von den meist sehr linken Italienerinnen der fünf-Sterne getragen. Der einzige Konservative in der erlauchten Runde und auch der einzige Mann war der britische konservative Abgeordnete Daniel Dalton von den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR), der natürlich auf verlorenem Posten stand.
Das wichtigste Ziel des Ausschusses sollte wohl sein, das Dublin-Verfahren „menschlicher“ zu machen. Das Gesetz sieht entscheidende Änderungen an der bestehenden Rechtslage vor. Eine Auswahl von besonders irritierenden Vorgaben:
- Jeder Verweis auf „sichere Herkunftsstaaten“ wird gestrichen. Ohne dieses Mittel wird jeder Antrag eines Migranten zum überprüfungsfähigen Einzelfall. Ob die Justizsysteme die Last der Fälle noch unter Kontrolle bekommen kann, war den Damen im Ausschuss offensichtlich egal. Es geht ihnen ums Prinzip.
- In der Vorlage der Kommission wird vorgeschlagen, die Formel zur Verteilung von Flüchtlingen auf objektive Kriterien zu gründen. Der Ausschuss stellt diesen objektiven Kriterien noch den „Grundsatz der Solidarität“ voran.
- Jeder Flüchtling darf einen Antrag stellen, in dem Land unterzukommen, in dem „seine erweiterte Familie, seine kulturellen oder sozialen Bindungen, seine Sprachkenntnisse oder andere bedeutende Bindungen seine Integration erleichtern würden“. Mit dieser Gummi-Klausel hat praktisch jeder Migrant die freie Wahl seines Ziellandes.
- Jeder Mitgliedstaat wird verpflichtet, allen Antragstellern umfangreiche und persönliche Informationen, beispielsweise über Verwandte und Angehörige, Rechtsberatung und Rechtsberatung in einer Sprache, die der Antragsteller versteht, bereitzustellen. Jeder Mitgliedstaat muss also umfangreiche Kapazitäten in Arabisch, Persisch, Urdu, Tigrinya usw. organisieren. Die verantwortlichen Berater müssen bezüglich der kulturellen Herkunft, der Geschlechtszugehörigkeit und -identität, der sexuellen Ausrichtung, usw. geschult sein. Neben dem Sachbearbeiter sollen deshalb nach Möglichkeit ein Dolmetscher und ein kultureller Vermittler anwesend sein.
Die Gesetzesvorlage ist ein Feuerwerk des Humanismus und der linken Moral. Ob die vielen Vorgaben und Anforderungen umsetzbar sind, war offensichtlich von sekundärer Bedeutung. Bei der Abstimmung zur Übersendung des Gesetzes an den Europäischen Rat stimmten die anwesenden deutschen Abgeordneten überwiegend mit Plus:
Sozialdemokraten 22 Stimmen plus
CDU 19 plus, die Abgeordneten Koch und Langen enthielten sich
Grüne 9 Stimmen plus
CSU Ferber und Hohlmeier plus, Deß minus
Linke 2 Stimmen plus, 2 Stimmen Enthaltung
LKR 4 Stimmen minus
FDP 3 Stimmen plus
Freie Wähler 2 Stimmen plus
Die Partei 1 Stimme minus
NPD 1 Stimme minus
Die Blauen 1 Stimme minus
Tierschutz 1 Stimme plus
ÖDP 1 Stimme plus
Eigentlich sollten die Fraktionen und Parteien die Berichte, die aus den Ausschüssen kommen, genau prüfen. Entweder haben die Unionsparteien, die FDP und andere das nicht getan, oder sie haben die links-moralisierenden Positionen des LIBE-Ausschusses gerne unterstützt. Wenn Berichte erst einmal an die anderen Institutionen überwiesen worden sind, kann das EU-Parlament seine eigenen Vorschläge nur noch schlecht korrigieren.
Trotzdem ist der Wikström-Bericht politisch praktisch tot. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen sieht es so aus, als wäre eine Politik der offenen Grenzen in der EU endgültig Geschichte. Die Nationalstaaten, und zwar nicht mehr nur die Visegrad-Staaten im Osten, sondern auch die westeuropäischen Staaten, setzen inzwischen restriktive Realpolitik durch. Das EU-Parlament hat zu einer von den meisten EU-Bürgern gewünschten realistischen Politik keinen nennenswerten Beitrag geleistet.
Ulrike Trebesius ist Europaabgeordnete.