Tichys Einblick
Schwarz-grüne Seelenverwandtschaft

Endstation Grün: Das Bürgertum findet zu sich selbst zurück

Für viele Konservative gilt das Prädikat „bürgerlich“ noch immer für die Verbundenheit zu Tradition und Werten. Doch mit dem Aufstieg grüner Ideologien hat das Bürgertum lediglich zu seinem eigentlichen revolutionär-dekonstruktiven Wesen zurückgefunden.

David Boos via Midjourney AI

Kaum eine Tradition wirkt so aus der Zeit gefallen wie die jährlichen Demonstrationen zum 1. Mai. Zugegeben: Aktuelle Aufreger, seien es BLM, das Klima, oder nun Palästina, werden zwar gerne in bester Trittbrettfahrertradition mitgenommen, aber das darunter liegende Grundgerüst der anachronistischen Gewerkschafts- und Klassenkampfromantik könnte nicht deutlicher den gesellschaftlichen Wandel der letzten 50 Jahre demonstrieren.

Während die berühmt-berüchtigten 1.-Mai-Demos in Wien noch in den 1990ern zumindest noch mit den Kurden ein wenig Feuer in die sozialdemokratische Lethargie brachten und die kommunistischen Splittergruppen einen humoristischen Hauch von Monty Python versprühten, waren die heutzutage dominierenden Vertreter des Sozialismus, die Grünen, bereits damals bemerkenswert abwesend. Denn was diese ihren verschlafenen roten Mitstreitern voraus hatten, war das Verständnis, dass ihre Zielgruppe nicht in der Arbeiterklasse auf 1.-Mai-Demos zu finden war, sondern in den bürgerlichen Kaffeehäusern Wiens.

Ein zentrales Missverständnis der heutigen konservativen Kräfte ist der Irrglaube, das Bürgertum wäre an sich konservativ – oder zumindest liberal-konservativ – eingestellt. Das aber trifft nur für einen geringen Teil des Bürgertums zu und zwar meist jenen Teil, der am unteren Ende der Wohlstandsskala aus der Bürgerlichkeit zu fallen droht, oder jenem gut situierten (und meist pensionierten) Teil, dem in dem Maße seine Bürgerlichkeit abhanden kam, in dem er seine Anpassungsfähigkeit an den Zeitgeist verlor.

Der Bürger als Revolutionär

Denn der Bürger an sich ist keineswegs traditionsbewusst, im Gegenteil. Der Bürger hat sich seinen gesellschaftlichen Status seit dem Mittelalter vor allem durch die Dekonstruktion bestehender Machtstrukturen des Adels erkämpft. Das mag uns retrospektiv – je nach politischer Gesinnung – als Fortschritt erscheinen, doch wird dieser Prozess oftmals romantisch verklärt und als an einem uns genehmen Zeitpunkt als abgeschlossen betrachtet. Nichts aber ist weniger wahr. Die permanente Revolution ist weniger das Ziel Trotzkis als das des Bürgers. Das wusste auch schon Karl Marx, der in seinem Kommunistischen Manifest über das Bürgertum schrieb:

„Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.“

„Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“

„Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.“

„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“

Diese Einschätzungen erschienen im Jahr 1848, jenem Jahr der letzten großen bürgerlichen Revolution, die das Ende einer fast 100-jährigen Periode bürgerlicher Revolutionen markierte. So richtig Marx das Bürgertum analysierte, so falsch lag er in seiner Hoffnung, die Arbeiterklasse würde das Bürgertum als revolutionäre Kraft ablösen. Denn die Arbeiterklasse kannte zwar – ähnlich den Bauern – die Auflehnung gegen ausbeuterische Strukturen, war aber letztlich nur pragmatisch an der Verbesserung ihrer Lebensumstände interessiert, nicht aber an der Revolution um ihrer selbst Willen.

Den Kampf um die gesellschaftliche Vorherrschaft hat das Bürgertum gegen die chancenlose Arbeiterklasse klar gewonnen, nicht nur indem es die ideologische Hegemonie behauptete, sondern indem es die Arbeiterklasse an sich zur aussterbenden Rasse machte. Während die Verschiebung vom industriellen in den tertiären Sektor anfänglich noch Taxifahrer und Kellner zeitigte, ist mit der Akademisierung der Gesellschaft auch der Großteil dieses Sektors im bürgerlichen Milieu angekommen.

Denn das radikale Bürgertum hat zunehmend Erzeugung und Erhalt von Wohlstand als ein definierendes Merkmal abgestriffen und ist mittlerweile vollends zu dessen ideologisch-revolutionärer Grundgesinnung zurückgekehrt. Wohlstand mag zwar noch immer erstrebenswert sein, bedeutet für das neue Bürgertum aber nicht mehr vererbbaren Grundbesitz, sondern die Freiheit zum Konsum. Viel wichtiger ist nun eine ideologische Grundhaltung, das Bekenntnis zu Revolution und Dekonstruktion der bestehenden Verhältnisse, die Ablehnung und Zerstörung von Traditionen.

Die schwarz-grüne bürgerliche Zukunft

Es ist aus diesem einfachen Grund, dass das Bürgertum in seiner neuesten Ausformung die Speerspitze des gesellschaftlichen Umbaus bildet, oder diesen zumindest begrüßt. Tagträumer sind nicht die neuen Bürger, die allem Versagen zum Trotz immer wieder – gerade in den bürgerlichsten Regionen Deutschlands – den Grünen und ihren Vorfeldparteien die Stimme geben, sondern all jene Konservative, die glauben, diese Bürger müssten erst „aufwachen“. Dass eine Mehrheit sich immer wieder bei Wahlen für die Zerstörung des alten Deutschlands ausspricht, ist kein Versehen, oder ein Mangel an Optionen, sondern Absicht eines Bürgertums, das frei von aller Wohlstandsmakulatur der Nachkriegsjahre seine Erfüllung wieder im kompromisslosen Bekenntnis zur permanenten Dekonstruktion findet.

