Tichys Einblick
Ein Standpunkt

Eine kurze Geschichte der putinistischen Besatzungsoblaste Deutschland Nord, Süd und Mitte

Angenommen, russische Truppen würden an den Rhein vorstoßen: Wer würde sich bei ihnen als Hilfskraft melden? Hier wird schon mal das Statut für eine gelungene Besatzung skizziert. Und es sieht anders aus, als viele denken.

Ich gehöre zu denjenigen, für die der Anblick russischer Besatzungstruppen im Alltag nichts Besonderes war. Ein Verwandter aus unserer Familie leitete eine LPG (Jüngere können bei Luisa Neubauer nachschlagen, sie empfiehlt die Wiedereinführung der kollektiven Lebensmittelerzeugung in Kapitel eins ihres Buches); der LPG-Onkel betankte sein Auto mit Sprit, den er der nahgelegenen russischen Garnison abkaufte, natürlich schwarz.

Manchmal, wenn ich im Zug der Reichsbahn saß, stieg auch eine Abteilung feldmarschmäßig ausgerüsteter Sowjetsoldaten zu. Die pushka setzten die Soldaten zwischen den Knien ab, der eine oder andere auch eine RPG 7, die olivgrüne sowjetische Standardpanzerfaust mit dem keulenartigen Geschossteil. Dann wurde es ein bisschen eng. Wenn die Feldmarscheinheit im Zug mitfuhr, überlegte ich immer, ob ihr Kommandeur seine kompletten Spritvorräte an Leute wie Onkel Klaus verscherbelt hatte, und was dieser Offizier dann eigentlich mit seinem Ostmarkbündel anfing.

Sie sehen, ich interessierte mich schon damals für Dinge, die mich nichts angingen. Die Laufbahn des Journalisten deutete sich zart an.

Obwohl ihre Gegenwart dazugehörte, kam es nur sehr selten zu Unterhaltungen mit den Soldaten. Das lag auch an unserem Russisch-Unterricht, der darauf zielte, die Kommunikation mit russischen Muttersprachlern zu unterbinden, indem er uns dazu anhielt, Sätze auswendig zu lernen wie: „Lieber Igor, heute möchte ich dir einige Fakten über das Chemiekombinat in unserer Heimat berichten.“

Das traf weder unseren Geschmack noch den der Streckenposten, den einzigen sowjetischen Uniformierten, mit denen wir ab und zu sprachen. Diese Posten standen meist unter einer Brücke oder an einem anderen halbwegs geschützten Platz, wenn Militärkolonnen zu einem Manöver fuhren. Sie hatten darauf zu achten, dass die Fahrzeuge an der richtigen Stelle abbogen. Manchmal mussten sie zehn Stunden oder länger an der gleichen Stelle bleiben. Sie fragten uns auf Russisch nach Zigaretten. Angeblich wussten viele sowjetische Soldaten nicht einmal genau, in welchem Land sie sich befanden.

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„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
An diese Begegnungen, bei denen Zigaretten gegen spasibo getauscht wurden, erinnerte ich mich, als es in den Nachrichten hieß, der Bürgermeister der von russischen Truppen besetzten Stadt Cherson in der Ukraine hätte den Einwohnern mitgeteilt, die Stadt beherberge jetzt bewaffnete Gäste, deren Anweisungen besser befolgt werden sollten. Daran, dass er die Anwesenheit dieser Gäste nicht wünschte, ließ er keinen Zweifel. Angeblich – man kann es ja schlecht überprüfen – soll er den Einwohnern gesagt haben, sie sollten nicht auf die Gäste schießen, und den Gästen, er werde ihnen keine Versprechungen machen.

Natürlich unterscheidet sich die Besetzung in Cherson von der Anwesenheit der Sowjetarmee in der Leipziger Tieflandsbucht. Dort lag der Krieg fast zwei Generationen zurück, es war ein Krieg unter ganz anderen Vorzeichen. Trotzdem gab es weder Hass noch Verachtung von Seiten der Besatzungssoldaten. Umkehrt auch nicht. Wer das politische System ablehnte und 1989 in der Leipziger Tieflandsbucht dagegen demonstrierte, sah einen sowjetischen Rekruten nicht als Feind. Die Demonstrationen richteten sich sowieso gegen inländische Satrapen.

