Es gab eine Zeit, da war das Internet wie der wilde Westen. Wer bereits in den 90er Jahren mit den mysteriösen Geräuschen von 56k-Modems aufwuchs (und dem daran verbundenen Zeitdruck, das „Surfen“ im „World Wide Web“ gut zu nutzen, bevor die Telefonrechnung durch die Decke ging), der erinnert sich an eine Zeit, in der man nicht wusste, was hinter der nächsten Webseite lauerte. Faszinierendes, Überraschendes, Obskures und Abstoßendes hielten sich die Waage. Man konnte alles und nichts finden, man musste nur wissen, wo und nach was man überhaupt suchte.
Es war auch eine Hochzeit zahlloser Internetforen zu diesen oder jenen Themenbereichen. Gleichgesinnte aus aller Welt bildeten Interessengemeinschaften, die sich größtenteils selbst moderierten, bzw. deren Moderation einem ausgewählten Team der jeweiligen Seitenbetreiber unterlag.
Doch dann begann das Zeitalter der Giganten. Wer was suchte, ging zu Google, wer Videos sehen wollte, auf YouTube. Facebook tötete MySpace und bekam in Folge Gesellschaft von Twitter und später Instagram. Zunehmend wanderten die Menschen von Diskussionsforen ab und der Internetdiskurs konsolidierte sich auf den 3 bis 4 populärsten sozialen Netzwerken. Das Internet schien aber kleiner zu werden. Wo früher noch hinter jeder URL ein persönliches Herzensprojekt liebenswerter Spinner warten konnte und Suchanfragen manch Unerwartetes zutage fördern konnten, filtert Google nun bei jeder Suchanfrage unerwünschte Resultate vorsorglich heraus und füttert uns stattdessen mit den ewig gleichen Quellen offizieller Meinungen.
Traute Einigkeit in Silicon Valley und der Störenfried Musk
Bislang haben sich in diesem Prozess vor allem die progressiven Tech-Giganten aus dem Silicon Valley hervorgetan. Mit einem gehörigen Maß an Eigenmotivation zensierten sie bereitwillig alles, was der eigenen Definition von „Hassrede“ entsprach und diffamierten abweichende Meinungen zu bestimmten politischen Themen schon gerne als „Desinformation“. Was dabei schon lange vermutet wurde, bestätigen nun seit einigen Monaten die Veröffentlichungen der Twitter-Files: Auch die Politik, die zusammen mit den Medien zur Legitimierung dieser vage definierten Begriffe wie „Hassrede“ und „Desinformation“ beigetragen hat, mischt bei dieser Zensur fleißig mit und unterhält direkte Kontakte zu den Führungsebenen der Social-Media-Firmen.
Dieses Konstrukt basierte auf dem stillschweigenden Einverständnis aller beteiligten Parteien, dass bestimmte Dinge weltanschaulich förderbar und wiederum andere verwerflich seien. Wo es Zweifel gab, regelte letztlich die Zeit diese Dinge. Wenn bestimmte Entscheidungen noch nicht durchgewunken wurden, benötigte es oftmals nur wenige Monate, um die benötigte gesellschaftliche Akzeptanz zu erlangen. Mit den Grenzen des Sagbaren verschoben sich auch die Grenzen des Zensierbaren.
Die Gefahr, dass Musk sich als für diese Spielchen zu unzuverlässig erweisen würde, war real. Doch anstatt in Panik zu verfallen, hatte die EU diesbezüglich bereits von langer Hand geplant, eine Lösung in der Schublade. Acht Tage vor dem Verkauf von Twitter an Elon Musk am 27. Oktober, winkte die EU heimlich, still und leise (denn so mag man es in Brüssel am liebsten) am 19. Oktober die Verordnung zum sogenannten Digital Services Act, dem Gesetz über digitale Dienste, durch.
