Tichys Einblick
Der Ukraine-Krieg als verpasste Zäsur

Der Krieg und die Energiepolitik: Ein Jahr später und kein bisschen klüger

Der Ukraine-Krieg hätte eine Zäsur in der Energiepolitik sein können. Die erzwungenen Umstellungen haben aber nicht dazu geführt, dass Deutschland besser aufgestellt ist. Der Krieg gegen Atomkraftwerke war der Bundesregierung wichtiger als der in der Ukraine.

IMAGO / Frank Ossenbrink

Am Anfang stand Jürgen Trittin. „Wir sind dabei nicht allein“, sagte der rot-grüne Umweltminister am 22. April 2002, als an die Stelle des bisherigen Atomförderungsgesetzes das Atomausstiegsgesetz trat. Gemeint waren andere EU-Mitgliedstaaten, die ebenfalls einen Ausstieg aus der Kernkraft planten. Klaus Lippold (CDU) kündigte an: „Wir werden das, was sie als dauerhaften Kernenergieausstieg bezeichnen, wieder rückgängig machen.“ Die FDP-Abgeordnete Birgit Homburger verwies schon damals darauf, dass der Ausstieg zulasten des Klimaschutzes ginge und man massiv auf fossile Energien zurückgreifen müsse.

Ideologie statt Sachverstand
Atomlaufzeitverlängerung: Es gab keine ergebnisoffene Prüfung
Fast zwanzig Jahre später sollte sich zeigen, dass nur Homburger Recht behielt. Anders als Trittin behauptete, folgte keine Ausstiegswelle aus der Atomkraft. Nicht die Grünen, sondern Merkels CDU setzte 2011 den Atomausstieg durch, nachdem sie ihn kurz zuvor noch durch eine Laufzeitverlängerung ersetzt hatte. Dafür wuchs der Rohstoffhunger Deutschlands. Nord Stream (1) sollte diesen sichern. Gerhard Schröder setzte zuletzt die Gaspipeline nach Deutschland durch.

Die russisch-deutsche Kooperation entsprach ganz dem Zeitgeist. Nur wenige Jahre zuvor hatten Jacques Chirac, Wladimir Putin und Gerhard Schröder einen Gegenblock zur US-Politik unter George W. Bush und dem Irakkrieg gebildet. Europa war damals tief gespalten: Großbritannien, Italien, Spanien, Polen (und Merkels CDU in der Opposition) unterstützten die Intervention. Und das Projekt, namentlich Nord Stream, sorgte schon damals zu einem Zerwürfnis mit den osteuropäischen Nachbarn, namentlich Polen und den baltischen Staaten, die davor mahnten, dass sich Deutschland an die Pipeline Russlands legte.

Die Energiewende bedeutete nicht nur den Ausbau sogenannter „Erneuerbarer Energien“. Anders als behauptet machte sie nicht unabhängig, sondern führte in die Abhängigkeit. Sie steht auf dem Fundament des Gasimports. Sie führte zu außen- und sicherheitspolitischen Manövern und Problemen, wie sie bis dahin nur bei Ölgeschäften bekannt war. Gas ist dabei nur ein Feld. Ob Seltene Erden für Windkraft, Solarzellen für die Photovoltaik oder Lithium für E-Autos: Der Energiewende hängt ein Rattenschwanz an. Gas wäre dabei sogar noch das geringste Problem, doch die Förderung in Deutschland verbietet sich aus anderen Gründen.

Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 bekamen die Mahner endlich Gehör. Die Energiewende entpuppte sich als Scharlatanerie. Hinter dem grün gemalten Bild aus Wind- und Solaranlagen verbarg sich in Wirklichkeit ein Gaskraftwerk. Und wenn dieses nicht mehr heizte, würde es kalt. Plötzlich waren Gasspeicher ein wichtiges Thema – warum eigentlich in einem Land, das doch so viel Strom mit „Wind und Sonne“ produzierte? Zu den großen Possen des letzten Jahres gehört die Erzählung, Deutschland hätte kein Strom-, sondern ein Wärmeproblem.

Neues aus Absurdistan
Habecks Doppelstandard beim Gas-Sparen: „Ganz wichtige“ und unbedeutende zwei Prozent
Mit der Realisierung eigener Verletzlichkeit in Energiebelangen hätte eine zwanzigjährige Parenthese beendet werden können. International zeigte man mit dem Finger auf den nackten Kaiser. Die Ungereimtheiten der Energiewende, allen voran die Beschwörung des großen Erfolgs „Erneuerbarer Energien“ bei gleichzeitig demütigem Besuch in Katar und Erzählungen Robert Habecks darüber, wie eine Bäckerei zwischenzeitlich zu arbeiten aufhören könne, ohne dichtzumachen, prägten die Reaktion auf die Energiekrise. Die Konsequenz: immer mehr vom Gleichen. Der Ausbau „Erneuerbarer“ sollte Unabhängigkeit bringen. Obwohl sie in der Vergangenheit das genaue Gegenteil gebracht hatten.

