Sie waren beide weit gereist, weit gereist waren sie beide. Es war Abend geworden und der Reisende hatte sein Zelt aufgeschlagen, um darin zu schlafen. Der Reisende hatte ein Auge zugemacht und das andere schon halb, da steckte das Kamel die Nase zur Zelttür hinein, und sagte: »Ach, lass mich doch nur meine Nase ein wenig in deinem Zelt unterbringen, nur die Nase!«
Der Reisende merkte die Störung, und er verhandelte mit sich selbst: Soll ich die Augen öffnen oder ist das noch nicht notwendig? Soll ich nur ein Auge öffnen, und wenn ja, welches? Das halbgeöffnete Auge zu öffnen wäre wohl einfacher, das Geschlossene zu öffnen wäre überraschender, nur beide zu öffnen, das wäre Verschwendung.
»Bloß die Nase«, sagte das Kamel, »und ein wenig meine Schnauze, die Kälte der Nacht kratzt mich so im Hals.«
»Ich habe eine Idee!«, dachte der Reisende, »ich könnte die Augenbrauen hochziehen, so dass es aussieht, als wäre ich aufmerksam, aber ich lasse die Augen geschlossen. Ja, das ist möglich! Man kann die Augen halb oder gleich ganz geschlossen halten, und wenn man dabei die Augenbrauen bewegt, etwa auf zornige, verwunderte oder empörte Art, dann sieht es aus, als sei man wach und doch befindet man sich längst mit beiden Beinen und einem Arm im Reich der Träume.«
An dieser Stelle ist der Autor dieser Zeilen amüsiert über die Vorstellung, dass auch Sie wahrscheinlich versuchen, diese Übung nachzumachen, und wenn Sie es tun, werden Sie feststellen, dass es stimmt: Man kann halb schlafen und zugleich mit geschickten Grimassen große Empörung simulieren.
Ein Weiteres: Sie haben gewiss gemerkt, dass ich ansetzte, die bekannte Geschichte vom Reisenden und dem Kamel nachzuerzählen. In dem Original verhandelt das Kamel mit dem Reisenden um einen Körperteil nach dem anderen, auf dass es erst die Schnauze, dann den Kopf, den Hals und die Schulter im Zelt unterbringen darf. »Der Sand reizt mich in den Augen«, jammert das Kamel, und »die kalte Wüstennacht wird mich frieren lassen.« – Der Reisende sieht es auch ein, verhandelt Schritt um Schritt und gibt Schritt um Schritt nach. Schließlich, Sie kennen oder ahnen es, befindet sich das Kamel ganz im Zelt und der Reisende befindet sich ganz draußen.
Ich erzähle die Geschichte anders. In meiner Variante verhandelt der Reisende gar nicht. So wie ich die Geschichte erzähle, ist der Reisende zuerst mit sich selbst beschäftigt, und was das Kamel sagt, so der Reisende es denn wahrnimmt, ist ihm wenig mehr als weiterer Anlass für Selbstgespräche.
»Das Kamel hat gewiss viel gelitten«, dachte sich der Reisende, »wenn ich auf diese Weise die linke Augenbraue hochziehe, dann zeige ich mich am Schicksal des Kamels interessiert.«
Das Kamel hatte schon den Kopf samt beider Ohren im Zelt und den halben Hals auch, und es hatte Erklärungen anbieten wollen, warum es auch den Rest des Halses ins Zelt schieben sollte, doch es war gar nicht notwendig – der Reisende hörte nicht zu, so sehr war er damit beschäftigt, ob seine Augenbrauen den angemessenen Ausdruck anzeigten.