Als ich die Nachricht von Cherson und dem Bürgermeister hörte, dachte ich einen Moment darüber nach, wie es in Deutschland aussähe, wenn Wladimir Putins Truppen als bewaffnete Gäste hereinschneien würden. (Den einen oder anderen Äußerungen in sozialen Medien entnehme ich, dass manche sich diesen Einmarsch wünschen und sogar ausmalen; bei dieser Gelegenheit frage ich mich, was sie davon abhält, einfach ostwärts zu reisen. In dieser Richtung sind die Straßen gerade weitgehend frei).

Aber zurück zu einem Deutschland, in dem wieder russische Soldaten mit pushka an der Straßenecke stehen, dieses Mal auch in Schwabing und Köln-Bocklemünd. Da ich den Anblick prinzipiell schon kenne, wäre für mich die Frage interessant, wer sich bei ihnen als Hilfstrupp melden würde. Denn ohne einheimische Funktionselite mit intimer Kenntnis von Land und Leuten kommt nun mal keine ungebetene bewaffnete Gästeschar aus, falls sie länger bleiben will.

Ich habe sogar eine Vorstellung davon, wer sich in dieser Funktion extrem effizient bewähren würde. Wie auf jedem Gebiet gäbe es auch hier Idealtypen, an denen sich alle anderen orientieren könnten. Einer dieser Idealtypen – wenn nicht der Idealtyp überhaupt – wäre ein Journalist und Filmemacher, der unter anderem für den Zwangsgebührensender ZDF arbeitet. Bei Mario Sixtus handelt es sich um einen mit öffentlich-rechtlichen Mitteln und Geldern der Film- und Medienstiftung NRW gut versorgten Kulturschaffenden, dessen Namen wir uns auch für die hypothetischen Besatzungszeiten merken sollten.

Und auch sonst. Sixtus sinnierte kürzlich zusammen mit einem Gesinnungsalliierten darüber, wie es wäre, „wenn man jede Person, die aus der russischen Botschaft tritt, mit Hundescheiße bewirft“. Sein Anteil an der Überlegung besteht darin, dass er um juristische Einschätzungen bittet, ob das Kotwerfen straffrei bleiben würde.

In Deutschland leben etwa 260.000 Russen; wie andere Nichtdeutsche, die dauerhaft hier wohnen, müssen sie sich in der Botschaft regelmäßig ihren Pass verlängern lassen, was wiederum nötig ist, wenn sie zu Familienangehörigen reisen wollen. Um diesen Gang zur Botschaft kommen auch diejenigen nicht herum, die Putins Politik ablehnen und seinen Krieg für eine Katastrophe halten. Dass die Nationalität noch keinen Aufschluss über die politischen Ansichten des Betreffenden gibt, gehört eigentlich zum ganz kleinen Einmaleins.

Bei Sixtus kommt wirklich alles zusammen: der Wunsch, Leute, die er nicht kennt, nur wegen deren Gruppenzugehörigkeit öffentlich zu erniedrigen beziehungsweise diese Erniedrigungsarbeit von anderen erledigen zu lassen, und gleichzeitig das Bedürfnis nach Rückversicherung. Das Bewerfen anderer mit Kot sollte für den Freund, für den er fragt, auch garantiert risikofrei sein.

Nun möchte vielleicht der eine oder andere wissen: Warum sollte sich gerade Sixtus als Hilfswilliger für putinistische Truppen eignen? Eben deshalb: Seine praktisch unbegrenzte Bereitschaft, heute diese und morgen jene Gruppe zu markieren und zu ihrer Demütigung und Verfolgung aufzurufen, verbunden mit der schlauen Wendung, für die eigentliche Schmutzarbeit andere vorzuschicken, diese Eigenschaften qualifizieren ihn zu allen Zeiten für den Posten eines Politruks. Und in Besatzungszeiten würden sie richtig wertvoll, erst Recht, wenn es sich um Besatzer handelt, die wissen, was ein Politruk ist. Wegen seiner Hetze gegen Zivilisten mit russischem Pass hätte Sixtus einiges abzubüßen. Und jemand wie er wäre selbstredend zu jeder Kompensationsleistung bereit, die es ihm erlaubt, auch unter einer neuen Herrschaft gut von zwangsweise eingetriebenen Geldern zu leben, andere zu denunzieren und sich mit beidem auf der richtigen Seite zu fühlen.