Erst kürzlich hat der Wasserstoffstreit zwischen Deutschland und Frankreich neuerlich enthüllt, dass die vermeintliche Energiewende weniger langfristigen politischen Strategien, sondern der Förderung eines Selbstzwecks dient. Deutschland will Gaskraftwerke zu „Wasserstoffkraftwerken“ umbauen, um die „Dekarbonisierung“ voranzutreiben und die Klimaziele zu erfüllen. Doch „roter Wasserstoff“, der mit Atomstrom erzeugt wird, soll Deutschland nun nicht mehr ins Haus kommen. Obwohl der geringe CO2-Ausstoß von Kernkraftwerken dazu geführt hat, dass Frankreich ganz ohne Energiewende seit Jahren und Jahrzehnten in der CO2-Bilanz deutlich besser abschneidet als Deutschland. In Deutschland muss es reiner, „grüner Wasserstoff“ sein, nur mit dem Qualitätssiegel Bio-Energie.

2022 hat demnach vor allem die Prioritäten deutscher Energiepolitik demonstriert. Die höchste Priorität genießt nicht die energiepolitische Autonomie. Auch nicht die Energiesicherheit. Schon gar nicht niedrige Strompreise. Nicht einmal der Klimaschutz! Es ist die Verhinderung der Atomenergie in Deutschland. Sie gipfelte in der legendären Rechnung, dass zwei Prozent Energiesparen gut, aber zwei Prozent mehr Atomstrom schlecht seien.

Denn kurz nach Kriegsbeginn hatte ein Thema im Wirtschaftsministerium Priorität: die Hintertreibung der Anschaffung neuer Brennstäbe, eine ergebnisoffene Prüfung durfte es für die Kernkraft nicht geben – bereits am 4. März lag Staatssekretär Patrick Graichen ein Entwurf zur Ablehnung der Laufzeitverlängerung vor. Positive Bewertungen ignorierte die Ministeriumsführung. Die Ideologen führten einen Krieg, der deutlich länger andauerte als der in der Ukraine. Von allen Segeln, die die Grünen aus ihren Anfangstagen gestrichen haben, war der Krieg gegen Kernkraft als letztes verblieben – und diesen wollten sie endgültig gewinnen.

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Mit der Bundesregierung von einer Gaskrise in die nächste
Während das Wirtschaftsministerium alles daran setzte, eine Laufzeitverlängerung oder gar eine Renaissance der Kernenergie zu verhindern, suchten andere Länder, die vom russischen Gas abhängig waren, bereits nach alternativen Lieferanten. Habecks Bückling in Katar kam nicht nur für diese Verhältnisse spät; er kam vor allem zu spät, weil Erdgasgeschäfte ein langfristiges Geschäft sind, und LNG nicht ohne erforderliche Schiffe, Fristen, Infrastruktur und Zusicherungen transportiert werden kann.

Von den Märchen aus Tausendundeiner Nacht blieb nicht viel: Katarisches LNG erreicht Deutschland erst 2026, dazu weniger, als erwartet. Derzeit springt vor allem Norwegen ein. Zudem floss auch noch letztes Jahr russisches Gas nach Deutschland; ein Faktor, der spätestens mit der Sprengung von Nord Stream 1 entfällt. Eine Strategie für die ausgefallene russische Menge liegt für dieses Jahr noch nicht vor. Die Akrobatenstücke werden uns also noch 2023 begleiten.

Dennoch ist Robert Habeck vielleicht der glücklichste Minister, den das Wirtschaftsministerium je erlebt hat. In einer der brenzligsten Situationen der deutschen Energiegeschichte folgten auf eine kalte erste Herbst- und Winterhälfte milde Temperaturen. Noch im Herbst machten Duschhinweise, Waschlappentipps und Ermahnungen die Runde, weil die Erdgasspeicher sich rascher leerten als erwartet. Die Zeichen stehen auf Entspannung.

Eine andere Regierung eines anderen Landes hätte vielleicht den Ausbruch des Ukraine-Krieges als Gegenmoment zu Fukushima genutzt, um die eigene Energiepolitik realistischer und pragmatischer zu gestalten. In Schweden und Italien spricht man wieder offen über die Kernkraft. Nicht in Deutschland, wo steigende Strompreise und geschlossene Bäckereien als Kollateralschäden zu Buche schlagen. In Berlin ist der Sieg der Ukraine niemals ein Ziel gewesen. Der eigentliche Feldzug hat für die Bundesregierung auf gänzlich anderem Terrain stattgefunden. Im April ist der Gegner endlich besiegt: Dann werden die letzten drei Kernkraftwerke in Deutschland endlich abgeschaltet.

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