Die treibende Kraft hinter Revolutionen waren noch nie die Bauern, oder die Arbeiter, sondern die Bürgerlichen. Wer also heute von einem Verlust der Mitte spricht, oder vermeintlich sogar davon, dass die Mitte keine politische Stimme mehr habe, der übersieht, dass diese Mitte sich drastisch Richtung grün verschoben hat. Die sozialistische Utopie des 21. Jahrhunderts sieht ebenso wenig Bürgergeld-Empfänger und Muslime an der Macht, wie die Utopien der Vergangenheit Arbeiter oder Bauern an der Macht sahen. Alle Variationen rot-grüner Koalitionen sind de facto nur Zweckgemeinschaften für das grüne Bürgertum, bis sich seine eigentlichen Partner – die Christdemokraten – endlich des lästigen Christentums (deren offizielle Vertreter sich ohnehin der revolutionären Ideologie annähern) vollends entledigen und ihre Rolle an der Seite der Grünen ungeniert einnehmen.

Schon seit Jahren ernten Parteien wie die CDU und FDP Kritik für ihre Rolle als Wegbereiter grünen Gedankenguts. Der Vorwurf, die Kernanliegen der eigenen Klientel würden dabei übergangen, greift aber zu kurz, denn abseits einer Minderheit Unzufriedener (die sich in Teilen nun mit der Werteunion verselbständigten), zeigen die Wahl- bzw. Umfrageergebnisse, dass die bürgerlichen Wähler in weiten Teilen die grünen Positionen teilen. Der Unterschied zwischen CDU- und Grünen-Wählern liegt dabei lediglich in einer unterschiedlichen Gewichtung der Wohlstandswahrung im Vergleich zur ideologischen Kompromisslosigkeit. Mit anderen Worten: Das CDU-Bürgertum ist ebenso grün wie die Grünen, nur möchte es ganz gerne seinen erwirtschafteten Wohlstand bewahren.

Der bürgerliche Kompromiss der Zukunft heißt Schwarz-Grün. Der kleine Bruder Österreich hat es bereits vorgemacht, als der ehemalige Kanzler Kurz mit freundlicher Unterstützung von Jan Böhmermann die Schwarz-Blaue, „rechtskonservative“ Regierung sprengte und sich kurzerhand mit den Grünen ins Bett legte – einer Koalition, die trotz mehrfacher Skandale und Kanzler- und Ministerwechsel nach wie vor Bestand hat, da man offensichtlich erkannt hat: Gleich und gleich gesellt sich gern.

Das Bürgertum ist nicht die Stimme des liberal-konservativen Widerstands

Auch in Deutschland wird das bürgerlich-grüne Eis schon längst gebrochen. Wer hinter dem Ende der schwarz-grünen Landesregierung in Hessen die konservative Kehrtwende vermutet, wird ein böses Erwachen erleben, denn so wie auch ein Friedrich Merz auf Bundesebene nach 16 Jahren Merkel-Kanzlerschaft nur die verbliebenen Konservativen im Zuge der obligaten Oppositionsperiode beschwichtigen soll, so wird zukünftig die CDU immer häufiger in den Grünen ihren eigentlichen politischen Seelenverwandten erkennen.

Als noch Anfang der 2000er Joschka Fischer und Angela Merkel sich gegenseitig Absagen erteilten, galt dies nicht nur der vermeintlichen Beschwichtigung ihrer Wählerschaft, sondern war das auch durch ihren Hintergrund zu erklären. Fischer, der den Weg vom Alt-68er Randalierer zum an Eliteunis gefragten Elder Statesmen hinlegte, war kein klassischer Bürger, sondern ein linker Emporkömmling. Und zwar war Merkels Herkunft durch und durch bürgerlich, aber ihre Sozialisierung in der DDR, sowie ihr Pragmatismus – sie erreichte ihre Mehrheiten auch anderweitig – dürften dazu geführt haben, dass die Jamaika-Koalition nur ein Luftschloss blieb. Letztlich blieb beiden nur die Rolle als Wegbereiter.

Dies hat sich mit der neuen Generation der Grünen geändert. Robert Habeck, Annalena Baerbock und all ihre Parteigenossen sind Musterbürger des modernen Deutschlands, die auszuschließen einer Union niemals in den Sinn käme. Schwarz-grüne Koalitionen, die nicht zustande kommen, sind entweder eine Atempause oder ein Spiel auf Zeit. Die Zahl der schwarz-grün regierten Städte und Länder nimmt bereits zu und aufgrund der Brandmauer ist bereits zum jetzigen Zeitpunkt deutlich, dass bei den nächsten Bundestagswahlen die wiedererstarkte CDU der Verlockung mit den Grünen zu regieren, wohl kaum widerstehen wird können.

Für lange Zeit war es populär innerhalb des liberal-konservativen Widerstands, sich als die eigentliche bürgerliche Mitte zu definieren, die schweigende Mehrheit, die einfach übergangen würde. Doch wer bürgerlich sein möchte, muss einsehen, dass die bürgerliche Gemütlichkeit der Helmut-Kohl-Ära nur eine Übergangsperiode war, ein Durchschnaufen, bevor man wieder zu den eigentlichen Idealen von Revolution und Dekonstruktion zurückkehrte. Es wird Zeit, dass der Widerstand gegen die grüne Revolution sich eine neue Zielgruppe sucht, denn das Bürgertum hat seinem Naturell entsprechend keinerlei Interesse an einem wertkonservativen Klotz am Bein.


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