Für Politik sowie Medien in Westeuropa, vornehmlich für die veröffentlichte Meinung in Deutschland und Österreich, gilt der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán seit Jahren als der Reibebaum schlechthin. Was wirft man ihm nicht alles vor: Er schränke Menschen- und Freiheitsrechte ein; er gängele missliebige Medien; er erweitere die Macht der Exekutive, knebele die Justiz und unterminiere die Gewaltenteilung; er nehme die Wirtschaft an die Kandare und beschneide die Rechte der Gewerkschaften; er kujoniere Andersdenkende und gesellschaftliche Gruppierungen; er lasse Antisemiten und Rassisten unbehelligt und fördere die Fremdenfeindlichkeit – kurzum er überziehe Ungarn mit einer autoritären Ordnung und schaffe die Demokratie allmählich ab. So der Tenor nahezu aller Erörterungen in der Ungarn (und Polen) gewidmeten jüngsten Ausgabe der (wissenschaftlichen) Zeitschrift „Osteuropa“. Der redaktionelle Gesamtbefund lautet, im Falle Ungarns handele es sich schon nicht mehr um einen Zustand, den Orbán selbst als „illiberale Demokratie“ bezeichnet hatte, sondern vielmehr um eine „liberale Autokratie“, mithin um „eine Autokratie, in der noch die Bürgerrechte gelten“.
Systemwechsel und „wahre Wende“
Wenn ermessen werden soll, welches Veränderungspotential der ohne Unterbrechung seit 2010 mit außergewöhnlich hoher Unterstützung des Wahlvolks regierende Viktor Orbán in Ungarn freisetzte, muss auf die politische Entwicklung seit der System-„Wende“ 1989/1990 zurückgeblickt werden. Mit der Ablösung der kommunistischen Einparteiherrschaft kamen damals zwar demokratische Ordnung, Rechtsstaat und Mehrparteiensystem zustande. Doch anstatt eine völlig neue Verfassungsordnung zu schaffen, blieb es beim faktischen Erhalt der 1949 im finstersten Stalinismus dem Land übergestülpten kommunistischen Verfassung, welcher man allerdings mithilfe von Anleihen aus westlichen Verfassungen, insbesondere tragenden Elementen des deutschen Grundgesetzes, einen „freiheitlich-demokratischen“ Anstrich verpasste. Was sich für die künftige politische und ökonomisch-soziale Entwicklung des Landes als Hemmschuh erweisen sollte, war der Umstand, dass die postkommunistische Elite nicht nur nicht verschwand – man konnte ihre Repräsentanten ja nicht festsetzen oder des Landes verweisen – , sondern im Grunde über zwei Jahrzehnte hin auf allen Feldern von Staat und Gesellschaft dominant blieb.
Im Zuge der Privatisierung, die zu einem erheblichen Teil eine Veräußerung der kommunistischen Staatsbetriebe an ausländische Investoren und andernteils Umwandlung in Beteiligungscoupons war, die oft von im alten System geschulten „Durchblickern“ aufgekauft/erworben wurden, konnten viele derjenigen, die schon im Kommunismus das Sagen hatten, wirtschaftliche und gesellschaftliche Macht oder Einfluss über den Systemwechsel hinaus wahren. Der Staat nahm – insbesondere während der Phase der Regierung Horn – im Privatisierungsverlauf meist direkt Einfluss. Angehörige der Elite wurden Privatbesitzer / Eigentümer von Latifundien oder gelangten aus ehedem staatlichen Führungspositionen an die Spitze von in (Aktien-)Gesellschaften umgewandelten Betrieben, insbesondere dort, wo der ausländische Investor an der Expertise einheimischer Kennerschaft interessiert war.
Ablösung des Eliten-Klientelismus
Ein symptomatisches Beispiel für den geschmeidigen Übergang aus der kommunistischen Funktionärsschicht in die kapitalistische Klasse lieferte besagter Ferenc Gyúrcsany. Der vormalige KISZ-Obere erwarb in der Zeit der „ungestümen Privatisierung“ unter Gyula Horn – dessen Kabinettschefin Piroska Apró, Tochter des Kádár-Vertrauten Antal Apró, Gyúrcsánys Schwiergermutter ist – einen ansehnlichen Besitz. Nach der Wende arbeitete er zunächst als Angestellter in verschiedenen Investmentunternehmen und gründete 1992 die Altus AG, die sich zu einer der größten Investmentfirmen Ungarns entwickelte. Zudem erwarb er die ehemalige Ferienanlage der kommunistischen Regierung in Balatonőszöd am Plattensee sowie weitere Immobilien, darunter die Gebäude, in denen die Parlamentsabgeordneten ihre Budapester Arbeits- und mitunter auch Wohnräume haben. Darüber hinaus betreibt er ein Bauxit-Aufbereitungswerk dort, wo es im Komitat Veszprém 2010 zur verheerenden Rotschlamm-Katastrophe kam. Der Erwerb dieser ursprünglich staatlichen Immobilien war und ist wegen der verhältnismäßig niedrigen, teilweise in langfristigen Raten gezahlten Kaufpreise stark umstritten, was Gyúrcsany indes ebenso wenig wie die Sozialisten anficht, die er als „einer der hundert reichsten Ungarn“ von 2007 bis 2099 als Parteichef führte.