Im Februar 2020 hatte Sixtus übrigens getwittert: „Was für Flüssigkeiten muss man eigentlich konsumiert haben, um auf die Idee zu kommen, dass in gnadenlos überfüllten ICEs die zusätzliche Anwesenheit von Soldaten mit Feldgepäck für eine höhere Akzeptanz des Soldatenberufs führt und nicht etwa zu kaltem Hass auf alle Tarnanzüge?“

Und: „Tarnanzüge sind die Berufsbekleidung von Menschen, die Menschen töten. Wir haben Frieden und sind von befreundeten Ländern umgeben. Was haben also Soldaten in Uniformen in zivilen Zügen zu suchen?“
— Mario Sixtus (@sixtus) February 2, 2020

Daran könnte der Kulturschaffende anknüpfen, wenn er auf der Kommandantur nach seinem bisherigen Treiben gefragt würde. Obwohl man dort wahrscheinlich schon gut darüber Bescheid wüsste. Auch bei seinen Tweets gegen Bundeswehrsoldaten lebte er ein gruppenbezogenes Ressentiment aus. Auch damals suchte er übrigens eine Rückversicherung, indem er später schrieb, er habe ja gar nicht seinen eigenen kalten Hass gemeint, sondern den seiner Mitreisenden. Jedenfalls wusste er, was in seinen Kreisen Mehrheitsmeinung war: dass eine gründlich postmodernisierte und dekonstruierte Gesellschaft eigentlich keine Soldaten benötigt, und sie, wenn es sie schon gibt, kulturell verachten darf.

Wie gesagt: Kalter Hass und das Bedürfnis, immer auf der mit Ressourcen fett geschmierten Seite zu stehen, dazu ein gewisser tschekistischer Blick auf andere, das würde ihn in Besatzungszeiten unbedingt für einen höheren Posten empfehlen.

Dort würde er sich ungefähr auf einer Ebene mit einem anderen Zuarbeiter des ZDF treffen, der ebenfalls über ein politisch geschultes Auge verfügt, über Geltungsdrang und eine feine Witterung dafür, wie sich Belobigungen einheimsen lassen. Jan Böhmermann fordert nicht direkt den Rauswurf und Auftrittsverbot für die Sängerin Anna Netrebko mit dem Hinweis, sie habe ihren 50. Geburtstag im Kreml gefeiert. Aber er deutet es zwischen den Zeilen an.

Vor ein paar Monaten schlug Böhmermann öffentlich vor, in der Corona-Debatte keine Leute mehr in die Medien zu lassen, die Ansichten vertreten, die ihm nicht passen: “Ich finde es schwierig, wenn man Leuten eine Bühne gibt, die eine Meinung vertreten, die man nur deswegen veröffentlicht, weil man sagt, man muss auch die andere Seite sehen – und es gibt Meinungen, die sind so durchtränkt von Menschenfeindlichkeit.“

Er erweiterte diesen Gedanken noch etwas: “Meinungen im öffentlichen Raum sollten einer strengen, umfassenden medialen und gesellschaftlichen Qualitätskontrolle standhalten.“

Solche Fachleute bräuchte auch jedes Besatzungsregime, das natürlich Funk und Fernsehen nicht abschaffen, aber auch nicht zur Schwatzarena ausarten lassen will, in der Leute einfach sagen können, was sie denken. Leute, die Meinungen im öffentlichen Raum kontrollieren wollen, Demonstrationen eigentlich nur dann legitim finden, wenn sie die Zustimmung zu den Herrschenden ausdrücken, und allzeit bereitstehen, um Verdächtigungen vorzutragen, hätten ja generell die geringsten Umstellungsprobleme, wenn Putin seinen Herrschaftsbereich bis zum Rhein und ein Stückchen weiter ausdehnen würde. Auf die Liberalität empfinden sie den gleichen kalten Hass wie Sixtus auf Tarnfleckträger.

