Tichys Einblick
Realitätsverlust bis zum Blackout

Die große vollelektrische Bundesillusionsmaschine

Es ist wieder einmal Energiewende-Zeit: Politiker überschlagen sich mit Ideen, russische Gas-Importe zu kappen. Ihre Pläne bestehen aus Überschriften, zu denen der Text fehlt. Nach diesem Prinzip arbeiten deutsche Energiepolitiker schon seit 20 Jahren – als Fachkräfte für den Bau von Luftschlössern.

© Getty Images

Kaum etwas wächst derzeit so deutlich exponentiell wie die Zahl der Politiker, die Deutschland in die „Energiesouveränität“ (Ricarda Lang) führen wollen. Darunter finden sich nicht nur Vertreter mit relativ kurzer Amtszeit wie die Grünen-Vorsitzende, sondern auch altgediente, etwa Norbert Röttgen, ehemals Bundesumweltminister und langjähriger Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Deshalb drängt sich die Frage auf, warum die mit ihren Ideen so lange hinter dem Berg hielten.

Im „Tagesspiegel“ veröffentlichte Röttgen eines Beitrag, in dem er wie eine lange Reihe anderer Politiker, Journalisten und öffentlicher Figuren wie Stefan Rahmstorf vom Potsdam Institut einen sofortigen Stopp der Energieimporte aus Russland fordert. Der Aufruf des CDU-Politikers kommt ganz ohne Zahlen aus und liest sich in seiner Kernaussage so:

Screenshot: Tagesspiegel

„Der Krieg ist ein Geschäftsmodell für Putin, und wir finanzieren es! Also worauf warten wir noch? Wie viele bombardierte Städte sind genug? Wie viele Menschen müssen sterben, bevor wir beginnen zu handeln?

Ich bin überzeugt: Das Öl- und Gasembargo wird kommen. Wir können die ausbleibenden Gaslieferungen durch unsere Gasvorräte bis zum nächsten Winter ersetzen. Bis dahin haben wir Zeit und Möglichkeiten, unsere Energiepolitik neu auszurichten.

Ich appelliere an die Bundesregierung: Wir müssen die russischen Gas- und Ölimporte jetzt stoppen!“

Bisher bezieht Deutschland gut 55 Prozent seines Erdgases und 42 Prozent seines Öls aus Russland. Dafür zahlte es 2021 etwa 20 Milliarden Euro. Interessanterweise nennt Röttgen in seinem Text zwar Gas und Öl, geht aber bei der Frage, wie diese Mengen seiner Meinung nach kurzfristig ersetzt werden sollten, ausschließlich auf Gas ein. Zu alternativen Lieferungen von Öl äußert er sich überhaupt nicht.

„Wir beherrschen die Lage“ – Röttgen im Jahr 2012

Seine Idee zur künftigen Gasversorgung besteht darin, siehe oben, als Ersatz für die russischen Lieferungen einfach die deutschen Gasvorräte zu verbrauchen, und ansonsten „die deutsche Energiepolitik“ innerhalb von acht Monaten „neu auszurichten“. In acht Monaten beginnt nämlich der von ihm immerhin erwähnte nächste Winter.

Im Februar bestand der Füllstand der Gasspeicher in Deutschland etwa 33 Prozent, was 33,3 Milliarden Kubikmetern entspricht. Die aus Russland 2021 importierte Gasmenge, hauptsächlich zugeführt über zwei Pipelines, belief sich auf 56,3 Milliarden Kubikmeter. Es braucht also keine detaillierte Rechnung, um festzustellen, dass der Röttgen-Plan nicht ganz aufgeht.

In dem größten Gasspeicher Westeuropas, in Rehden, der Gazprom gehört, gab es schon im Dezember 2021 kaum noch Reserven.

Insgesamt sah es in der EU etwas, aber nicht sehr viel besser aus.

Dazu, wie er sich die völlige Umstellung der deutschen Energiepolitik binnen 32 Wochen im Detail vorstellt, und vor allem, wie sie dann aussehen soll, verliert Röttgen in seinem „Tagesspiegel“-Beitrag ebenfalls kein Wort.