Eliten-Kontinuität über die Zeitenwende hinweg machte sich auch in den ungarischen Medien sowie in Wissenschaft und Kunst, Kultur und Justiz bemerkbar, wo ein hoher Anteil alter Kader überdauerte, die sich in rascher Metamorphose zu „Link(sliberal)en“ wendeten. Wer nicht ins „konservative“ Lager überlief oder sich an den äußersten rechten Rand begab, ficht bis heute – unter internationaler Hilfe, wobei der ungarnstämmige amerikanische Mehrfachmilliardär George Soros als „Open-Society“-Stifter die Fäden zieht – seine Kämpfe wider den „Orbánismus“ .
Seit 2010 ist also die „wahre Wende“ in Ungarn im Gange, nämlich die zielgerichtete und mitunter skrupellose Ablösung des postkommunistischen Systems mit all den Erscheinungsformen des ihm eigenen Eliten-Klientelismus. Bestärkt darin, ein „Bürgertum in Ungarn“ ebenso wie ein „bürgerliches Ungarn“ überhaupt zu schaffen und fest zu verzurren, sodass dies irreversibel ist, sah und sieht sich Orbán durch die „Revolution an den Wahlurnen“ bestätigt, die sich seit 2010 noch zweimal, 2014 und 2018, wiederholte.
Politische und gesellschaftliche Umgestaltung
Im April 2011 war das neue Grundgesetz vom Parlament verabschiedet worden, worin Orbáns Partei Fidesz-MPSz („Bund Junger Demokraten – Ungarischer Bürgerbund“) mitsamt festem Bündnispartner KDNP („Christlich-Demokratische Volkspartei“) seit 2010 über eine Zweidrittelmehrheit der Sitze verfügt. Die neue Verfassung sowie diverse sogenannte „Kardinalgesetze“ (oder „Schwerpunktgesetze“), in denen aufeinander abgestimmte Gesetzesmaterien neu geregelt wurden, bereiteten zusammen mit der Verdrängung der postkommunistischen polit-ökonomischen Netzwerke in der Legislaturperiode 2010 bis 2014 den Boden für die politische Umgestaltung.
Exkurs: Die ungarischen Schwerpunktgesetze sind unter demokratiepolitischem Aspekt diskussionswürdig. Gesetze, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament geändert werden können. In freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratien kann die Verfassung in der Regel nur mit qualifizierter Mehrheit, also mit Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheit geändert werden. Für das Erlassen normaler Gesetze genügt jedoch die einfache Mehrheit. Wenn für eine Reihe von gesellschaftlichen Regelungsfeldern wie in Ungarn künftig eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist, so ist dies durchaus problematisch. Dass die derzeitige Opposition in Ungarn irgendwann einmal eine Zweidrittelmehrheit erzielt, ist eher unwahrscheinlich. Sollte sie aber die derzeitige Regierung aufgrund einfacher Mehrheit irgendwann ablösen, was vorerst aufgrund ihrer Fragmentierung unmöglich ist, so ist ihr die Möglichkeit genommen, auf gewisse politische und wirtschaftliche Entwicklungen mit der Änderung einfacher Gesetze zu reagieren. Denn dass die abgewählte alte Regierungspartei ihr beispringt, um die Zweidrittelmehrheit zu erreichen, ist kaum anzunehmen.
Die wirtschaftliche Neugestaltung ging indes nicht so einfach vor sich, denn die zweite Orbán-Regierung hatte von den sozialistisch-liberalen Vorgängerregierungen unter Médgyessi, Gyúrcsany und Bajnaj einen wirtschaftlichen und finanziellen Bankrott geerbt. Zuerst waren im Krisenmanagement harte Maßnahmen zu ergreifen, um die IWF-Kredite (und damit die ökonomisch-finanzielle Fremdbestimmung) loszuwerden und den Staatshaushalt zu sanieren. In der Legislaturperiode 2010 bis 2014 gelang die wirtschaftliche Konsolidierung, und von 2014 bis 2018 erholte sich auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes insgesamt; der Lebensstandard der Ungarn wuchs, die wirtschaftlichen Wachstumsraten zeig(t)en einen stabilen Aufwärtstrend.
