Tichys Einblick
Gegen die Aufkündigung der Debatte

Einwanderung – Plädoyer für den öffentlichen Diskurs auf wissenschaftlicher Basis

Es geht nicht um die Frage, ob Einwanderung gut oder schlecht ist, sondern darum, wie viel Migration für alle am besten. Moral beantwortet das nicht, begründet Ingrid Ansari.

In einem Interview, das er im Januar 2016 der WELT gab, konstatiert Paul Collier,  die Bundeskanzlerin habe durch ihre Kommunikation aus Flüchtlingen erst Einwanderer gemacht, da die Menschen sich aus sicheren Drittstaaten hierher aufgemacht hätten. Sie hätten Merkels Worte als persönliche Einladung verstanden und sich erst dann überhaupt auf den gefährlichen Weg gemacht, ihre Ersparnisse geopfert und sich in die Hände dubioser Schlepper begeben. So wie Collier geben sich in Deutschland inzwischen auch viele Bürger nicht mehr damit zufrieden, dass die hierher Kommenden durchweg als „Flüchtlinge“ bezeichnet werden und fordern eine Begriffsentwirrung. Als Gastarbeiter auf Zeit und ohne Rechte werden sie hauptsächlich von nahöstlichen Ländern angeworben, während Ausweisungen in den offenen Gesellschaften des Westens selten, juristisch langwierig und oft gesetzwidrig sind – ob man sie nun als Asylanten, Flüchtlinge oder Migranten bezeichnet.

Auf einige der Punkte in Paul Colliers Buch Exodus  – Warum wir Einwanderung neu regeln müssen“ (in Deutschland erschienen am 29.09.2014) möchte ich hier eingehen. Darin tritt der britische Ökonom und Leiter des „Center for the Study of African Economies“ an der Universität Oxford für eine Neuregelung der Einwanderungspolitik ein. Denn bei vielen Bürgern sei inzwischen der Eindruck entstanden, dass häufig unwissend-naiv, Tabu beladen und hochemotional-moralisch argumentiert wird, dass Moral das Denken und Handeln bestimme. Wobei die Politik die Moral als Druckmittel benutzt, wie und wo es ihr gerade passt.

Moral ist keine objektive, zeitlose Richtlinie; Moral bewertet subjektiv nach Gut und Böse, stimmt zu oder lehnt ab, bewertet positiv oder verurteilt. Moral und Gewissensdruck sind Partner, wie viele noch aus ihrer eigenen Kindheit wissen dürften. Politische Auffassungen, die auf vorgefassten „guten“ Moralvorstellungen beruhen, trüben den Blick. So stand und steht unser Land z.B. immer noch unter einem besonders hohen Gewissensdruck, der unfrei und manipulierbar macht und inzwischen auf höherer Ebene schleichend in eine Art moralische und in Wahrheit unempathische Überlegenheitsattitüde pervertiert ist. Warum stattdessen nicht mal die Forschung zu Rate ziehen? Deren Werkzeuge sind in der Lage, „bessere fachliche Antworten auf Ursachen und Folgen zu geben, als es mit dem Alltagsverstand möglich ist.“ (Collier, Paul: Exodus, Pantheon-Verlag 2015, S.20)

Collier ist sich bewusst, dass er ein heißes Eisen anfasst: Die Haltung zum aktuellen Zuzug nach Europa sei bestimmt von Verfehlungen in der Vergangenheit, eng verbunden mit den Begriffen Nationalismus, Rassismus, Kolonialisierung. Das Thema könne aber nur rational debattiert werden, so Collier, wenn diese Begriffe besonnen und differenziert entwirrt und eingeordnet würden.

Soziale Folgen für die Aufnahmeländer

Collier untersucht im Folgenden unter Hinzuziehung zahlreicher Studien anderer Forscher und Forschergruppen, wie sich der Zuzug auf die einheimische Bevölkerung der verschiedenen Aufnahmeländer in Zukunft auswirken wird, wobei er den sozialen Auswirkungen zunächst den Vorrang vor den ökonomischen gibt. In vielen westlichen Ländern werden – wie schon erwähnt – die Einwanderer nicht nur als Arbeitskräfte oder Asylsuchende auf Zeit, sondern als Mitglieder der Gesellschaft angesehen. Die wohlhabenden demokratischen Gesellschaften beruhen auf Vertrauen und gegenseitiger Rücksichtnahme. Die Erfolgreichen finanzieren die weniger Erfolgreichen mit Transferleistungen, wodurch über die Jahre ein Gefühl von Solidarität und Kooperation entsteht. Das System beruht aber auch darauf, dass diejenigen, die nicht kooperieren, bestraft und als Trittbrettfahrer geächtet werden.