Dafür gibt er seiner „festen Überzeugung“ Ausdruck, ein Boykott von russischem Gas und Öl sei unumgänglich. Die vergangenen festen Überzeugungen Röttgens und ihre weiteren Entwicklungen kann jeder in den Archiven nachschlagen. In einem „SPIEGEL“-Interview unter dem titelgebenden Zitat „Wir beherrschen die Lage“ sagte er 2012 voraus: „Es dauert nicht mehr lange, dann brauchen Solaranlagen gar keine Subventionen mehr.“

In dem gleichen Interview erklärte er allerdings, er werde die Subventionen für die Solarenergie aber nicht zu stark kürzen: „Dann wäre alles umsonst gewesen. Es käme zu massiven wirtschaftlichen Verlusten und zum Abbau von Arbeitsplätzen.“

Bekanntlich existiert die deutsche Solarindustrie heute nicht mehr, im Gegensatz zu den EEG-Subventionen. Im vergangenen Jahr erhielten die Erzeuger von Wind-, Solar- und Pflanzengas-Strom laut Bundesnetzagentur insgesamt 34 Milliarden Euro. Davon stammten 7,2 Milliarden aus dem direkten Verkauf an der Strombörse – und 26,8 Milliarden aus der von Verbrauchern gezahlten EEG-Umlage zuzüglich eines Bundeszuschusses von 10,8 Milliarden Euro. Ohne den Bundeszuschuss wäre die EEG-Umlage 2022 auf 9,651 Cent pro Kilowattstunde gestiegen.

Auch in einem Detail wie dem EEG-Aufschlag lohnt sich ein Blick zurück, um die Prognosefähigkeit des Politikers einzuschätzen. Im Jahr 2011 erklärte Röttgen der „Rheinischen Post“: „Im nächsten Jahr könnte die EEG-Umlage im Vergleich zum laufenden Jahr wieder sinken. Das wird den Anstieg der Strompreise dämpfen.“ In dem folgenden Jahr stieg die Umlage dann, statt zu sinken. Zunächst moderat auf 3,59 Cent. Diese Steigerung erwies sich als viel zu gering, um die Ansprüche der Wind-, Solar- und Biogasstrom-Erzeuger abzudecken, weshalb die Bundesnetzagentur im Jahr 2013 die Umlage um 47 Prozent auf 5,28 Cent pro Kilowattstunde erhöhen musste. Zu ihrem aktuellen Stand: siehe oben. Ab 2023 sollen die Grünstromsubventionen komplett aus dem Bundeshaushalt fließen, damit sie den Verbrauchern auf der Stromrechnung nicht mehr auffallen.

In dem SPIEGEL-Interview lobte Röttgen damals auch den deutschen Atomausstieg als Vorbild für alle anderen Staaten: „Aber ich weiß, dass die Welt mit höchster Aufmerksamkeit auf die Energiewende in Deutschland schaut. Das Interesse ist riesengroß, und wenn ein Industrieland wie Deutschland die Wende schafft, dann wird das seine Strahlkraft entfalten, da bin ich ganz sicher.“

Im Atomausstiegsjahr 2011 importierte Deutschland etwa 30 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Russland. Im Jahr 2021 waren es mit 56,3 Milliarden Kubikmetern fast doppelt so viel. Wenn Strahlkraft so etwas wie Auswirkung bedeuten soll, dann lässt sich diese Wirkung vor allem an dieser Zahl ablesen. Der Effekt des deutschen Atomausstiegs auf das Globalklima des Jahres 2100 liegt faktisch bei Null, obwohl er einen zusätzlichen Ausstoß an CO2 zur Folge hat – der aber im Weltmaßstab keine Rolle spielt. Seine wirtschaftliche und geopolitische Strahlkraft ist allerdings gewaltig.

Die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas kam nicht über Nacht, und Röttgen verantwortete sie auch nur als einer von mehreren, und das an untergeordneter Stelle. Trotzdem gibt es durch den Blick zurück etwas für die Gegenwart zu lernen. Denn in dieser Gegenwart legt ein Wir-beherrschen-die Lage-Röttgen, der die aktuelle Misere mitverantwortet und seit mehr als zehn Jahren zuverlässig von einer falschen Prognose zur nächsten Illusionsvorstellung stolpert, seinen nächsten Doktor-Eisenbarth-Generalplan vor, dieses Mal für beziehungsweise gegen Gas. Und er findet dafür ein Medium als willigen Abnehmer.

