Es ist mehr als bemerkenswert und es zeigt gleichnishaft den Zustand des Landes. Am Freitagnachmittag kam es in der Innenstadt von Lübeck zu einem Gewaltausbruch. Mehrere Männer im Alter von 17 bis 25 Jahren schlugen aufeinander ein. Ein unbeteiligter Passant, ein älterer Mann, der zufällig am Ort war, wurde einfach brutal und rücksichtslos umgerannt und stürzte zu Boden. Fünf Männer wurden verletzt, einer schwer. Von der Polizei heißt es, dass die Polizei die Personalien festgestellt habe, aber Festnahmen nicht erfolgten.
Alltag inzwischen im „besten Deutschland, das wir je hatten“. Wie schrieb doch die Professorin Naika Foroutan vor kurzem höchst befriedigt: „Sie haben das Gefühl, ihr ‚eigenes‘ Land nicht mehr wiederzuerkennen. Zu Recht, möchte man sagen – denn es sieht anders aus, es ist jünger geworden, es spricht anders, es isst anders, es betet anders, es liebt anders, es hat neue Konflikte, es kleidet sich anders, es ist lauter als in den Jahren, die für viele bis heute ihr Deutschlandbild prägen.“ Wohl wahr.
Halten wir fest: Die Polizei warnt nicht vor Fake News, behauptet nicht, dass die gezeigten Gewaltausbrüche nicht stattgefunden hätten, sondern die Polizei Schleswig-Holsteins warnt vor der Verbreitung eines Videos, das Straftaten und die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zeigt, die sich am Freitagnachmittag mitten in der Innenstadt von Lübeck ereigneten.
Unverhüllt droht die Polizei Schleswig-Holsteins nicht nur vor der Verbreitung des Videos, sie ruft zudem zur Löschung des Videos auf. Zur Löschung der Wahrheit? Sie schreibt: „Hintergründe und Umstände des Tatgeschehens sind nun Gegenstand von Ermittlungen der Kriminalpolizei in Lübeck.“ Und natürlich können „vor diesem Hintergrund … aktuell keine weiteren Auskünfte erteilt werden.“ Dass die Polizei so energisch gegen ein Video vorgeht, das zeigt, was sich in Lübeck ereignet hat, wirft Fragen auf.
Auf Nachfrage übrigens, welche Straftat gemeint sein könnte, verweist die Polizei auf das Urheberrecht und auf die „Verbreitung von gewaltverherrlichendem Material“. Im Paragraphen 131 StGb heißt es dazu:
„ (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
„1. einen Inhalt (§ 11 Absatz 3), der grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen in einer Art schildert, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt,
a) verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht….“
Allerdings heißt es im gleichen Paragraphen auch:
„(2) Absatz 1 gilt nicht, wenn die Handlung der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient.“
Gewaltdarstellung im Sinne des § 131 StGB erfordert neben der Darstellung von Gewalt also zwingend deren Verherrlichung oder Verharmlosung: Augenzeugenvideos und Kriegsberichterstattung können Gewalt darstellen, fallen aber ohne deren Gutheißung nicht unter obigen Straftatbestand. Damit handelt die Polizei rechtswidrig.
Manches Gericht mag das inzwischen anders sehen, doch gehören dieserart Vorfälle zum Zeitgeschehen in Deutschland und stellt das Video so gesehen ein Zeitdokument und für den Zeithistoriker eine Quelle dar.
Was also befürchtet die Polizei in Schleswig-Holstein, wenn sie autoritär verfügt: „Das Video liegt den Ermittlern der Polizei vor. Das mediale öffentliche Interesse ist reine Sensationsgier und nicht notwendig.“? Es liegt nicht im Ermessen der Polizei zwischen „öffentlichem Interesse“ und „reiner Sensationsgier“ zu unterscheiden, zumal, wenn es sich um Straftaten handelt, die in der Öffentlichkeit, auf öffentliche Plätzen stattfinden, bei denen sogar Gefahr an Leib und Leben für unbeteiligte Dritte besteht. Der simple Fakt, dass sich diese Gewaltausbrüche im öffentlichen und nicht im privaten Bereich ereigneten, begründet ein öffentliches Interesse.
Wovor hat die Polizei Angst? Die Ermittlungen können nicht behindert werden, denn Straftaten und Täter sind auf dem Video dokumentiert, die Personalien der mutmaßlichen Täter wurden durch die Polizei aufgenommen.
Worin besteht eigentlich das Problem? Wenn doch ermittelt wird? Wie kommt die Polizei in Schleswig-Holstein auf den Gedanken, dass die Wahrheit nicht in die Öffentlichkeit gehört, dass es genügt wenn die „richtigen Stellen“ „die Wahrheit sehen“. Kabarettistisch könnte man fragen, ob die „richtige Stelle“ beispielsweise ein Wahrheitsministerium wäre?
In Köln war man mit Blick auf die Ereignisse auf der Domplatte zum Jahreswechsel 2015 zu 2016 auch der Meinung, dass „es reicht, wenn die richtigen Stellen die Wahrheit sehen“.
Dieser Umgang der Polizei mit den „Gewaltausbrüchen“ in Lübeck wirft, wie gesagt, Fragen auf. Sollen die Gewaltausbrüche in der Lübecker Innenstadt vertuscht, verharmlost oder verheimlicht werden? Führen die Ermittlungen zu Gerichtsverfahren oder gehen – aus welchen Gründen auch immer – die Täter am Ende straffrei aus?