Die es wissen, aber nicht wissen wollen
Die Kompetenzflüchtlinge
Mit zunehmender Vielfalt innerhalb eines Landes nimmt dieses Zusammenspiel jedoch ab, was zu der Frage führt, wie viel Vielfalt ein solches durchaus fragiles und immer wieder neu zu erarbeitendes System überhaupt ertragen kann, wenn Migranten ganz andere kulturell gewachsene Vorstellungen mitbringen und damit Vertrauen und Kooperationsbereitschaft der Aufnahmegesellschaft unterlaufen. Je erfolgreicher sich die Einwanderer an die Gegebenheiten des jeweiligen Landes anpassen, um so willkommener werden sie naturgemäß sein, wobei auch die Beherrschung der jeweiligen Landessprache eine maßgebliche Rolle spielt.

Eine Untersuchung des Sozialwissenschaftlers Robert Putnam („E Pluribus Unum. Diversity and Community in the Twenty-first Century“, 2007) hat die Auswirkungen der Einwanderung auf den Gemeinsinn in den USA mit folgenden Ergebnissen untersucht: Je größer der Anteil der Einwanderer in einer Gemeinde, desto geringer das gegenseitige Vertrauen. Nähe führe in solchen Fällen nicht zu größerem Verständnis, sondern zu mehr Misstrauen. Zusätzlich nehme auch das Vertrauen innerhalb der jeweiligen Gruppen ab. Einheimische zögen sich immer mehr zurück, nähmen immer seltener am sozialen Leben teil. Auch in Deutschland berichten Videos und Artikel von solchen manchmal extremen Zuständen. Die Bürger fürchten sich zunehmend davor, dass eine unkontrolliert zunehmende Einwanderung den inneren vertrauensvollen Zusammenhalt und Frieden in der Gesellschaft beschädigen könnte.

Wirtschaftliche Folgen für die Aufnahmeländer

Anschließend beschreibt Collier anhand neuerer Studien die Auswirkungen massenhafter Einwanderung auf Löhne, auf den Wohnungsmarkt und die Bildungseinrichtungen. Einheimische Bürger, eingebürgerte Migranten und Zugewanderte werden naturgemäß zu Konkurrenten, was sich gerade auf die Ärmsten des Landes nachteilig auswirkt und zu Spannungen führen kann. Für Großbritannien hat z.B. das „Office for Budget Responsibility“ geschätzt, dass die Immobilienpreise aufgrund der Einwanderung um rund 10 Prozent gestiegen sind.

Laut Collier braucht eine alternde Gesellschaft nicht notwendigerweise Arbeitskräfte aus dem Ausland. Durch den schnellen Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung um rund zwei Jahre pro Jahrzehnt sei es unabdingbar, dass sich die Arbeitszeiten entsprechend verlängerten. Eins der Argumente: arbeitende Migranten hätten derzeit noch vergleichsweise viele Kinder und könnten oft ihre abhängigen Verwandten nachholen. Er zitiert den dänischen Ökonom  Torben Andersen, der die Auswirkungen der Migration auf großzügige Sozialsysteme wie die skandinavischen untersucht hat und herausfand, dass diese Möglichkeit aufgrund der geringeren Qualifikation der Migranten bei gleichzeitiger höherer Abhängigkeit der oft zahlreichen nachziehenden Angehörigen nicht tragbar sei.

Folgen für die Herkunftsländer

Die Auswirkungen der Migration eines Angehörigen, der meistens von der Familie dafür bestimmt, vorbereitet und unter Opfern finanziert wird, auf die Zurückgebliebenen sind vielfältig und je nach Herkunftsland sehr unterschiedlich. In vielen Fällen entzieht die Auswanderung der Gesellschaft oft die motiviertesten, begabtesten und ambitioniertesten Mitglieder (Braindrain) in der Hoffnung auf Chancengewinn in Form von regelmäßigen Geldüberweisungen und verbesserten Auswanderungsmöglichkeiten für Angehörige. Rückkehrer haben andererseits jedoch in jedem Fall neue Erfahrungen und Fertigkeiten gewonnen, und sie und ihr Land können davon profitieren. Dennoch haben Studien gezeigt, dass fast alle kleinen, armen und daher wirtschaftlich und politisch besonders unterstützenswerten Länder – vor allem in Afrika – durch die Auswanderung verloren haben. Collier fordert daher dringend dazu auf, mehr Studenten und Auszubildende aus armen Ländern aufzunehmen unter der Bedingung, dass diese in ihre Heimat zurückkehren und beim Aufbau Hilfe leisten. Auch hier tragen die Aufnahmeländer eine nicht zu vernachlässigende Verantwortung.