Mit diesem Kadermaterial, würde sich der gebildete Kulturoffizier in der Kommandantur sagen, können wir arbeiten. Diese Leute mögen persönlich sehr unangenehm und auch etwas schmierig sein. Aber sie sollen schließlich auch ihre eigenen Landsleute schikanieren und überwachen, nicht uns. Überhaupt kommt es auf die Bereitschaft zum Schikanieren an. Auch und gerade in den unteren Chargen, denn ein Sixtussowitsch und ein Böhmermannski möchten sich ja nicht unmittelbar die Hände beschmuddeln, sondern fragen nur für einen Freund.

Für die mühevolle Kleinarbeit weit unten in der Hilfswilligenabteilung braucht es beispielsweise Leute wie den Betreiber eines süddeutschen Restaurants, der auf einem Schild mitteilte, Gäste mit russischem Pass kämen ihm nicht ins Haus.

Mittlerweile soll er die Verbannung wieder zurückgenommen haben, weil er die öffentliche Unterstützung für seine Courage doch etwas überschätzt hätte. Aber sollte diese Unterstützung zunehmen, würde dieser Typus das Schildchen auch wieder hinstellen. Und wenn es irgendeine Autorität verlangt, würde der Wirt sein wachsames Auge auch auf jede beliebige andere Gruppe werfen, um eine strikte Unwillkommenskultur durchzusetzen. Diese Bereitschaft zählt. Die jeweils zu überwachende und zu triezende Gruppe ist austauschbar. Das können Ungeimpfte sein, russische Passinhaber und übermorgen die Verrückten, die sich abfällig über die Maßnahmen der Besatzungsbehörde äußern.

Auch derjenige, der per Rundschreiben festlegte, Russischer Zupfkuchen dürfe in Zukunft und als Zeichen für Zeichensetzung nur noch Zupfkuchen heißen, würde jedes beliebige andere Rundschreiben aufsetzen, von dem er sich offizielle Anerkennung verspricht.

Solche Leute treten meist bescheidener als ein Böhmermannski auf, sie erwarten gar nicht die große Bühne und eine umfangreiche Beteiligung an eingetriebenen Geldern. Das wärmende Gefühl, zusammen mit anderen das Richtige zu tun, reicht in aller Regel schon aus, verbunden natürlich mit der Furcht, mit den Falschen gesehen zu werden.

Wer in diesen Tagen neben der Opernsänger- und Dirigentenbekämpfung und dem Aufruf, reiche Russen in Deutschland aufzuspüren, auch die Hinweise in den Supermärkten registriert, russische Produkte würden demnächst nicht mehr verkauft – wobei mit den vorhandenen schnell noch eine Rabattaktion veranstaltet wird, es muss ja alles raus –

und Meldungen von der Kündigung eines russischstämmigen Sportlers bei der Formel 1 liest, der meint möglicherweise, solche Szenen wären nicht ganz neu, und findet sie tatsächlich in Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ von 1915 bis 1922 taufrisch beschrieben:

„Der Fahrgast: Können Sie wechseln? (Reicht ihm ein Zehnkronenstück in Gold)
Der Fiaker: Wechseln, wos? Dös nehm i net als ganzer, dös könnt franzeisches Geld sein!
Ein Hausmeister (nähert sich) Wos? A Franzos? Ahdaschaurija. Am End gar a Spion, dem wer mrs zagn! Von woher kummt er denn?
Fiaker: Von der Ostbahn!
Hausmeister: Aha, aus Petersburg!“

Es soll hier festgehalten werden – gerade deshalb, weil es die üblichen Verdächtigen sofort bestreiten –, wie viele von den wohlmeinenden Weltoffenen, die dumpfen Ansichten immer nur bei den anderen riechen, sich in diesen Kriegstagen kaum anders verhalten als ihre Vorvorfahren 1914, als jeder Propagandaschuss und -stoß auch einem zivilen Ruß’ oder Franzos galt.

