Tichys Einblick
Herbst in Deutschland

Eine Nation wird sich selbst fremd

Corona legt den Blick frei auf viele offene Wunden. Nicht ein Riss geht durch die Bundesrepublik – es sind viele Risse. Und es ist niemand mehr da, der sich auch nur die Mühe machen würde, sie zu kitten. Deutschland ist sich selbst sein ärgster Feind.

„Den Deutschen ist der politische Optimismus abhandengekommen – denn die Regierung bildet die Bevölkerung längst nicht mehr ab. Sie hat wichtige Fragen viel zu lange verdrängt.“

Dieser Satz stammt aus einem Essay von Nils Minkmar bei Spiegel Online. Wie jetzt, denken Sie – das soll ausgerechnet im Zentralorgan des deutschen Merkelismus stehen? Das glauben Sie nicht?

Natürlich haben Sie recht. Im Originaltext steht nicht „den Deutschen“, sondern „den Franzosen“. Das ist schade. Denn der Satz stimmt – nicht bezogen auf Frankreich, sondern auf Deutschland.

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Deutschland ist gespalten. Corona bringt es an den Tag.

Der „Lockdown light“ ist als Begriff ein zynischer Euphemismus, eine typische Kreatur der PR. Tatsächlich ist an den Maßnahmen nichts „light“, schon gar nicht für die vielen Millionen Betroffenen.

Inhaltlich ist der „Lockdown light“ eine Zumutung. Demokratie in Deutschland im Jahr 2020 geht so: Leute, deren Einkommen nicht zuletzt wegen skandalös üppiger Altersversorgung lebenslang gesichert ist, entscheiden mal eben, dass Millionen Bürger ihr Einkommen verlieren.

Man ist geneigt, das eklig zu finden.

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Politiker gegen Volk: Das ist einer der vielen Risse, die durch das Land gehen. Sichtbar wird er überall dort, wo das Volk sich wehrt. Zuletzt tut es das in Berlin. Dort hat die wohl bekannteste Gaststätte im Regierungsviertel, die „Ständige Vertretung“, vielen Stammgästen jetzt Hausverbot erteilt – nämlich all jenen Politikern, die den „Lockdown light“ unterstützen. Dazu gehören, neben vielen anderen, auch Bundeskanzlerin Merkel und Berlins Nichtregierender Bürgermeister Müller.

Dass vom Volk bezahlte Berufspolitiker ein undefiniertes „Gemeinwohl“ nur behaupten, hinter dieser Generaltarnung aber vorrangig bis ausschließlich ihre eigenen Interessen verfolgen, irritiert mittlerweile auch ansonsten völlig unpolitische Wissenschaftler.

„Dass die Herbstwelle nun mit voller Wucht kommt, sollte für niemanden eine Überraschung sein. Deshalb verstehe ich auch nicht, dass man erst jetzt Pläne entwickelt. Dafür hätte man den ganzen Sommer Zeit gehabt.“

Das sagt – sichtlich entgeistert – Klaus Stöhr, weltweit einer der führenden Epidemiologen und seit Jahren Berater der WHO.

Auch die Zahl der Intensivbetten im Land mit dem teuersten Gesundheitssystem der Welt wurde seit der ersten Virus-Welle nicht erhöht. Stattdessen haben Merkel und Gesundheitsminister Spahn monatelang die Zeit dafür gefunden, sich intensiv darum zu kümmern, Friedrich Merz als neuen CDU-Vorsitzenden zu verhindern.

Jeder hat halt so seine Prioritäten.

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Autoritäre gegen Demokraten: Das ist ein weiterer Riss. Auch er wird durch Corona sichtbar – denn „Lockdown light“ ist auch demokratisch eine Zumutung: Eine im Grundgesetz nicht vorgesehene Runde meint, an den Parlamenten vorbei die offenbar dummen und lebensmüden Bürger nur mit immer stärkeren Zwangsmaßnahmen angesichts der Pandemie auf den richtigen Weg bringen zu können.