Die Überschriften-Politiker und ihre medialen Abnehmer

Die Person des Unionspolitikers selbst ist nicht wichtig. Mit Röttgen befasst sich dieser Text deshalb so detailliert, weil er den Prototyp des Politikers verkörpert, der zwar nie irgendeine Lage, aber inzwischen die Berliner Szene beherrschte: ein Mandatsträger, der ausschließlich in Überschriften spricht, aber nie den Text liefert, der dann folgen müsste. Von Fußnoten ganz zu schweigen.

Es gehören immer zwei dazu: Jemand wie Röttgen, der einen ausschließlich aus Überschriften und Textbausteinen hastig zusammengestoppelten Text als Plan für ein Deutschland präsentiert, das ohne Energieimporte aus Russland auskommen soll – und ein „Tagesspiegel“-Redakteur, der ihn entgegennimmt, ohne wenigstens einmal nachzusehen, wieviel Gas sich tatsächlich in den Speichern befindet, die der Umweltminister a. D. ernsthaft als Ersatz für russische Gaslieferungen von gut 60 Milliarden Kubikmetern vorschlägt, und ohne einen Gastautor außerdem mit der Frage zu behelligen, ob er es wirklich für eine gute Idee hält, dann mit völlig geleerten Vorratslagern in den nächsten Winter zu gehen.

Durch ihre Kopplung an die Medien und Twitter – übrigens auch eine Abhängigkeit, die sie nicht einfach wieder abschütteln können – haben sich praktisch alle Politiker auf das Stanzen von Überschriften konditioniert. Wer es dann doch einmal mit Text versuchen sollte, dem fällt die Talkshow-Moderatorin mit absoluter Sicherheit ins Wort mit der Ermahnung, jetzt verliere sich der Gast aber in Details, dazu reiche die Sendezeit nicht aus. Und bei Twitter handelt es sich um das Überschriftenmedium für Politiker schlechthin.

Robert Habeck, Röttgen und praktisch jedes Mitglied des Berliner Kommentariats unterbreitet jetzt Pläne, um die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl schnellstmöglich zu beseitigen. Immerhin nehmen sie diese Abhängigkeit überhaupt zur Kenntnis. Noch bis vor Kurzem galt es schließlich bei ehemals führenden Politikern und ihren medialen Trabanten als ausgemacht, dass dieser missliche Zustand überhaupt nicht existiert.

https://www.reuters.com/article/nordstream-eu-merkel-idDEKCN1PW1JZ

Eine Szene in der UN-Vollversammlung von 2018 ging seinerzeit mit großer Zustimmung durch die deutschen Medien und sozialen Netzwerke: Auf den Hinweis des Redners Donald Trump, Deutschland begebe sich mit seiner Energiepolitik in die Abhängigkeit von Russland, reagierten Außenminister Heiko Maas und der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen mit Gelächter und Kopfschütteln.

Sie wussten, was auch jeder deutsche Qualitätsjournalist wusste: Wenn Trump etwas sagt, kann es unmöglich stimmen. Es handelt sich, siehe oben, um die gleichen Journalisten, die jetzt gerade jedem Überschriften-Politiker die Spalten freiräumen, der erklärt, diese Abhängigkeit – bis eben noch ein Hirngespinst – mit dem nächsten Masterplan aus der Welt zu schaffen. Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der gerade einen Themenwechsel vom Corona- zum Energieminister vornimmt, konnte kürzlich in der FAZ seine Strategie vorstellen: Deutschland muss einfach ganz raus aus Gas, Atom und Kohle.

Screenshot: FAZ

Es handelt sich im Wesentlichen um die gleiche Vorstellung, mit der Wirtschaftsminister Robert Habeck gerade die Lage beherrscht. Nachdem er für einige Tage mit seinem Satz, es dürfe jetzt „keine Denktabus“ geben, zu der Spekulation geführt hatte, er könnte einer Laufzeitverlängerung der letzten drei verbliebenen deutschen Kernkraftwerke über das Jahresende 2022 zustimmen, schloss er diese Tür gleich wieder. So viel Realitätssinn ist der Grünen-Wählerschaft offenbar nicht zu vermitteln, ebenso wenig wie den Großkommentatoren in den meisten Medien.