Diejenigen, denen Karl Kraus damals die Worte abgelauscht hatte („die grellsten Erfindungen sind Zitate“), existieren als Typus unkaputtbar fort, bewegen sich grundsätzlich im Kollektiv und folgen jeder beliebigen Parole, Hauptsache, sie richtet sich im weitesten Sinn gegen Intelligenz und Freiheit. Für diese Leute findet sich naturgemäß auch in einer Besatzungsordnung ein warmes Plätzchen. Weit unter der Sixtussowitsch-Ebene, aber immer noch hoch genug, dass sie auf andere spucken können, die ihnen ein leitender Haltungsschaffender als Feind zuweist.

Überhaupt, die gesamte deutsche Schnatterkaste aus Qualitätsmedienmitarbeitern, Haltungspolitikern, Rechtfertigungsgelehrten, FFF-Quälgeistern und hauptamtlichen Mitarbeitern der Amadeu-Dzierżyński-Stiftung müssten eigentlich überhaupt nichts ändern. Sie würden von den klugen Kommissaren der Oblaste Deutschland Nord, Mitte und Süd komplett übernommen. Denn erstens besitzen die oben genannten einheimischen Spezialisten eine unbestreitbare Kompetenz im Überwachen und Schurigeln der eigenen Landsleute. Und zweitens gäbe es für sie gar keine berufliche Alternative, da ihnen jede andere nützliche Fähigkeit abgeht. Diese Konstellation bindet solche Leute unfehlbar an jeden Geldgeber.

Vor einigen Tagen wurde der Journalist Harald Martenstein aus dem Tagesspiegel gedrängt, nachdem eine ZDF-Journalistin und zwei andere vorbildliche öffentliche Persönlichkeiten der Sixtus-Klasse gegen ihn eine Kampagne gestartet hatten, vor der die Tagesspiegel-Chefredaktion halb einknickte und halb hinsank. Diese und andere Redaktionen würden sich auch schneller von jedem Kollegen distanzieren, der nicht ganz auf Linie der Besatzungsbehörden schriebe, als dort überhaupt jemand ‚dawai‘ sagen könnten. Die klugen Kulturoffiziere würden staunen, wie selten sie selbst eingreifen müssten.

Etliche der oben schon erwähnten deutschen Putinfreunde, die schreiben, sie hätten ihn liebend gern als Kanzler, wünschen sich übrigens ja gar nicht Putin selbst, von dessen Methoden und Ansichten sie vermutlich wenig wissen. Sie erhoffen sich nach dem tribalistischen Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ jemanden, der im Westen aufräumen soll mit Genderstern, Verächtern alter weißer Männer, Pattexkindern und anderen Heimsuchungen im Zeichen des rosafarbenen Einhorns.

Ich bekomme jedenfalls ab und an Zuschriften, die eine entsprechende Hoffnung ausdrücken. Allerdings, diejenigen, die so etwas glauben, würden im Fall des Falles bitter enttäuscht. Wahrscheinlich ginge das neue Management des Landes mit Klebkindern tatsächlich weniger nachsichtig um, zumindest dann, wenn sie sich auf strategisch wichtigen Pisten festmachen. Aber der Genderstern würde selbstverständlich bleiben. Er wäre ein integraler Bestandteil der neuen Ordnung mit den Politruks Sixtussowitsch, Böhmermannski, Tagesspiegel-Redakteuren und der Amadeu-Dzierżyński-Stiftung. Was glauben Sie denn? Wer dieses nützliche Milieu weiterbeschäftigt, der weiß auch über das Zubehör Bescheid. Alle Kolonialverwaltungen und Besatzungen, die lange andauerten, dauerten deshalb so lange, weil die Verantwortlichen ein gutes Auge für lokale Eigenheiten besaßen, die ihnen zwar fremdartig vorkamen, von denen sie aber begriffen, dass sie der reibungsarmen Herrschaftsausübung dienten.