„Die interessantesten Debatten in der Coronapolitik waren in Ministerpräsidentenkonferenzen. Und diese sind kein öffentliches Gremium. Und das ist, ehrlich gesagt, auch eine traurige Parallele zur Flüchtlingskrise.“

So zerlegt der stellvertretende Welt-Chefredakteur Robin Alexander im ZDF den autoritären Ansatz der Corona-Politik. Und falls jemand ernsthaft behaupten will, es gebe keinen autoritären Ansatz, sei ihm diese Überschrift auf der Internetseite des Südwestrundfunks empfohlen:

„Dreyer offen für Mitspracherecht der Parlamente“

Die nicht direkt vom Volk gewählte Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer (SPD), kann sich also zumindest theoretisch vorstellen, dass auch die vom Volk gewählten Abgeordneten an der Corona-Politik zumindest beteiligt werden. Sozusagen Parlamentsrechte von Dreyers Gnaden.

In Österreich würden sie jetzt sagen: Na, bravo.

Es ist diese selbstherrliche, pflichtvergessene, das Grundgesetz und die Gewaltenteilung schamlos missachtende Attitüde so vieler Politiker, die dazu führt, dass in Deutschland nunmehr seit Monaten Grundrechte nicht etwa durch Gesetze, sondern durch einfache Verordnungen teilweise massiv eingeschränkt werden.

Ein Skandal im Skandal ist, dass die Gerichte in Deutschland es zulassen, wenn Politiker die Grundrechte mit Füßen treten. Hier rächt es sich, dass Deutschlands Richter allesamt von Politikern ernannt werden. Die Unabhängigkeit unserer Justiz ist eine gern geglaubte Legende.

Ein weiterer Skandal im Skandal ist der Untertanengeist, mit dem viele Berufsempörte beim Thema Corona kleinlaut werden. Die „Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V.“ etwa kämpft zwar heldenhaft gegen ein Verbot des Containerns, gegen angeblich zu niedrige Regelsätze im Asylbewerberleistungsgesetz und gegen private Clubs, die nur Männer zulassen. Die Grundrechtsbeschränkungen durch den „Lockdown light“ hält der Verein aber für „noch zu rechtfertigen“.

Der vielleicht größte Skandal im Skandal ist die rechthaberische Willkür der Maßnahmen. Es ist verboten, an einem sonnigen Tag im Biergarten am Tegernsee zu sitzen. Es ist nicht verboten, aus München zwei Stunden und vierzig Minuten im brechend vollen Eisenbahnzug an den Tegernsee und zurück zu fahren.

„Der Skandal dabei ist, dass die Maßnahmen politischer Opportunität folgen und nicht etwa wissenschaftlicher Erkenntnis. Geschlossen oder verboten wird dort, wo der Widerstand vergleichsweise gering ist oder mithilfe von Steuergeld auf ein kontrollierbares Maß reduziert werden kann. Auf und erlaubt bleibt demgegenüber, was einen breiten und anhaltenden Aufschrei verheißt. Also bleiben Kindergärten und Schulen in Betrieb, während dem Gastro-, Tourismus- und Veranstaltungssektor die Luft abgedreht wird.“

So schreibt Olaf Gersemann in der „Welt“, und besser kann man es nicht treffen.

Das folgt einer verheerenden Tendenz: Der Staat gibt viele Gebiete verloren – absolutes Negativbeispiel hierfür ist Berlin. Man denkt an den Görlitzer Park, wo der rot-rot-grüne Senat seit Jahren Drogenstraftäter eigentlich nicht nur duldet, sondern eher ermuntert. Man denkt an besetzte Häuser im Bezirk Mitte, wo der zuständige grüne Stadtrat seine Verwaltungsbeamten seit Jahren quasi an der Durchsetzung des geltenden Rechts hindert. Man denkt an aggressive Muslime, gegen die vorzugehen die Berliner Polizei sich längst abgewöhnt hat:

Stattdessen greift der Staat bei den tendenziell eher Rechtstreuen besonders hart durch. „Horst Seehofer macht Ernst“, schreibt Bild. „Der Innenminister will Tausende Bundespolizisten im Kampf gegen das Coronavirus mobilisieren.“ Sie sollen kontrollieren, ob wir uns auch alle schön an den „Lockdown light“ halten.

