Die an der Universität Frankfurt Ende April durchgeführte Konferenz zum Thema Migration befasste sich nicht nur mit der Frage, warum und wie ein grundlegender Kurswechsel bei der Asyleinwanderung bewerkstelligt werden kann. Einen weiteren Schwerpunkt bildete das Thema „Fachkräftemangel und Bürokratie“, bei dem ebenfalls deutlich wurde, warum sich Deutschland auch hier auf einem Holzweg befindet.
Der Geschäftsführer Internationales der Bundesagentur für Arbeit (BA), Steffen Sottung, zeigte zunächst auf, wie sehr der deutsche Arbeitsmarkt angesichts sinkender Geburtenraten zur Deckung seiner Bedarfe Einwanderer benötigt. Dies betrifft keineswegs nur (hoch-)qualifizierte Fachkräfte, sondern auch Arbeitskräfte für einfache Tätigkeiten in Industrie und Dienstleistung. Das in Deutschland zur Verfügung stehende Arbeitskräftepotenzial reicht jetzt und in Zukunft nicht aus, um unter der Voraussetzung eines kontinuierlich steigenden Wirtschaftswachstums die steigende Arbeitskräftenachfrage zu befriedigen. Bis zum Jahr 2060 benötigt Deutschland laut den Berechnungen der BA daher eine Netto-Zuwanderung von Ausländern von jährlich etwa 400.000 Personen. Da durchschnittlich rund eine Million Personen Deutschland jährlich verlassen, müsse die jährliche Brutto-Zuwanderung bei gut 1,5 Millionen Personen liegen.
Diese Quelle ist laut Sottung inzwischen aber mehr und mehr ebenfalls erschöpft. Man müsse den Blick daher vermehrt auf Länder außerhalb der EU richten, um von dort geeignete Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt zu beschaffen. Das schließe auch wirtschaftlich unterentwickelte Länder mit ein, in denen ein entsprechender Auswanderungsdruck herrscht. Deutschland dürfe diesen Ländern allerdings nicht diejenigen Arbeitskräfte abwerben, die sie für ihre eigene wirtschaftliche Entwicklung selbst dringend benötigen. Ein solcher Brain Drain Richtung Deutschland ließe sich aber mit entsprechenden Vereinbarungen und Regularien mit diesen Ländern vermeiden.
Das derzeitige Problem der Einwanderung besteht laut Sottung ohnehin nicht darin, dass Deutschland Ländern außerhalb der EU zu viele mehr oder weniger gut qualifizierte Arbeitskräfte abwirbt, sondern dass jenseits des Asylwegs zu wenige Arbeitsmigranten nach Deutschland kommen wollen. Viele von ihnen ziehen Länder wie die USA, Kanada, Australien und Neuseeland vor, wenn es darum geht, die eigene berufliche Zukunft in einem anderen Land zu suchen. Deutschland steht von daher in einem Wettbewerb mit Ländern, die sich seit jeher als Einwanderungsländer verstehen und ihre Einwanderungspolitik so professionell betreiben wie internationale Konzerne ihre Personalbeschaffung.
Ursächlich für die vergleichsweise geringe Attraktivität Deutschlands insbesondere für qualifizierte Einwanderer ist zum einen das Erlernen der schwierigen deutschen Sprache. Viele Auswanderungswillige wollen, so Sottung, die Anstrengungen der damit verbundenen Sprachkurse und Prüfungen nicht auf sich nehmen. Hinzu kommen die zahlreichen bürokratischen Hürden, die ein Arbeitsmigrant überwinden muss, will er in Deutschland arbeiten. Das beginnt mit der Antragstellung für ein Arbeitsvisum in der deutschen Botschaft in den Herkunftsländern und setzt sich mit diversen weiteren amtlichen Anträgen, Nachweisen und Überprüfungen in Deutschland fort.