»Der Reisende ist verrückt geworden«, dachte das Kamel bei sich, »das ist mir zu einfach!« – Und da wandte sich das Kamel direkt an den Reisenden, und es sagte ihm ins Gesicht: »Ich werde dein Zelt übernehmen! Du wirst draußen schlafen, und das Zelt wird mir gehören!«
Der Reisende indes war mit Haut und Augenbrauen in seinen Selbstgesprächen versunken. Er hörte die Ankündigung des Kamels nur durch den Nebel seiner inneren Akrobatik. In seinem merkwürdigen Zustand hörte der Reisende nicht die Bedeutung der Worte, sondern überlegte lieber, was die angemessene Reaktion seiner Augenbrauen darauf wäre.
Wie geht die Geschichte weiter und wie geht sie aus? Wir werden es bald erfahren – bleiben Sie gespannt! – doch wir unterbrechen für etwas aktuelle Nachrichten!
Beim sozialdemokratischen Schlossherrn
Es gibt diese Art von Politikern, deren Name taucht schon mal auf, wenn es um schmutzige Angelegenheiten geht, und wenn sie später danach befragt werden, sind sie plötzlich von Erinnerungslücken erfasst. Was halten Sie von solchen Politikern? Herr Steinmeier von der SPD erinnert sich auch manchmal an Dinge nicht, obwohl sie total wichtig waren (siehe z.B. faz.net, 21.3.2016).
Dieser Herr Steinmeier also, der Mann, der 2014 als »Doppelagent Steinmeier« bezeichnet wurde (heise.de, 5.4.2014, da war er noch nicht Bundespräsident), der den zukünftigen US-Präsidenten Trump als »Hassprediger« beleidigte (cicero.de, 4.11.2016), der macht heute nicht nur Werbung für eine linksradikale Hassband, er lädt auch erst die Erdoğan-Fans Özil und Gündoğan zur Absolution ein (siehe z.B. achgut.com, 6.9.2018) – und jetzt erweist er Erdoğan persönlich die Ehre und gibt am Freitag ein »Staatsbankett zu Ehren des Präsidenten der Republik Türkei, Recep Tayyip Erdoğan« im Schloss Bellevue (welt.de, 23.9.2018).
Die Stippvisite beim »sozialdemokratischen Schlossherrn« (welt.de, 11.12.2017: »Berliner SPD präsentiert künftigen Bundespräsidenten als Parteisoldaten«) wirkt wie der Auftakt zum eigentlich wichtigen Ereignis des Erdoğan-Deutschlandkurzausflugs. Der Besuch bei Steinmeier ist für Erdoğan mehr Vorspeisenteller als Hauptgericht, mehr Pansensuppe als Lammkotelett.
Es ist im Grunde eine Schande
Aus der Rede des FDP-Fraktionsvorsitzenden im Kölner Rat, Dezember 2004:
Eine repräsentative Moschee, mit der sich Muslime im Stadtbild identifizieren, findet man heute schon in vielen Kleinstädten in Deutschland. Es ist im Grunde eine Schande, dass es uns bisher in Köln nicht gelungen ist, unser Stadtbild mit einem solchen Bauwerk zu schmücken. (…) Wir müssen es bis zur Kommunalwahl 2009 schaffen, (…) diese Moschee in Köln zu bauen und allen Bedenkenträgern, die es geben mag, zu zeigen, dass das christliche Abendland in Köln nicht untergehen wird, wenn wir den Muslimen in Köln erlauben, eine repräsentative Moschee zu bauen. (…) Wir wollen die Muslime aus den Hinterhofmoscheen herausholen; wir wollen ihnen die Chance geben, sich im Stadtbild wiederzufinden. Deswegen bin ich froh, dass wir gleich mit breiter Mehrheit im Rat den vorgelegten Antrag von PK ablehnen werden und damit ein starkes Zeichen für den Bau einer Moschee in Köln setzen. (fdp-koeln.de, 16.12.2004 / archive.is)
Damals war Ditib offiziell nur einer von mehreren Vereinen und Initiativen, welche das Projekt einer Kölner Großmoschee anpeilten, doch es ging alles seine kölsch-türkischen Wege. Am 28.8.2008 stimmte der Kölner Rat mit den Stimmen von SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen für die Änderung des Bebauungsplans und damit für den Bau der Großmoschee in Ehrenfeld. Auch der damalige CDU-Bürgermeister Fritz Schramma stimmte dafür, der Rest der Kölner CDU sowie Pro Köln stimmten dagegen (welt.de, 29.8.2008).