Darüber, dass Seehofer gegen illegale Einwanderung „Ernst machen“ wollte, ist nichts bekannt. Aktiv wird er nur, wenn es gegen die eigenen Bürger geht – oder um die Umverteilung von Vermögenswerten.

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Umverteiler gegen Wertschöpfer: Das ist der vielleicht tiefste Riss, den es in Deutschland gerade zu besichtigen gibt. Zahllos sind die Vorschläge, wie der arbeitenden Bevölkerung das Geld aus der Tasche gezogen (oder besser: geraubt) werden soll, um es dann von einer riesigen Sozialindustrie umverteilen zu lassen: von Menschen, die ausschließlich von dieser Umverteilungsmaschinerie – und damit vom Geld anderer Leute – leben.

Die Fans dieser Umverteilung rekrutieren sich aus einem ganz bestimmten, typischen Menschenschlag: Es sind meist Leute, die selbst nicht in der produktiven Wertschöpfung arbeiten und die deshalb (nicht selten lebenslang) vom Steuerzahler finanziert werden. Gerne haben sie lustige Dinge studiert, mit denen man am Arbeitsmarkt auch mit größter Fantasie nicht vermittelbar ist. Häufig dank politischer Protektion arbeiten sie dann in wohlklingenden Stellungen, in denen aber keinerlei Werte geschaffen werden – zum Beispiel als Gleichstellungsbeauftragte. Oder sie versuchen, sich auch ganz ohne berufsqualifizierende Ausbildung oder Praxis in den Bundestag wählen zu lassen.

Das Schröpfen der Wertschöpfer zugunsten der anderen ist gut organisiert:

Die Gewerkschaft Verdi hat in der diesjährigen Tarifrunde für den Öffentlichen Dienst Einkommenserhöhungen zwischen 3,2 und 4,5 Prozent ausgehandelt – gestaffelt nicht nach Art der Beschäftigung, sondern nach dem jetzigen Einkommen: Wer bisher weniger verdiente, bekommt künftig besonders viel mehr.

Dazu fallen einem dann doch ein paar Fragen ein.

Warum bekommen Polizei und Feuerwehr (die wegen Corona tatsächlich stark überlastet sind) denselben Abschluss wie Bürokräfte in den Ämtern und Rathäusern (die sich monatelang zuhause ausruhen können)?

Warum will der Freistaat Bayern seinen Lehrern (also meist Beamten, die sowieso schon garantiert und bis zum Ruhestand A16 verdienen) eine Corona-Prämie zahlen – während unzählige Selbstständige und Freiberufler pleite gehen?

Warum müssen alle Bürger in der freien Wirtschaft natürlich weiter normal arbeiten gehen – die meisten Ämter und Rathäuser aber machen für den Publikumsverkehr dicht und schicken viele ihrer Mitarbeiter ins „Home Office“? (Dort tun sie dann – nichts; zum Beispiel dauert es in Berlin heute länger, ein Auto zuzulassen, als vor der Pandemie.)

Und warum gibt es aus der öffentlichen Verwaltung keine Unterstützung der ausblutenden Privatwirtschaft mithilfe der wegen Lockdown und „Home Office“ frei gewordenen Kapazitäten?

Es soll hier mal eine Antwort gewagt werden: Weil es den beschriebenen Politikern, den beschriebenen Autoritären und den beschriebenen Umverteilern um alles geht – nur um eines ausdrücklich nicht: um Deutschland.