Die neue Überschrift aus Habecks Ministerium heißt jetzt „All Electricity“; von Verkehr bis Gebäudeheizung soll künftig alles im Eiltempo auf Strom umgestellt werden, was bis jetzt noch Gas und Öl braucht. Zusammengefasst bedeutet sein Lagebeherrschungsplan also, gleichzeitig alles zu elektrifizieren und alle grundlastfähigen Quellen zur Stromproduktion abzuschalten.

Immerhin stellte der Wirtschaftsminister fest, die Bundesrepublik könnte nicht von jetzt auf gleich auf russische Energieimporte verzichten. Das würde den „sozialen Frieden gefährden“, also eine Gas- und Ölrationierung unumgänglich machen. Mit diesem Maß an Wirklichkeitsnähe macht sich Habeck bei seinem Anhang schon verdächtig. Mehr dazu weiter unten.

Das Grundprinzip der Energiepolitik: „Die Arbeit machen die anderen“

In der politisch-medialen Rückkopplungsdebatte ist selten von Primärenergieverbrauch die Rede, der die Bereiche Elektrizität, Wärme und Mobilität umfasst. Erst ein Blick auf diese Zahlen zeigt, was der Ausstieg aus Gas, Öl, Kohle und Atomkraft bedeuten würde. Im Jahr 2021 deckten die erneuerbaren Energien 16,1 Prozent des Primärenergiebedarfs. Vielen, die gerade ganz neue radikale Pläne entwerfen, ist die derzeitige Lage gar nicht bewusst: Nach mehr als 20 Jahren Subventionierung mit mehreren hundert Milliarden Euro decken die erneuerbaren Energien tatsächlich nur wenig mehr als 15 Prozent des deutschen Gesamtenergiebedarfs. Und das auch nur im Jahresschnitt; an manchen nebligen Wintertagen tragen alle Anlagen zusammen weniger als fünf Prozent zur Stromerzeugung und weniger als ein Prozent zum Primärenergiebedarf bei.

Die Idee Habecks, Lauterbachs und anderer läuft also darauf hinaus, die restlichen 83,9 Prozent der Energieerzeugung innerhalb kürzester Zeit abzuschaffen – den 55-Prozent-Anteil am Gas und 42-Prozent-Anteil am Öl, also den Import aus Russland praktisch sofort – und ihn durch den Ausbau von Wind- und Solarenergie und ein wenig Import zu ersetzen.

Zu dem Plan, den Habeck in dieser Woche vorstellte, gehört unter anderem ein Ausbau der Solarenergie-Kapazität Deutschlands auf 200 Gigawatt bis 2030. Auch diese Zahl wird von den meisten Medien ohne jede Bezugsgröße kolportiert. Die gesamte installierte Solarenergie-Leistung in Deutschland, entstanden in 21 Jahren, liegt bei gut 59 Gigawatt. Der Zubau betrug im vergangenen Jahr 5,25 Gigawatt.

Habecks Vorhaben würde also bedeuten, innerhalb von acht Jahren mit 141 Gigawatt mehr als das Doppelte von dem aus dem Boden zu stampfen, was bisher überhaupt an Kapazität existiert. Dafür müsste sich die Zubaugeschwindigkeit ab morgen mehr als verdreifachen. Bis ebenfalls 2030 sollen nach den Plänen der Bundesregierung 6 Millionen Wärmepumpen installiert werden. Die Monteure sowohl für Solaranlagen als auch Wärmepumpen kommen aus der gleichen Branche. Nach Schätzungen von Helmut Bramann, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes Heizung und Sanitär, fehlen in diesem Bereich gemessen an den Plankennzahlen aus Berlin etwa 60.000 Monteure. Bei seinem Auftritt vor der Bundespressekonferenz Ende 2021 sagte Robert Habeck, angesprochen auf das Problem, dass es die Arbeitskräfte für seinen Ausbauplan gar nicht gibt:

„Als Wirtschaftsminister mache ich mir große Sorgen, dass all das, was wir uns vornehmen, am Ende an der Verfügbarkeit von Fachkräften scheitert. Das Problem ist lange bekannt und gehört mit zu den Dingen, die jetzt mit Hochdruck und viel stärker als in der Vergangenheit angegangen werden müssen.“

Als Lösung schlug er unter anderem vor: Umschulung und Zuwanderung. Das Experiment, wie gut sich Leute mit Sozialwissenschafts-, Gender- und Medien-Diplomen zu Monteuren umdirigieren lassen, steht noch aus. Aber nach einer von seiner Partei sehr umfangreich begrüßten Asylzuwanderung von mehr als zwei Millionen Menschen seit 2015 hätte ihn wenigstens jemand fragen können, warum heute trotzdem derartige Facharbeiterlücken im Land klaffen. Und wieso er glaubt, neue Zuwanderung aus überwiegend den gleichen Herkunftsländern würde sein Problem im Handumdrehen lösen. Denn das große Installationswerk soll ja 2030 schon abgeschlossen sein.