Die legale Grundlage für staatliche Zensur
Dieser Digital Services Act (DSA) hat es für die Bürger Europas in sich. Wie so oft betont man in Brüssel dabei vor allem die damit verankerten Schutzmechanismen zum Wohle des Bürgers im digitalen Raum, ein Raum, der damit seinen Wandel vom Wilden Westen der 1990er zum Safe Space der 2020er vollendet. In der Außenkommunikation bedeutet das mehr Transparenz für die Nutzer, die nun erfahren sollen, warum sie bestimmte Werbung zu sehen bekommen. Auch die Zielgruppenauswahl auf Basis von Religion oder Ethnie soll nun unterbunden werden und Minderjährige sollen nun insgesamt vor gezielter Werbung geschützt werden.
Worüber in der Außenkommunikation aber tunlichst geschwiegen wird, sind die Maßnahmen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit im digitalen Raum. Entscheidende Stichworte sind auch hier wieder „Desinformation“ und die omnipräsente „Hassrede“. Doch egal wie oft man diese mantraartig wiederholt, sie bleiben vage definiert, was in der Praxis bedeutet, dass Online-Plattformen im Zweifel eher zu viel zensieren als zu wenig. Was aber bisher ein freiwilliger Beitrag zur vermeintlichen Sicherung demokratischer Grundwerte war, wird nun bei Nichteinhaltung von der EU unter Strafe gestellt. Bei Verstößen müssen Unternehmen mit empfindlichen Strafen in Höhe von bis zu sechs Prozent des Jahresumsatzes rechnen. Da löscht man dann schon mal lieber einen Artikel zu viel als zu wenig.
Der inhärente Nachteil von unzulänglich definierten Begriffen wie „Desinformation“ (im Zuge der Corona-Pandemie wurden oft auch legitime Zweifel von wissenschaftlicher Seite als solche abgestempelt) und „Hassrede“ (ein Begriff, der, ähnlich wie Rassismus, immer nur in eine Richtung ausgelegt wird) liegt in der Erhöhung des Kontrollorgans zur Definitionsgewalt. Oder anders gesagt: Wo objektive Kriterien fehlen, wird die subjektive Meinung des Kontrollorgans ausschlaggebend.
Aber diese nationalen Aufsichtsbehörden werden sich nur mit der Durchsetzung des DSA im mittleren Rahmen beschäftigen, denn die ganz großen Fische, im DSA als „very large online platform“ (VLOP) und „very large online search engine“ (VLOSE) bezeichneten Internetdienste mit mehr als 45 Millionen europaweiten Nutzern, unterstehen direkt der Kontrolle durch die EU-Kommission. Damit wird diese zukünftig als Kontrollorgan auftreten, um zu überprüfen, ob Google, Facebook, Apple und wahrscheinlich auch Twitter ihren Moderationspflichten entsprechend nachkommen. Was zukünftig als „Desinformation“ oder „Hassrede“ in sozialen Netzwerken und Suchmaschinen zensiert wird, obliegt in letzter Instanz nunmehr der Interpretation der EU-Kommission. Was könnte da schon schief gehen?
Heftige Kritik von Journalistenverbänden
Der DSA ist aber nicht der einzige Vorstoß der EU, um die verbliebene freie Meinungsäußerung im Internet unter dem Deckmantel des Konsumentenschutzes weiter zu knebeln. Erst in den letzten Januartagen verabschiedete die EU ein Regulativ zur „Transparenz und Zielgerichtetheit politischer Werbung“, das Bestandteil des „European Democracy Action Plan“ ist. Wie die EU selbst zugibt, ist man bemüht, die entsprechenden Mittel rechtzeitig zur nächsten Europawahl 2024 etabliert zu haben.
Das neue Regulativ soll dafür sorgen, dass Wahlen frei von äußerer Beeinflussung stattfinden können. Auch das klingt natürlich erstmal nach einer guten Sache, denn laut dieses neuen Regulativs darf politische Werbung nur noch angezeigt werden, wenn die Nutzer dazu explizit ihr Einverständnis gegeben haben. Kritisch wird es nur, wenn man sieht, dass nicht nur bezahlte Werbung, sondern alle Botschaften, die im Stande sind „das Wahlverhalten oder das Ergebnis einer Wahl, eines Referendums, eines legislativen oder regulativen Prozesses zu beeinflussen“ als politische Werbung definiert werden.
