Wenn man in Kenias Großstadt Mombasa über dreckige und vermüllte Straßen mit zahlreichen Schlaglöchern fährt, sieht man vor allem eines: Baustellen. Neben Hütten aus Wellblech stehen riesige graue Betonklötze. Fenster, Fassaden und alles, was ein Gebäude bewohnbar macht, fehlen. Viele dieser Baustellen stehen dort seit zwei Jahren in der Gegend herum. Und sie werden wohl auch noch sehr viel länger unberührt herumstehen und dem Land somit eher Schaden als Nutzen bringen: Denn nun sollen kenianische „Fachkräfte“ nach Deutschland kommen. So lautet jedenfalls die Idee von Bundeskanzler Olaf Scholz zu einem Migrationsabkommen, das Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Außenminister Kenias, Musalia Mudavadi, am Freitag in Berlin unterschrieben haben.
Es ist damit zu rechnen, dass von diesen „Fachkräften“ ein großer Teil weder lesen noch schreiben kann. Immerhin beträgt die Analphabeten-Quote in Kenia laut Auswärtigem Amt 24 Prozent. Und die Alphabetisierung in Kenia ist nicht mit derjenigen in Deutschland zu vergleichen: Viele Familien in den Slums oder in den ländlichen Regionen Kenias haben kein Geld, um ihren Kindern durchgehend eine Schulbildung zu ermöglichen. In den Vorschulen sitzen daher Siebenjährige neben Vierjährigen und üben, Buchstaben und Nummern zu malen, obwohl sie altersgemäß bereits in der zweiten Klasse sein müssten.
Wenn sich die Eltern dieser Kinder die Schulbildung nicht mehr leisten können, müssen die Kinder die Schule abbrechen. Die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ (GEW) schätzt, dass nur zehn Prozent der Kinder in den kenianischen Slums die Grundschule abschließen. Viele Kinder können gerade einmal ein „A“ und eine sechs malen, aber wissen nicht, wie sie aus den einzelnen Buchstaben ein Wort bilden können. Hinzu kommen die vielen Kinder in den ländlichen Regionen, die kilometerweit von Schulen entfernt aufwachsen: Sie haben nicht einmal die Möglichkeit, zur Schule zu kommen, weil sie keine Fahrzeuge besitzen und teilweise weit von der nächsten akzeptablen Straße entfernt wohnen, von der aus sie einen Schulbus nutzen könnten.
Welches Interesse der kenianische Präsident William Ruto an diesem Abkommen hat, bleibt fragwürdig: Für Kenia wäre es eher von Vorteil, wenn Ruto die Fachkräfte in seinem Land halten würde, statt sie nach Deutschland zu schicken. Die Baustellen im Land brauchen Jahre, bis die Handwerker sie fertigstellen. Ein Beispiel dafür ist eine Straße, die die Großstadt Mombasa mit den umliegenden Küstenstädten verbinden soll. Seit einem Jahr wird diese gebaut und ist noch lange nicht fertig. Die Baustelle verursacht ein Verkehrschaos: Autos, Lastwagen, TukTuks und die farbenfrohen öffentlichen Busse, die Matatu genannt werden, müssen einen Slalom aus Schlaglöchern und Stoppschildern, anderen Fahrzeugen, Umleitungsstraßen und Ziegen (!) bewältigen.
In Kenia gibt es viele Stellen, an denen Ruto Fachkräfte einsetzen könnte: So stehen an Kenias weißem Sandstrand vor dem türkis-blauen Indischen Ozean zwischen Palmen und Kokosnüssen zahlreiche verlassene und verfallene Gebäude. Diese Grundstücke könnten renoviert werden und als Hotelanlage oder als Restaurant Touristen anlocken. So könnten neue Arbeitsplätze entstehen.
Diese weiteren Arbeitsplätze sind dringend nötig. Die Arbeitslosenquote in Kenia betrug laut Statista im letzten Jahr 5,6 Prozent. In Wahrheit dürfte die Zahl der Arbeitslosen noch höher liegen: Viele Kinder, die in den Slums geboren werden, besitzen keine Geburtsurkunde und haben es somit später schwer, Ausweisdokumente zu erhalten. Diese Menschen werden also oftmals nicht mitgezählt, sondern fallen aus den Statistiken heraus. Ruto sieht allerdings kein Problem für seinen eigenen Arbeitsmarkt: „Wir haben eine riesige junge Bevölkerung, die nicht nur unsere Industrialisierungsagenda in Kenia umsetzen kann, sondern auch zur Verfügung steht für die Industrie hier in Deutschland. Deswegen gibt es hier keinerlei Risiken“, sagte er.
Besucht man die Slums in Mombasa, sieht man viele Frauen, die traditionelle Gerichte aus Plastikeimern verkaufen. Damit verdienen sie am Tag vielleicht umgerechnet 2 oder 3 Euro – wenn es gut läuft. Außerdem sieht man Männer, die auf blauen Plastikstühlen herumsitzen und sich langweilen. Andere Männer wiederum versuchen, sich als Motorradtaxi- oder TukTuk-Fahrer durchzubringen. Von diesen Taxifahrern gibt es in Mombasa allerdings so viele, dass die meisten trotzdem herumsitzen – dann eben in einem TukTuk oder auf einem sogenannten BodaBoda (Motorrad) statt auf Plastikstühlen.