Auch das Rechnen in installierter Leistung gehört zum Kernbereich der überschriftengetriebenen deutschen Energiepolitik. Dabei entgeht den jeweils amtierenden Planern, dass es keine große Rolle spielt, ob 33.000 oder 100.000 Windräder in der Flaute stillstehen, ob eine installierte Solarleistung von 59 oder 200 Gigawatt unter einer Winter-Hochnebeldecke im Halbdunkel liegt und nachts überhaupt nichts liefert. In dem Bericht der Bundesnetzagentur finden sich Zahlen, die sehr aktuell zeigen, welchen Schwankungen eine wetterabhängige Energieversorgung unterliegt. Obwohl es 2021 mehr Windkraftanlagen als 2020 gab, ging die Stromerzeugung aus Wind demnach im vergangenen Jahr um 16,4 Terawattstunden zurück, weil der Wind schwächer wehte. „Vor allem die Stromerzeugung aus Windenergieanlagen an Land lag um über 20 Prozent unter dem Vorjahreswert“, heißt es in dem Bericht der Agentur.

Nennenswerte Speichermöglichkeiten existieren nicht. Es wird sie auch in den kommenden Jahren nicht geben. Selbst die Stromtrassen, die Windstrom vom Norden in den industriell geprägten Süden transportieren sollen, befinden sich noch auf Jahre im Bau.

Die Aushilfsidee der Politiker, die immerhin verstanden haben, dass ein Industrieland bei einem Verzicht auf Atom und Kohle wenigstens Gas benötigt, das aber jetzt nicht mehr aus Russland kommen soll, besteht darin, dann eben mehr verflüssigtes Erdgas (Liquified Natural Gas, kurz LNG) einzukaufen, das auf Schiffen transportiert wird. Auch hier gibt es – vom Preis bei kurzfristigem Einkauf einmal abgesehen – sogenannte begrenzende Faktoren. Wichtigster Lieferant für LNG ist derzeit die USA (wobei die EU neben Pipeline- auch Flüssiggas aus Russland bezieht, das dann ebenfalls ersetzt werden müsste).

Nach Angaben der US Energy Information Administration liegen die Exportkapazitäten des Landes derzeit bei 11,4 Milliarden Kubikfuß pro Tag (ein Kubikmeter entspricht 35,31 Kubikfuß); bis Ende 2022 soll diese Kapazität auf 13,9 Milliarden Kubikfuß steigen. Ebenfalls nach Angaben der eia lieferten die USA im Januar 2022 mit Tankern den Rekordwert von 6,5 Milliarden Kubikfuß pro Tag an die EU. Die größten Einzelabnehmer von amerikanischem LNG liegen allerdings bislang nicht in Europa, sondern in Asien. Im Jahr 2021 gingen 13 Prozent der amerikanischen LNG-Exporte nach Südkorea, 13 Prozent nach China und 10 Prozent nach Japan. Das heißt: Die Exportkapazitäten der USA sind auf absehbare Zeit weitgehend ausgereizt. Deutschland könnte wahrscheinlich kurzfristig kleinere Mengen zusätzlich einkaufen – aber unmöglich zusätzliche 60 Milliarden Kubikmeter jährlich.

Dann, so eine Vorstellung aus dem Bundeswirtschaftsministerium, könnte Deutschland eben auch aus Quatar mehr Flüssiggas beziehen. Quatar – war das nicht eben das Land, in dem die Menschenrechtslage so schlecht ist, dass nach Ansicht vieler wohlmeinender Deutscher die Fußball-WM dort boykottiert werden sollte?