Sottung forderte daher eine Vereinfachung und Verschlankung bürokratischer Prozesse in den zuständigen Behörden, wie sie auf der Konferenz am Beispiel des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von Frank-Jürgen Weise vorgestellt wurden. Er hatte im Jahr 2016 dessen Leitung zusätzlich zur Leitung der Bundesagentur für Arbeit (BA) mit der Vorgabe übernommen, die Asylantragsverfahren deutlich zu beschleunigen und qualitativ zu verbessern. Darüber hinaus plädierte Sottung für zusätzliche Incentives (Anreize), mit denen ausländische Arbeitskräfte ins Land gelockt werden sollen, indem zum Beispiel Arbeitgeber sämtliche Kosten von Bewerbern übernehmen, die mit ihrem Bewerbungsprozess verbunden sind.
Ob die auch von Sottungs oberstem Dienstherrn, Arbeitsminister Heil, zusammen mit Innenministerin Nancy Faeser propagierte Absenkung von Zuwanderungshürden der erfolgversprechende Weg ist, um Deutschland zu einem am globalen Arbeitsmarkt wettbewerbsfähigen Einwanderungsland zu machen, stellte in Frankfurt dann allerdings die Geschäftsführerin des Masterstudiengangs Interkulturalität und Integration an der PH Schwäbisch-Gmünd, Sandra Kostner, mit ihrem Vortrag über die „humankapitalbasierte Migrationspolitik“ Australiens in Frage.
Gesteuert wird die Einwanderung, so Kostner, über ein ausgefeiltes Punktesystem, mit dem sich Personen, die nach Australien einwandern wollen, zunächst um eine Einladung zu einem Auswahlverfahren bemühen müssen. Nur wer die vorgegebene Mindestpunktzahl von 65 Punkten erreicht, erhält eine solche Einladung. Ausschlaggebend ist der Nachweis von Qualifikationen, die den australischen Qualifikationsanforderungen für die Ausübung des angestrebten Berufes entsprechen. Das entsprechende Skills Assessment (Qualifikationsüberprüfung) wird von denjenigen australischen Stellen durchgeführt, die für die jeweiligen Berufe zuständig sind. Zugleich wird der Zugang zu den verschiedenen Berufsgruppen in Abhängigkeit von den Bedarfen über Quoten gesteuert.
Um eine gezielte Auswahl unter allen Bewerbern treffen zu können, müssen zusätzlich zu den maximal 20 Punkten, die anhand erworbener Qualifikationen erreicht werden können, noch weitere Punkte in den Kriterien Alter und englischer Sprache erreicht werden. Personen, die älter als 44 Jahre sind, können nicht über das Punktesystem einwandern. Personen ohne ausreichende Englischkenntnisse erhalten keine Sprachpunkte. Ausgeglichen werden können fehlende Punkte eines Bewerbers allerdings über das Alter, die Qualifikationen und die Sprachkenntnisse des miteinwandernden Ehepartners.
Die Antragsteller mit den höchsten Punktzahlen werden in Abhängigkeit von den Bedarfen in den jeweiligen Berufsgruppen zu einer Bewerbung eingeladen. Wer die Mindestpunktzahl erreicht hat und trotzdem noch keine solche Einladung erhalten hat, kommt in einen Bewerberpool, wo er nicht nur mit schon vorhandenen, sondern auch mit weiter nachrückenden Kandidaten im Wettbewerb steht. Bei gleicher Punktzahl gilt das Prinzip: first come, first serve. Das Erreichen der vorgegebenen Mindestpunktzahl ist somit noch kein Blankoscheck für ein Arbeitsvisum. Entscheidend ist, dass auch genügend freie Stellen zur Verfügung stehen, die nicht mit Einheimischen besetzt werden können, sowie nicht zu viele Kandidaten im Pool sind, die über mehr Punkte verfügen oder früher in den Pool gelangt sind.
Eingeladene Bewerber müssen nicht nur anhand von Dokumenten belegen, dass sie ihre Punktzahl zurecht erreicht haben, sondern auch ein Character Assessment (Charakter-Überprüfung) bestehen. Es dient dazu, Bewerber auszusieben, von denen aufgrund vor allem von Vorstrafen ein Risiko für die australische Gesellschaft ausgehen könnte. In einer eidesstattlichen Erklärung müssen die Bewerber versichern, dass sie die geforderten positiven Charaktereigenschaften mitbringen. Zudem müssen sich die Bewerber einer Gesundheitsprüfung unterziehen. Damit soll sichergestellt werden, dass Bewerber nicht zu einer Belastung für das australische Gesundheitssystem führen.