Reizformel „illiberale Demokratie“
Orbáns strikte Grenzschutzmaßnahmen, die im Übrigen sowohl den Schengen-, als auch den Dublin-Vorschriften der EU entsprechen, und seine Weigerung, sich an der (hauptsächlich von der deutschen Kanzlerin Merkel gewollten) Flüchtlingsverteilung „solidarisch“ zu beteiligen, die von der EU(-Kommission) ins Werk gesetzt werden sollte, hat Orbán, der in dieser Angelegenheit die gesamte „Visegrad-Gruppe“ (außer Ungarn Polen, Slowakei, Tschechien) auf seine Seite zog, politisch-medial zum EU-europäischen „Paria“ werden lassen, was er indes gewiss nicht ist. Massive Kritik zog er sich zudem wegen des von ihm geprägten Begriffs „illiberale Demokratie“ (s.o.) zu, den er zur Beschreibung eines von ihm für unzeitgemäß, aber für zwingend notwendig und daher für Ungarn erstrebenwert gehaltenen gesellschaftlichen Zustands prägte.
Wie ist es um die Demokratie in Ungarn bestellt? Kritisiert wird stets das Wahlrecht, welches Orbán und seinem Parteienbündnis Fidesz-MPSz/KDNP die Zweidrittelmehrheit ermöglich(t)e. Nun hat aber selbst die durchaus als „Ungarn-kritisch“ einzustufende „Venedig-Kommission“, immerhin eine Einrichtung des Europarats, festgestellt, Wahlrecht und -system entsprächen demokratischen Grundsätzen. Es ist ja – auch aus deutschen und österreichischen Erfahrungen heraus – durchaus nachzuvollziehen, dass im Interesse der Stabilität Vorkehrungen zu treffen sind, um parlamentarische Zersplitterung oder gar Regierungsunfähigkeit zu vermeiden. Es genügt, auf die Wahlsystem-Beispiele Großbritanniens, Griechenlands und der USA hinzuweisen, die bekanntermaßen nicht als „kompliziert“ oder gar als „undemokratisch“ eingestuft werden. Insofern ist es schon eigenartig, dass es im Anschluss an die Parlamentswahl vom April 2018 in Budapest Demonstrationen gab. Denn vor der Wahl haben sich die Oppositionsparteien ja nicht über den angeblich „ungerechten Wahlkampf“ respektive das Wahlrecht beschwert, sondern erst nach ihrem (von ihnen und westlichen Medien unerwarteten) abermaligen katastrophalen Abschneiden.
Die „funktionsunfähige“ Opposition
Im Gegensatz zu den Oppositionsparteien ist Orbáns Fidesz-MPSz sozusagen „flächendeckend“ zwischen dem Komitat Vas (Eisenburg) und dem Komitat Szabolcs-Szatmár-Bereg präsent ist. Selbst in kleinen Ortschaften haben die Bürger eine Anlaufstelle, um ihre Sorgen vorzutragen, während sich die Oppositionsparteien hauptsächlich auf Budapest konzentrier(t)en, was, um „das System Orbán“ abzuwählen/abzulösen, allein nicht zielführend ist. Hinzu kommt, dass sich die Oppositionsparteien, selbst wenn sie ähnliche programmatische Inhalte haben, nicht in gemeinsamen Wahllisten zusammenfinden. Es kann doch Orbáns Partei wirklich nicht angelastet werden, dass die gesamte Opposition in ihrem derzeitigen Zustand schlichtweg „funktionsunfähig“ ist. Darüber hinaus ist sowohl für die Ungarn, als auch für unvoreingenommene Beobachter evident, dass es, seit Orbán daranging, nach ersten drastischen wirtschaftlich-sozialen Notmaßnahmen zur Verhinderung des Staatsbankrotts (2010-2012) die „wahre Wende“ herbeizuführen, dem größten Teil der Bevölkerung objektiv bessergeht: Die Löhne steigen, die Wirtschaftsleistung nimmt zu und die Inflation hält sich in Grenzen. Die Staatsverschuldung wurde erheblich vermindert und ist – im Vergleich mit Ländern der EU-„Südschiene“ – moderat. Kurzum ist erkennbar, dass es den Bürgern des Landes unter der Regierung Orbán erheblich besser geht als je zuvor seit dem Systemwechsel 1989/90. Und schließlich ist resümierend festzuhalten: Kritik an „Orbáns Ungarn“ ist zwar wohlfeil; aber zu behaupten, es gehe nicht demokratisch zu in Ungarn – gar: Orbán ersetze die Demokratie durch „Demokratur“ – zeigt damit, dass er dem (ideologisch motivierten) Hass seiner zahllosen Gegner auf den Leim gegangen ist.
Reinhard Olt