Ein weiterer begrenzender Faktor besteht darin, dass Deutschland noch nicht einmal über einen eigenen LNG-Terminal verfügt, sondern die Anlagen in Rotterdam und im polnischen Swinemünde mitnutzen muss. Es gibt in Europa kein zweites Land, das über eine derartige Dichte an Gaskraftwerken verfügt – aber über keinen einzigen eigenen Hafen für Flüssiggas.

Wenn es eine ungeschriebene, aber ausnahmsweise einmal zutreffende Überschrift für die deutsche Politik allgemein und die Energiepolitik im Besondern gibt, dann der Satz von Helmut Schelsky: „Die Arbeit machen die anderen.“ Angela Merkel perfektionierte das Prinzip, dass es völlig ausreicht, wenn Nachbarländer Atomkraftwerke betreiben und sogar ausbauen, wenn das Nachbarland Polen seine Kohlekraftwerke einstweilen behält, wenn die USA und Polen über eine einsatzfähige Armee verfügen, wenn andere Länder Fracking praktizieren (mit dieser Technologie nämlich wird das US-Flüssiggas gefördert), und andere Staaten LNG-Ports betreiben.

Als Stütze für dieses ideologiestarke, aber sehr windschiefe Gebäude dient Gas aus Russland, von dem Merkel die Bundesrepublik abhängig machte. Jetzt ahnen Amtsträger wie Habeck, was passieren würde, wenn jemand diese Stütze von heute auf morgen wegschlägt.

Deutschlands Energiepolitik der vergangenen 20 Jahre verlief erratisch, ruckartig, mit immer neuen Kehrtwenden: Atomausstieg, damals mit Merkels ausdrücklichem Versprechen, die konventionelle Energieerzeugung zu stärken, dann Kohleausstieg mit Gas als „Brückentechnologie“, jetzt Abriss dieser Brücke, sofern ihre Bestandteile aus Russland stammen. Andererseits zieht sich stilistisch ein roter Faden durch die gesamte Energieplanung. Von Jürgen Trittins Kugel Eis, die das Unternehmen eine Familie pro Monat kosten sollte, über Norbert Röttgens subventionsfreie Solarenergie samt blühender deutscher Photovoltaik-Industrie bis zu der Praxis, mit französischem Atomstrom und russischem Gas die immer größeren Lücken zu stopfen: Immer handelte es sich um Großpläne, um mediengängige Überschriftensammlungen, „mega-ambitionierte Programme“ (Robert Habeck), die immer wieder aus den gleichen Gründen innerhalb kurzer Zeit zu Staub zerfielen wie ein Vampir, den ein Tageslichtstrahl trifft.

Jede deutsche Energiepolitik der vergangenen zwanzig Jahre begann damit, erst einmal den Kontakt zur Realität zu kappen. Und das ging und geht immer noch nicht ohne eine Mithilfe zahlreicher Medien.

Die WELT gehört sicherlich zu den noch realitätsfreundlichen unter den alteingesessenen Zeitungen, ihre Klima- und Energieberichterstattung zählt zu den soliden der Branche. In dem Blatt erschien ein Gastbeitrag, dessen Textsorte nicht ganz ersichtlich ist. Es könnte sich um einen ernstgemeinten Artikel handeln, aber auch um eine dann allerdings brillante Parodie auf den deutschen Begleitjournalismus, der die Überschriftenpolitik überhaupt erst ermöglicht hat. In diesem Text erklärt die Autorin namens Olivia Mitscherlich-Schönherr, Robert Habeck sei mutlos, wenn er feststellt, Deutschland könnte nicht sofort auf russisches Gas verzichten.

Screenshot: WELT

Zahlen vermeidet sie genau so konsequent wie Norbert Röttgen, sie macht sich im Gegensatz zu ihm noch nicht einmal die Mühe, sich irgendeinen realitätsfernen Ersatz für Putins Gas und Öl auszudenken. Olivia Mitscherlich-Schönherr zufolge soll Deutschland den Verzicht einfach als Gewinn betrachten – denn er führt zu einer wohltuenden wirtschaftlichen Depression.

„Bei näherer Betrachtung“, heißt es in ihrem Text, der überhaupt nichts näher betrachtet, „zeigt sich, dass wirtschaftliches Schrumpfen gerade auch eine Chance für langfristigen sozialen Frieden in unserem Land darstellen kann – wenn es denn richtig gestaltet wird.“

Kalte Wohnungen, Stromsperren, Zusammenbruch von Lieferketten, da Gas im erheblichen Maß auch in der Grundstoffindustrie benötigt wird – das alles stärkt ihrer Ansicht nach den sozialen Frieden, jedenfalls bei richtiger politischer Gestaltung, zu der sie sich selbstredend auch jeden näheren Hinweis spart. Frau Mitscherlich-Schönherr lehrt laut WELT in München „Philosophische Anthropologie Schwerpunkt auf Grenzfragen des Lebens“.