Schlussfolgerungen

Collier betont immer wieder, dass es ihm nicht um die Frage ginge, ob Einwanderung gut oder schlecht sei, sondern, wie viel Migration für alle am besten. Seine These: Je höher der Anteil an Eingewanderten, desto problematischer die Eingliederung. Und: Je größer die kulturelle Distanz, desto schwieriger die Integration. Zitat: „Bis zu einem gewissen Grad steigt der Wohlstand mit zunehmender Diversität, nimmt aber dann rapide ab. Es gibt ein optimales Maß an Vielfalt, das auch davon abhängt, wie schnell Einwanderer von der jeweiligen Gesellschaft aufgenommen werden.“

Gunnar Heinsohn, emeritierter Professor der Universität Bremen (Forschungsgebiete u.a. Genozidforschung, Bevölkerungspolitik, Konfliktforschung)  ist ebenfalls einer der Forscher, die sich zur Frage der Einwanderung stets in aller Klarheit geäußert haben. Ein Land müsse sich entscheiden, sagt er in einem hörenswerten Radiointerview (Zwölfzweiundzwanzig, Zu Gast bei Ingo Kahle), ob es seinen Platz an der Weltspitze der Ökonomien halten wolle oder nicht. Wenn ja, könne es sich nicht leisten, Menschen ins Land zu lassen, ohne vorher ihre Qualifizierung geprüft zu haben, wie es die „Kompetenzfestungen“ Australien, Neuseeland und Kanada längst beschlossen hätten. Wenn sich dagegen die Bundesrepublik dafür entscheidet, dass Hilfsbereitschaft wichtiger ist, dann fällt sie aus der Konkurrenz heraus und wird sich eines Tages auf dem Niveau von Brasilien wiederfinden.

Neben politischen und Wirtschaftsflüchtlingen nennt Heinsohn als dritte Gruppe die Versorgungssucher: Jeder hat per Gesetz in der Deutschland einen Anspruch auf menschenwürdige Unterstützung, was natürlich ein starker Magnet ist. Die dadurch entstehende Verunsicherung der Bürger spaltet das Land, bedroht den inneren Frieden, und viele der Kompetentesten werden sich Arbeit in anderen Ländern suchen. Dadurch entgehen dem Staat wiederum hochkarätige Steuerzahler, von denen zwei inzwischen eine Migrantenfamilie unterhalten müssten. Wir stünden inzwischen schon an der Grenze unserer Bezahlungsmöglichkeiten, ist Heinsohns Fazit. In einem Interview in der WELT  vom 15.1.2016 heißt es am Ende: „Ich glaube, bei der Frage der Integration gibt es weder Rassenprobleme noch Religionsprobleme, sondern nur Kompetenzprobleme. Aber wenn die Leute in der Schule versagen, von Hartz IV leben müssen und dann nur gesehen wird: das sind Afrikaner, das sind Muslime – dann wird das Kompetenzproblem überdeckt mit einem Rassenetikett oder einem Religionsetikett. Kompetenz ist der Schlüssel zur Integration.

Haben Frau Merkel, ihre Regierungsmitglieder oder unsere Vertreter im Parlament auch nur einen der vielen wissenschaftlichen Beiträge zum Thema Migration zu Rate gezogen? Man kann eigentlich – wieder einmal – nur zu einem Schluss kommen: Das alles interessiert Frau Merkel und ihre Mitarbeiter überhaupt nicht. Überlegungen und Entscheidungen auf wissenschaftlicher Basis sind nicht gefragt; man dilettiert munter weiter. Dafür ein Beispiel: Dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg wurde 2011 zur Last gelegt, zahlreiche Passagen seiner Doktorarbeit aus Werken anderer Autoren kopiert zu haben. Angela Merkels Reaktion: Sie habe Guttenberg nicht als wissenschaftlichen Assistenten oder Doktoranden ins Kabinett geholt: „Mir geht es um die Arbeit als Bundesverteidigungsminister. Die erfüllt er hervorragend, und das ist das, was für mich zählt“.

Da bleibt einem doch glatt die Spucke weg, und man fragt sich, was für Werte die Bundeskanzlerin vertritt und woran sie sich in Wahrheit orientiert, worauf sie sich in ihren „Urteilen“ stützt. Ihre lakonischen Bemerkungen lassen keinerlei Rückschlüsse zu. Die Lektüre von Thilo Sarrazins Millionenerfolg „Deutschland schafft sich ab“ lehnte sie mit den Worten ab, die Vorpublikationen seien vollkommen ausreichend, um These, Kern und Intention seiner Argumentation zu erfassen. Das Buch sei „nicht hilfreich“.  Der damalige Mitherausgeber der FAZ Frank Schirrmacher bezeichnete das in einem Artikel als „Urteil der Kenntnislosigkeit“, die Aufkündigung einer Debatte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Man muss sich allerdings fragen, warum das immer noch hingenommen wird.

Ingrid Ansari war Dozentin am Goethe-Institut.

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