An dieser Stelle will ich auch auf die aktuelle Propagandalage östlich von uns hinweisen. Bekanntlich erklärt Putin, er führe diesen Krieg, um die Ukraine zu entnazifizieren. Natürlich ist die Behauptung absurd; seine Entnazifizierung besteht darin, Wohnsiedlungen in einem Land zu bombardieren, in dem ein jüdischer Präsident regiert. Wie jede Propaganda gibt es aber auch in Putins Argumentation sogenannte Anknüpfungstatsachen. In der Ukraine beziehen sich viele positiv auf Stepan Bandera, einen Anführer der ukrainischen Nationalistenbewegung OUN, die zweifellos antisemitisch war, und zeitweise die deutschen Besatzungstruppen in der Ukraine unterstützte. Allerdings passten seine Vorstellungen von einer unabhängigen Ukraine nicht zu denen der Nationalsozialisten; Bandera landete zeitweilig im KZ Sachsenhausen, wobei er dort den Status eines Häftlings mit Vorzugsbehandlung besaß. Nach dem Krieg wohnte er in der Kreittmayrstraße 7 in München, bis ihn 1959 ein KGB-Agent erschoss.

Geschichte ist kompliziert, selten gibt es die säuberliche Trennung oder das Jenseits von Gut und Böse. Jedenfalls, wer Material für seinen Propagandakrieg braucht, kann sich auch aus diesem historischen Graufeld bedienen, obwohl es natürlich nicht das Geringste daran ändert, dass Putin mit äußerster Rücksichtslosigkeit über das Nachbarvolk herfällt.

Aber glauben Sie, seine Statthalter, wenn es sie in Deutschland gäbe, würden ausgerechnet auf diesen beliebig gedehnten Faschismusbegriff als allzeit einsetzbaren Knüppel verzichten, vor allem dann, wenn sie aus praktischen Gründen mit Leuten zusammenarbeiten, die diesen Schlagbegriff schon jetzt völlig entgrenzt verwenden?
Dochdoch, das kann man vergleichen. Man sollte es sogar. Vergleichen bedeutet, Unterschiede festzustellen, aber auch ähnliche Muster.

Auch deshalb würden hypothetische Statthalter mit zwar nicht sowjetischer, aber putinistischer Ausrichtung in Deutschland ein ganz anderes Regime errichten, als es sich manche ausmalen. Vor allem – und darauf wette ich alle AK47-Patronenhülsen, die ich als Kind eingesammelt hatte – würde es aus den oben aufgezählten Gründen tadellos funktionieren. Vielleicht glauben einige Leser nicht, dass eine derart große Zahl von Politikern und Journalisten einfach die Ansichten wechseln würde, wenn plötzlich eine Besatzungsbehörde von ihnen eine Anpassungsleistung verlangt.

Mittlerweile gibt es im Netz etliche Videos, in denen Politiker fast aller Parteien versicherten, es werde keine Impfpflicht geben, auch nicht indirekt, es gebe dazu nicht die geringsten Pläne, bei anderslautenden Behauptungen handle es sich um Falschmeldungen und Verschwörungstheorien. Viele begründeten ihre Beteuerung sogar inhaltlich. In dem gleichen Video sind dann die gleichen Politiker mit der Feststellung zu sehen, natürlich brauche das Land eine Impfpflicht, sie sei völlig alternativlos und werde kommen.

Es handelt sich ja nicht einfach um einen Kurswechsel. Den kann es in der Politik immer geben. Das Grauenerregende liegt darin, dass keiner von ihnen erwähnt, noch vor ein paar Wochen das exakte Gegenteil verkündet zu haben, keiner seinen Meinungswechsel begründet, und viele sogar behaupten, sie hätten noch etwas anderes gesagt.

Ihre Meinung – erst die eine, dann die andere – tragen sie mit starrem Blick und uniformem Vokabular vor; es fällt schwer, bei diesem Anblick nicht an die gekaperten Menschenkörper in „Invasion of The Body Snatchers“ zu denken, die Pod People. Wer bei einem zentralen politischen Thema derart roboterhaft umschwenkt und es noch nicht einmal für nötig befindet, den Schwenk zu erklären, der vollzieht noch ganz andere Meinungswechsel von heute auf morgen. Erst recht, wenn sie durch etwas mehr Druck als sonst befördert werden.