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Selbsthasser gegen Patrioten: Das ist der unsichtbare Riss, der Deutschland teilt. Die Einen können mit dem eigenen Land nichts anfangen (und wollen mit ihm deshalb am liebsten auch gar nichts zu tun haben) – die Anderen wollen es bewahren und verteidigen (und regen sich deshalb auch auf, wenn es achtlos behandelt wird).

Es hat Folgen, wenn einem das eigene Land egal ist:

Die deutsche Bundeskanzlerin erklärt, Zuwanderer seien in Deutschland „besonders hart“ vom Coronavirus betroffen. Das klingt mitfühlend – bis man wenige Tage später erfährt, dass dieselbe Kanzlerin (mithilfe eines im Grundgesetz nicht vorgesehenen Gremiums und am Parlament vorbei) so gar nicht empathisch und kalt bis ans Herz Millionen Bundesbürgern die Existenzgrundlage entzieht. Es gibt einen Unterschied zwischen Verantwortung und Rechthaberei.

Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen nehmen Intensivpatienten aus Belgien auf. Das klingt nobel – bis man sich daran erinnert, dass die mögliche Verknappung der deutschen Intensivbetten ein zentrales Argument für den neuen Lockdown ist. Es gibt einen Unterschied zwischen Hilfsbereitschaft und Selbstaufgabe.

In den vergangenen Tagen gab es im berüchtigten Berliner Stadtbezirk Neukölln mehrere Proteste von Muslimen gegen Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron. Am vergangenen Samstag wurde jemand mit Macron-Maske verkleidet, an einen Strick gefesselt, von arabischsprachigen Männern eine große Straße hinuntergeführt und dabei mit Gürteln geschlagen.

Die Polizei schritt nicht ein. Der Senat vermied es, sich dazu zu äußern.
Es gibt einen Unterschied zwischen Toleranz und Unterwerfung.

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All diese Risse haben Deutschland von sich selbst entfremdet. Und niemand, wirklich niemand macht auch nur den Versuch, dem Land dabei zu helfen, wieder näher zu sich selbst zu finden.

Der Bundespräsident könnte so jemand sein. Aber Frank-Walter Steinmeier spaltet, statt zu versöhnen. Unaufhörlich warnt er zwar vor einem Auseinanderdriften der Lager im Land. Gleichzeitig erklärt er aber nur eines der Lager für akzeptabel: überraschenderweise das, in dem er sich auch selbst befindet. Was Steinmeier macht, ist die Simulation von Versöhnung. Tatsächlich hat kein Präsident vor ihm die Deutschen so auseinander getrieben.

Auch die Medien könnten dem Land helfen. Aber sie haben sich von ihrem Publikum vermutlich noch weiter entfernt als die Politiker vom Volk und sind an ideologischer Einseitigkeit nicht mehr zu überbieten.

Dabei wäre es so einfach: Die Fußball-Bundesliga spielt auch in Corona-Zeiten ohne Zuschauer und wird im TV übertragen. Warum organisieren (und bezahlen) die öffentlich-rechtlichen Anstalten – die mehr als acht Milliarden Euro pro Jahr an Zwangsgebühren bekommen – nicht Theaterstücke und Musikkonzerte?

Die Künstler würden zwar (wie die Fußballer) vor leeren Rängen spielen. Aber sie könnten (wie die Fußballer) zumindest überhaupt spielen – und sie hätten auch Publikum.

Auf so eine Idee kommt man aber wohl nur, wenn einem diejenigen, von deren Gebühren man lebt, wirklich wichtig sind.

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„Islamismus, Corona, Politikverdruss“ beklagt Spiegel Online. Das Land stehe „am Rande des Nervenzusammenbruchs“. Natürlich meint das Hamburger Tendenz-Magazin mit Relotius-Trauma damit Frankreich.

Das ist schade. Denn der Satz stimmt – nicht bezogen auf Frankreich, sondern auf Deutschland.

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