Screenshot: WELT

Sollte in Deutschland jemals eine Ethikkommission zum Ausstieg aus der Industriegesellschaft berufen werden, kommt niemand mehr an dieser Fachkraft vorbei. In dieser Branche herrscht generell kein Personalmangel.

Alles in allem ist es ein Verdienst der WELT, diesen Text gedruckt zu haben. Denn die Schrumpfungsanthropologin gehört zu einem nicht ganz kleinen Kreis aus Politikern, Medienvertretern und akademischen Stichwortgebern, der den deutschen Illusionsapparat in nimmermüdem Schwung hält – wahrscheinlich bis zum Blackout. Aber selbst danach läuft die Maschinerie garantiert schnell wieder auf gewohnten Touren.

Jeder, der eine halbwegs realistische Energiepolitik in Deutschland durchsetzen will, müsste von der ersten Minute an gegen dieses Konsortium ankämpfen, in dem es geradezu verpönt ist, sich für Zahlen zu interessieren, für technische Möglichkeiten und für physikalische Grenzen.

Es wäre nicht unmöglich, das wacklige deutsche Energiegebäude einigermaßen zu befestigen. Nicht sofort, aber in mehreren Schritten. Der erste besteht sicherlich darin, die verbliebenen drei Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen. Damit würde schon einmal verhindert, dass die zusätzlichen Importe an Flüssiggas, die möglich sind, gleich wieder für die Kompensation der grundlastfähigen Energie verbrannt würden, die nach der Abschaltung auch der letzten Atommeiler fehlt. Mit zusätzlichen LNG-Lieferungen ließe sich der Anteil russischen Erdgases immerhin leicht reduzieren.

Zum Energierealismus zählt auch das Eingeständnis, dass ein Totalboykott russischer Gas- und Öllieferungen in Deutschland größere Wunden schlagen würde als bei Putin. Das gehört nun einmal zu den Konsequenzen der Schröderschen und Merkelschen Politik. Mit dem Einstieg in die neue Generation der Kernreaktoren ließe sich die deutsche Energieabhängigkeit vom Ausland in den kommenden Jahren zumindest mildern, wenn auch nicht schnell. Flüssigsalzreaktoren – einer wird in China gerade erprobt – können alte Kernbrennstäbe weiterverarbeiten. Sie kommen also ohne Uranimport aus.

Mittelfristig könnte Deutschland außerdem erhebliche Gasmengen auf dem eigenen Territorium fördern. Dazu müsste es sich zum Fracking durchringen. Die aufgezählten Schritte setzen allerdings den Abschied vom deutschen Illusions- und Lebenslügentheater voraus. Bis jetzt gilt dort immer noch die Regel: Die Weltklimarettung ist zwar wichtig – aber die grüne Antikernkraft-Doktrin noch wichtiger.

Und die Reduzierung der Gaseinfuhr aus Russland ist moralisch geboten, solange Putin regiert. Aber noch stärker ist das Gebot, kein Fracking zu betreiben, sondern höchstens Fracking-Gas aus den USA zu kaufen.

Auch wenn es eine Mehrheit für den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke gibt – bis jetzt diktiert das Milieu einer 14,8-Prozent-Partei die Energieversorgungspolitik für das ganze Land. Nicht nur diese Partei, auch alle angeschlossenen Unterstützer in Medien, NGOs und Institutionen müssten anderenfalls ihre bedingungslose Kapitulation vor der Wirklichkeit erklären. Bis dahin beherrschen sie jede imaginäre Lage. Kapitulation – so etwas geschieht in Deutschland grundsätzlich nur fünf nach zwölf. Wenn überhaupt.

Gäbe es so etwas wie Illusionsenergie: Deutschland wäre autark.


Mehr zur Geschichte der deutschen Energiewende: Alexander Wendt „Der Grüne Blackout. Warum die Energiewende nicht funktionieren kann“ Edition blueprint


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