Am 9.11.2009 wurde der Grundstein zur Großmoschee in Ehrenfeld gelegt, in Anwesenheit von Ehrengästen wie Werner Hoyer (FDP, damals Staatsminister im Auswärtigen Amt) sowie Erdoğans Minister für im Ausland lebende Türken, Faruk Çelik (welt.de, 7.11.2009: »Wat ham mer he ne schön Moschee in Kölle«). 2012 sollte sie eröffnet werden. Es würde etwas länger dauern, bis es so weit sein würde.
Gehen wir ein paar Jahre weiter im Kalender: Der tagesspiegel.de, 3.8.2016, titelt: »Moscheeverband Ditib: Der lange Arm Erdoğans in Deutschland«. Die FDP will »Konsequent gegen Ditib-Spionage vorgehen« (fdp.de, 15.2.2017) und » kündigt „knallharte Auseinandersetzung“ mit Verband an« (derwesten.de, 19.6.2017).
Ein Gedicht
Der heutige türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan saß von März bis Juli 1999 im Gefängnis. Er war verurteilt worden, weil er in der damals noch laizistischen Türkei ein Gedicht von Ziya Gökalps zitierte. Die zitierten Zeilen kommen übrigens gar nicht im Original des Gedichts vor. Sie lassen sich so übertragen.
Minarette sind Bajonette, Kuppeln sind Helme,
Moscheen sind unsere Kasernen, Gläubige sind Soldaten
Am Samstag wird Recep Tayyip Erdoğan die Kölner Zentralmoschee in Köln eröffnen (siehe z.B. ksta.de, 25.9.2018). Sie hat zwei Minarette die jeder 55 Meter hoch sind und eine 35 Meter hohe Kuppel, der Gebetsraum bietet Platz für 1.200 Gläubige (zentralmoschee-koeln.de).
Soviel zu den Nachrichten des Tages, kommen wir …
… zurück zur Geschichte
Wir haben eben noch die Geschichte vom Kamel und dem Reisenden erzählt. Zur Erinnerung: Im Verlauf des Originals verhandelt das Kamel mit dem Reisenden, in meiner Variante ist der Reisende nur noch mit dem emotionalen Spiel seiner eigenen Augenbrauen beschäftigt (er sucht nach ihrer richtigen »Haltung«); das Ende meiner Geschichte vom Kamel und dem Reisenden ähnelt auf den ersten Blick dem Ende des Originals: am Morgen schläft das Kamel im Zelt und der Reisende findet sich draußen wieder. – Allerdings und das gebe ich gern zu, ist mein Ende der Geschichte weniger befriedigend als das Ende des Originals!
In beiden Fällen hat der Reisende eine Dummheit begangen, doch im Original sieht der Reisende seinen Fehler ein; er ärgert sich über sich selbst, und dass er sich ärgert, das gibt uns als Leser gewisse Befriedigung und auch Erleichterung. Mein Ende der Geschichte vom Kamel und dem Reisenden ist leider frustrierender.
Ich erzähle das Ende so: Der Reisende ist über Nacht verrückt geworden; es stört ihn gar nicht, dass das Kamel im Zelt ist und er draußen. Der Wüstensand beißt den Reisenden in die Augen, die Kälte der Nacht lässt ihn zittern, doch der Reisende merkt das nicht mehr, denn er ist verrückt, und das einzige, was er sich noch fragt, ist die Haltung seiner Augenbrauen richtig. Wir wissen nicht, was aus dem Reisenden wird, denn – seien wir allezeit ehrlich – wer interessiert sich schon für das Schicksal der Verrückten? Nicht einmal sie selbst.