Damit würden aber auch wissenschaftliche Publikationen und kritische Artikel zu bestimmten politischen Themenbereichen unter diese Definition fallen, ja selbst private Postings in den sozialen Netzwerken könnten somit der Zensur zum Opfer fallen. Wie der italienische Autor und Präsident der konservativen „Fondazione Tatarella“ Francesco Giubilei unlängst dazu feststellte, gefährdet diese Entwicklung die Existenz des Internets als primären Raum für politischen Diskurs. Einerseits würden soziale Netzwerke damit – zumindest an einer Seite des politischen Spektrums – entpolitisiert werden, andererseits würden damit politischen Hetzjagden Tür und Tor geöffnet werden. Denn ähnlich wie im Fall von Hunter Bidens Laptop, als Twitter die Verbreitung der Nachricht kurz vor der US-Wahl unterdrückte, um sie nach der Wahl wieder freizugeben, drohen Szenarien, in denen die gezielte Meldung unliebsamer Inhalte dazu führen würde, dass Social-Media-Unternehmen im Zweifelsfall erst einmal zensurieren und Nachrichten zumindest für einen bestimmten Zeitraum zurückhalten, bevor diese dann nach Tagen – wenn überhaupt – womöglich doch wieder freigegeben werden müssten.
Das Internet vollendet mit diesen Entwicklungen seinen Wandel vom unendlichen Freiheitsraum zur streng regulierten Echokammer einer sich als therapeutisch verstehenden Bürokratenclique. Diese Entwicklung ruft auch Journalistenverbände und internationale Organisationen auf den Plan. Bereits im November 2021 kritisierte die UNO-Menschenrechtskommission das deutsche NetzDG, das als Inspirationsquelle für den DSA Pate stand, für dessen negative Auswirkungen auf die freie Meinungsäußerung im Internet.
Auch das Medienfreiheitsgesetz der EU zog im September 2022 rege Kritik auf sich, als der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) und der Medienverband der freien Presse (MVFP) warnten, das Medienfreiheitsgesetz „fördere die Pressefreiheit nicht, es untergrabe sie“, denn auch hier soll über einen Medienrat die Presse der Überwachung durch regierungsnahe Kontrollbehörden unterstellt werden. Dem pflichtete der Europäische Verband der Zeitungsverleger (ENPA) bei: „Die redaktionelle Freiheit der Presseverleger ist bedroht und damit die Grundlage der Pressefreiheit in Europa.“ Und auch zum DSA hatten BDZV und MVFP eine Warnung parat. „Der DSA droht zur Gefahr für die Pressefreiheit und Meinungsvielfalt im Internet zu werden“, lautet der Titel der Pressemitteilung auf der Seite des BDZV.
Die zunehmende Zentralisierung von Meinung und Macht im Internet könnte aber langfristig genau den umgekehrten Effekt haben, nämlich eine neuerliche Dezentralisierung. Besorgte Forscher warnen schon jetzt davor, dass Leute, deren Meinung nicht mehr gehört würde, stattdessen Zuflucht in kleineren Internetnischen suchen könnten und dort womöglich radikalisiert würden. Unabhängig von dieser Angst vor einer möglichen Radikalisierung könnte aber ein wenig „Internet-Kleinstaaterei“ dem bewussten Umgang mit dem Internet womöglich ganz gut tun. Die Nutzung des Internets ist alltäglich und komfortabel geworden, aber damit einhergehend wurden auch wir als Nutzer faul. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir wie alte Cowboys – man denke an Clint Eastwood in „Erbarmungslos“ vor mittlerweile 30 Jahren – wieder mal unsere Gäule satteln und in die Prärie des sich verändernden Internets hinaus reiten. Wer weiß, welche Abenteuer da noch auf uns warten.