Wenn immer jemand die Stützen der bundesdeutschen Gesellschaft mit der DDR oder den wichtigen Kreisen in Putins Staat vergleicht oder die Dystopie einer russischen Besetzung mit Böhmermannski und anderen fluiden deutschen Helfern entwirft, dann stampft das gute wohlmeinende Deutschland mit dem Fuß auf. Ehrlich gesagt: Gehörte ich dazu, würde ich das auch tun. Es lässt sich ja kein größerer und beschämender Kontrast vorstellen als der zwischen den russischen Historikern, sich gerade unter Inkaufnahme aller möglichen Schikanen gegen Putins Krieg aussprechen, den Künstlern am Meyerhold-Theaterinstitut in Moskau, die für ihren Protest die Anstellung riskieren, und den deutschen Haltungswissenschaftlern an Universitäten, den Haltungskünstlern und Haltungsmedienheuchlern, die sich noch an dem absurdesten Kesseltreiben gegen Abweichler beteiligen, mitunter noch nicht einmal aus Überzeugung, sondern aus bloßer Angst, anderenfalls selbst zum Ziel einer Kampagne zu werden.

Leider tut sich der Boden nicht auf, um diese Überzeugungsopportunisten verschwinden zu lassen. Eigentlich tat sich der Boden für diese Leute im Lauf der Geschichte noch nie auf. Daher die Zuversicht in diesen Kreisen. Es gehört zur naturtrüben Wahrheit, dass in dem Westen, auf den viele, die jetzt in der Ukraine in Kellern hocken, dringend hoffen, hemmungslose Selbstoptimierer den Ton angeben, die heute das eine meinen, morgen das andere, die Individualität und freies Denken verdächtigen, wo sie nur können, die heute kollektiv das eine und morgen ebenso kollektiv das Gegenteil als alternativlos herauströten, die heute dazu auffordern, diese Gruppe mit Hundekot zu bewerfen, und morgen dafür eine andere ins Auge fassen. Vermutlich ekeln sie sich manchmal ein bisschen vor sich selbst. Aber auch nicht übertrieben oft. Ich wünschte, es wäre anders.

Zu den nicht ganz so naturtrüben Erkenntnissen gehört es aber auch, dass sich freiheitliches Denken nur entweder nach allen Seiten oder gar nicht verteidigen lässt. Aus Sicht eines Libertären, eines Freiheitsbedürftigen, einer Person, der es egal ist, ob sie zur Mehrheit gehört oder nicht – wie immer man es also definieren möchte –, aus Sicht einer solchen Person jedenfalls ist der Gegner seines Gegners eben nicht zwingend ein Freund. Er kann auch schlimmer, weit schlimmer als die Illiberalen vor der eigenen Haustür sein. Es ist wichtig, die unterschiedlichen Grade der Illiberalität in ihren Unterschieden wahrzunehmen. So, wie es auf der anderen Seite wichtig ist, sich gegen beide zu wehren.

Ein letztes Ereignis mit einem sowjetischen Soldaten, das ich 1990 gesehen hatte, trug sich folgendermaßen zu: In der Halle des Leipziger Hauptbahnhofs traf ein nicht mehr nüchterner Punk auf einen ebenfalls angeheiterten Armisten. Der Punk konnte auf Russisch entweder auch nur die Fakten über das heimische Chemiekombinat aufsagen oder noch nicht einmal das, jedenfalls kürzte er die Konversation ab, indem er einen Fünf-Ostmark-Schein zog und auf das Koppel des Gegenüber mit dem Stern auf der Schnalle zeigte. Der kapierte sofort, kanjeschno, zog seinen Gürtel aus den Schlaufen, beide tauschten und zogen weiter. Die Fraternisierung dauerte keine 30 Sekunden. In diesem sehr speziellen Fall löste sich zwar nicht die ganze Geschichte, aber ein Stück Geschichte in Wohlgefallen auf.

Es wäre schön, wenn ich aus dieser Szene etwas Allgemeines für das Frühjahr 2022 destillieren könnte. Irgendeine Hoffnung auf einen guten Ausgang. Eine allgemeine Sinnstiftung. Das kann ich nicht. Ich kann nur meinen Standpunkt beschreiben, der nicht viel weiter reicht als 70 Quadratmeter um meinen Schreibtisch.

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