Ich atme tief ein
Ich bin in den Straßen Kölns zu dem geworden, was ich heute bin. Ich kann mich erinnern, als ich einige Semester lang woanders studierte und am Wochenende nach Köln heimfuhr, und wie jedes Mal mein Herz schneller schlug,wenn ich mich Köln näherte, lange bevor »Köln Hauptbahnhof« diese neue, zweite Bedeutung hatte, und dass ich nervös wie ein kleiner Hund an der Tür des Zugs wartete, und wie ich dann aus dem Zug sprang auf den Bahnsteig, und mich umsah: der Rhein floss noch, das Museum Ludwig hatte wieder eine neue Ausstellung und der Dom wartete, dass ich ihm endlich wieder Hallo sagte.
Jedes einzelne Mal, wenn ich nach Köln zurückkomme, summe ich ein Lied, das gar nicht für oder über Köln geschrieben wurde.
Ich bin wieder hier.
in meinem Revier,
war nie wirklich weg,
hab mich nur versteckt-
Ich rieche den Dreck,
ich atme tief ein,
und dann bin ich mir sicher
wieder zu Hause zu sein.
Heute ist jener Sänger alt und er sagt die Dinge, welche die Linken und Mächtigen eben so hören wollen. Sei es drum, es stört mich nicht, sein Werk ist großartig und seiner Lieder sind Hymnen.
Man muss unterscheiden zwischen dem Gläubigen und der Organisation, die den Glauben bewerkstelligt. Ich habe eine simple Frage an die Kölner: Wie falsch wäre es, von der Ehrenfelder Zentralmoschee als »Erdoğans Kaserne« zu reden? Haben Sie Argumente dagegen, welche über »wer denkt, ist Populist« hinausgehen?
Da ist in Köln Stau
Der Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Ralph Giordano hat früh vor Ditib und der Kölner Zentralmoschee gewarnt.
Giordano wurde für seine Mahnungen derart übel beschimpft, dass man fest meinen konnte, Gutmenschen seien die geistigen Nachfolger der Gestapo-Schergen, die damals Giordano verhaftet und misshandelt hatten.
Giordano ist tot. Die Ditib lebt und die Zentralmoschee steht. Giordano liegt auf dem Kölner Südfriedhof, etwa 15 Autominuten von der Zentralmoschee entfernt, außer Freitags, da ist in Köln Stau, um die Moschee herum sowieso (nicht aber um die Synagoge, da steht zwar Polizei, vor allem zum Schutz vor Israelkritikern, aber Stau ist in der Roonstraße selten).
In welt.de, 26.2.2017 lesen wir: »Es scheint immer mehr so, als ob die Ditib alles tut, um Ralph Giordano posthum recht zu geben.«
Ans Ende ihrer Tage
Ein letzter Sprung im Erzählstrang: Wir kommen noch einmal zur Geschichte vom Kamel und dem Reisenden.
Jene Erzählung bricht regelmäßig ab, nachdem das Kamel im Zelt und der Reisende draußen ist, es soll ja als Mahnung dienen.
Selbst wenn diese Geschichte mit »und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage« endete – was angesichts der Ereignisse zunächst einmal unwahrscheinlich wirkt – so wäre die spannende Frage doch, wie sie das anstellten! Gibt es Hoffnung, und wenn ja, wo und wie?
Was tut der Reisende, nachdem er sich vorm eigenen Zelt wiederfindet? Und das Kamel, bleibt es für immer im Zelt und ist zufrieden, oder frisst es die Vorräte des verrückt gewordenen Reisenden auf und zieht weiter, um sich einem anderen Reisenden anzudienen?
So viele Fragen, so wenige Möglichkeiten, doch ich fürchte, dass das andere Geschichten für eine andere und klügere Zeit sind.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.