Trotz zahlreicher restriktiver Hürden, die das australische Einwanderungssystem errichtet, um durch eine gezielte Auswahl sicherzustellen, dass nur Personen nach Australien einwandern, die dem Land von Nutzen sind, mangelt es Australien, im Unterschied zu Deutschland, nicht an qualifizierten Bewerbern, die dort dauerhaft arbeiten und leben wollen. Die hohe Attraktivität Australiens als Einwanderungsland ergibt sich offenbar nicht daraus, dass der Zugang zum Land möglichst anspruchslos und einfach gestaltet ist.
Ganz im Gegenteil liegt die Vermutung nahe, dass das Land gerade für qualifizierte Fachkräfte deswegen so attraktiv ist, weil diese wissen, dass nach Australien vorwiegend Personen einwandern, die in mehrfacher Hinsicht hohen Anforderungen genügen und ihren Lebensunterhalt von vornherein selbst bestreiten. Wer ein australisches Arbeitsvisum erhält, kann daher auch stolz darauf sein, die Aufnahme in ein Land geschafft zu haben, in das nur Personen einwandern dürfen, die hohe Anforderungen erfüllen. Zur anschließenden Identifikation mit einem solchen Land und dessen Kultur ist es so ein deutlich kleinerer Schritt, als wenn die Einwanderungshürden deutlich niedriger liegen und das Aufnahmeland den Einwanderern so von vornherein signalisiert, dass sie sich nicht zwingend an seine Lebensweise anpassen müssen.
Das von Ozeanen umgebene Land nimmt, wie Kostner ausführt, freilich nicht nur Arbeitsmigranten, sondern auch Flüchtlinge auf. Allerdings nur, wenn diese, ausgewählt über das Flüchtlingskommissariat der UNO (UNHCR) und die australische Einwanderungsbehörde, im Zuge eines Resettlement regulär nach Australien einreisen. Hierbei handelt es sich um die kontingentierte Aufnahme ausgewählter Flüchtlinge aus festgelegten Ländern. Im Jahr 2021 erhielten auf dieser Grundlage rund 5.000 Flüchtlinge in Australien Asyl.
Die irreguläre Asylzuwanderung hat Australien, wie Kostner aufzeigte, ab 2013 hingegen mit äußerst restriktiven Mitteln gestoppt. Im Rahmen der Operation Sovereign Borders schloss die Regierung Abkommen mit benachbarten Staaten. Alle irregulär per Boot ankommenden Flüchtlinge wurden dort hingebracht. Sie konnten dort ein Asylverfahren durchlaufen, aber der Deal war, dass sie, auch wenn sie Asyl bekamen, sich niemals auf australischem Boden niederlassen durften. Die abschreckende Wirkung war so groß, dass schon innerhalb kurzer Zeit kaum mehr jemand versuchte, auf diese Weise nach Australien zu kommen.
Wie nicht nur das folgende, von der australischen Regierung publizierte Plakat unmissverständlich zeigt, liegen auch hier die Hürden der Einwanderungspolitik deutlich höher als in Deutschland. Sie verhindern, dass in den australischen Arbeitsmarkt über den Asylweg in großer Zahl qualifikationsarme Einwanderer kommen, für die keine Nachfrage besteht.
Die australische Einwanderungspolitik weckt somit mehr als nur Zweifel, ob die von der von der Großen Koalition (GroKo) begonnene und von der Ampelregierung bislang weiter betriebene Absenkung der Einwanderungshürden zunächst für Asylbewerber und nunmehr auch für Fachkräfte dazu geeignet ist, die Einwanderung nach Deutschland so zu steuern, dass sie dem Land und seinen Bürgern zugutekommt. Das ebenso erfahrene wie erfolgreiche Einwanderungsland Australien hat dafür jedenfalls einen entgegengesetzten Weg eingeschlagen.