Weitere Männer und Frauen bieten den Touristen am Strand Souvenirs an. Dabei laufen sie jedem Menschen mit weißer Hautfarbe – also auch einheimischen Weißen – hinterher, heißen sie in Mombasa willkommen und bieten alle möglichen Dinge an, erzählen, sie würden einen „good price“ machen. Irgendwann sieht sich ein Tourist dann von fünf sogenannten „Beachboys“ umgeben, die allesamt versuchen, ihm Armbänder und Tücher mit der kenianischen Flagge, holzgeschnitzte Elefanten oder Löwen und handgemachte Trommeln anzudrehen. Diese „Beachboys“ und „Beachgirls“ verdienen vielleicht geringfügig mehr als die Plastikeimer-Köchinnen in den Slums.
Diese Zustände im Land wären nicht nötig: Viele der armen Menschen sind auf der Suche nach einem Job, mit dem sie etwas verdienen können. Sie hätten das Potenzial, beispielsweise die kaputten Straßen im Land auszubessern und weitere Infrastruktur anzulegen, um somit auch die ländlichen Regionen, in denen Menschen in Lehmhütten leben und sich von Ziegenmilch ernähren, zu erreichen. Auf breiten, asphaltierten Straßen könnten Waren dann viel schneller durch das Land transportiert und somit gehandelt werden. Und die Kinder aus den Dörfern könnten Schulbusse erreichen, die sie zu Schulen bringen.
In neu angelegten Hotelanlagen direkt am Strand sowie in fertiggestellten Wohnungs- und Bürogebäuden in der Stadt könnten weitere Menschen einen Arbeitsplatz finden: als Sicherheitsperson, Hausmeister, Kellner oder Gärtner zum Beispiel. Ruto hat also recht: Die junge Bevölkerung, die potenziell arbeiten könnte, existiert. Aber damit sie in den kenianischen Arbeitsmarkt eintreten können, müssten diese Arbeitsplätze erstmal geschaffen werden. Dafür bräuchte Ruto seine Fachkräfte.
Aber Ruto lässt die Menschen, die Kenia entwickeln und die Einheimischen aus der Armut führen könnten, nach Deutschland abwandern. Und erleichtert die Rückführung ausreisepflichtiger Asylbewerber. Für Deutschland ist Letzteres gut, wenn auch ein Tropfen auf dem heißen Stein: Immerhin haben im vergangenen Jahr nicht einmal 500 Kenianer in Deutschland Asyl beantragt, wie TE berichtet hat. Das sind ungefähr 0,1 Prozent aller Asylanträge. Scholz beschreibt das Abkommen als „Win-Win-Situation“. Aber ein wirklicher „Win“ ist der Pakt nicht mal für Deutschland.
Zumal die Kenianer in Deutschland dann beispielsweise in Krankenhäusern und Kindergärten oder als Busfahrer eingesetzt werden sollen, so berichtet die Tagesschau. Hoffentlich hat die Ampel bedacht, dass die Kenianer auf der anderen Straßenseite fahren und die deutschen Straßenschilder nicht kennen. Sie kennen generell wenige Straßenschilder und Verkehrsregeln: Die TukTuk-, BodaBoda- und Matatu-Fahrer verständigen sich stattdessen meist mithilfe ihrer Hupen. Und die Kenianer, die in Deutschland Kindergärtner werden, müssten erst einmal Deutschkurse besuchen. Die werden vom Steuerzahler finanziert. Somit sind die kenianischen Fachkräfte erstmal teuer für Deutschland, bis sie einen wirtschaftlichen Nutzen bringen.
Das Migrationsabkommen der Ampel hat außerdem zum Ziel, IT-Experten aus Kenia anzuwerben. Das hat Scholz jedenfalls betont. Aber für die wäre Deutschland kein „Win“. In Kenia haben sie bessere Aussichten auf eine gute Stelle: Zum einen haben sich erst kürzlich Microsoft und Google in Nairobi angesiedelt, wie die Tagesschau berichtet. Zum anderen bietet die Mobilfunkfirma Safaricom viele lukrative Arbeitsplätze für Informatiker: Diese Firma hat in Zusammenarbeit mit Vodafone eine App entwickelt, die als digitaler Geldbeutel dient, ohne dass die Nutzer ein Bankkonto benötigen.
Die allermeisten Geldtransfers laufen in Kenia über diese App: Sei es im Supermarkt, im farbenfrohen Matatu, im Kiosk um die Ecke oder im Restaurant – nahezu alles wird mit M-Pesa bezahlt. Ob sich die ITler aus Kenia angesichts dieser Perspektiven dazu bringen lassen, ins Land der digitalen Nomaden – also Deutschland – auszuwandern, erscheint also eher unwahrscheinlich. Alles in allem bringt das Abkommen also sowohl Deutschland als auch Kenia wohl eher in eine Lose-Lose-Situation.
Die Zahl 250.000 hat der kenianische Präsident William Ruto nach dem Abkommen mit Kanzler Scholz selbst verbreitet. Das Innenministerium hat sie später auf X relativiert: „Diese Nachricht ist falsch. Das Migrationsabkommen zwischen Deutschland und Kenia enthält keinerlei Zahlen oder Kontingente von Fachkräften aus Kenia, die in Deutschland arbeiten könnten. Alle Bewerber müssen die Kriterien des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes erfüllen.“ Wie Ruto zu dieser Zahl kommt, ist demnach offen. Entweder hat der Präsident sie frei erfunden – oder Scholz und Innenministerin Faeser haben sie ihm zugesichert, aber nicht damit gerechnet, dass ein Politiker ehrlich kommuniziert. Die anderen dementieren die Zahl auch nicht und durch ein Staatsoberhaupt ist sie offiziell in der Welt.