Die Bundesrepublik Deutschland galt lange in Fragen der politischen Stabilität als Musterknabe unter den europäischen Staaten. Amtszeiten von 8 Jahren und mehr waren für die Kanzler nicht ungewöhnlich, und die jetzige Bundeskanzlerin schickt sich ähnlich wie ihr Vorbild Helmut Kohl gerade an, ihre eigene Amtszeit auf 16 Jahre auszudehnen, koste es was es wolle, und es wird, viel, sehr viel kosten. Von solchen Amtszeiten können z. B. italienische Ministerpräsidenten nur träumen. Die Möglichkeit eines konstruktiven Misstrauensvotums bietet die Verfassung zwar, aber erfolgreich eingesetzt wurde dieses Instrument bisher nur ein einziges Mal, gegen Helmut Schmidt. Eine Regierung, die keine klare Mehrheit im Bundestag hinter sich weiß, wäre für Deutschland also wirklich ein Novum. Daher tritt vielen Politikern und politischen Kommentatoren beim Gedanken an eine Minderheitsregierung der Angstschweiß auf die Stirn. Aber ist diese Panik berechtigt?
Blickt man auf eine mögliche Große Koalition, kommen Zweifel auf. Eine solche Koalition wäre nicht mehr als eine Zwangsehe; eigentlich ist der Vorrat an Gemeinsamkeiten zwischen CDU und SPD längst vollständig aufgebraucht. Die SPD befürchtet zu recht, dass die CDU mit ihrem dezidierten Mitte-Links-Kurs ihr erneut die Luft zum Atmen vor dem Munde wegnimmt. Einziges Mittel dagegen wäre, die CDU in einer Koalition auf eine so eindeutig linke, ja quasi sozialistische Politik festzulegen, dass ihre Wähler dann in vier Jahren eben doch abspringen und entweder für die FDP oder die AfD stimmen. Diejenigen, die in der SPD überhaupt bereit sind, sich auf eine Koalition einzulassen, sind offenbar auch entschlossen, einen solchen Kurs konsequent zu verfolgen.
Eine Kombination aus Bürgerversicherung, langfristig kaum bezahlbaren zusätzlichen Sozialleistungen, überhöhten Steuern und europäischer Transfergemeinschaft mit deutschen Netto-Zahlungsverpflichtungen von mindestens 50 bis 60 Milliarden jährlich, wie viele Politiker in Europa sie herbeiführen wollen, könnte in der Tat reichen, um die CDU endgültig zu dem zu machen, was die SPD heute schon ist: Zu einer mittelgroßen Regionalpartei, vielleicht mit anderen Schwerpunkten als die SPD, die sich vor allem auf ihre Anhänger links des Rheins, in Westfalen und in Nordwestdeutschland stützt, aber eben doch zu einer Regionalpartei.
Sinkt die CDU bei der nächsten Bundestagswahl auf rund 25 % und die Chancen dafür stehen nicht wirklich schlecht, wenn es nicht zu einem wirklichen Neuanfang in der Partei kommt, könnte die SPD sogar wieder knapp zur stärksten Partei werden, und damit den Kanzler oder die Kanzlerin in der nächsten Groko in vier Jahren stellen, die vermutlich auch dann alternativlos sein und bleiben wird. Die Frage ist nur, ob in dieser Partnerschaft zweier Parteien, die beide eigentlich invalide sind, das Land überlebt. Das erscheint zunehmend ungewiss.
Der Reiz einer Minderheitsregierung
Was spräche unter solchen Umständen gegen eine Minderheitsregierung? Sicherlich, Deutschland würde weniger intensiv regiert werden, in bestimmen Situationen könnte es zeitweilig fast unregierbar werden. Aber wie sehr sich unsere europäischen Nachbaren auf die Selbstdisziplin Deutschlands verlassen, auf seinen Pragmatismus und seinen Sinn für Zurückhaltung, sieht man ja an dem jüngsten Vorschlag des famosen Präsidenten der EU- Kommission, Juncker, von dem der Spiegel berichtete (1. 12. 17). Juncker, der als Freund und leidenschaftlicher Verteidiger der luxemburgischen und europäischen Finanzindustrie ein von vielen beneideter Meister seines Faches ist, und der Deutschland seit Ausbruch der Eurokrise mit offener Aversion begegnet, schlägt allen Ernstes vor, die Neuverschuldungsgrenze von 3 % des BIP jährlich nur noch auf die Eurozone als Ganzes anzuwenden. Zwar wurde die Meldung anschließend heftig dementiert, aber sie dürfte doch zeigen, worüber man in Kreisen der Kommission zumindest nachdenkt.
Wenn Deutschland also töricht genug ist, eine schwarze Null bei der Verschuldung im eigenen Haushalt durchzusetzen, können sich andere um so stärker verschulden. Juncker rechnet offenbar damit, dass Deutschland seine relativ sparsame Politik auch dann fortsetzen wird, wenn es selber für die unkontrolliert wachsenden Schulden der südlichen EU-Länder in Haft genommen wird, was ja faktisch schon jetzt der Fall ist.
Mittlerweile hat die Bundesregierung aber ohnehin kaum noch eine andere Möglichkeit, als das immer weitere Zurückweichen, denn aus der Falle der Haftungsunion gibt es kein Entkommen mehr, dazu reicht u. a. ein Blick auf die Target 2-Salden der Bundesbank, die sich der Summe von einer Billion Euro nähern: 1.000.000.000.000 (12 Nullen). Aber wie wäre es, wenn in Deutschland plötzlich im italienischen Stil Politik gemacht würde, wenn die Bundesregierung nach Brüssel melden müsste, so leid es uns tut, aber diese oder jene Maßnahme, die ihr verlangt, bekommen wir im Parlament einfach nicht durch. Wenn wir als Regierung überhaupt überleben wollen, dann müssen wir die Staatsausgaben massiv erhöhen und uns stärker verschulden?
Dass der Euro als artifizielle und falsch konstruierte Währung sich überhaupt noch einigermaßen behauptet, beruht wesentlich auch auf dem Vertrauen der Finanzmärkte in die Fähigkeit Deutschlands, zur Not noch jeden Scheck, den andere Regierungen in der Eurozonen ausgestellt haben, zu begleichen und sei es auf dem Umweg über Garantien oder weil seine wirtschaftliche Stärke die negativen Effekte der monetären Staatsfinanzierung durch die EZB halbwegs ausgleicht. Hätte Deutschland eine Minderheitsregierung, wäre das nicht mehr ganz so selbstverständlich, und in Folge dessen müssten sich andere in der Eurozone dann vielleicht etwas mehr Mühe geben, statt ihre Probleme auf Kosten Dritter zu lösen, ein Ausweg, der sich in einigen Ländern doch immer noch erheblicher Beliebtheit erfreut, auch wenn man die heimischen Reforminitiativen Macrons durchaus anerkennen mag. Seine Pläne für die Eurozone richten sich jedoch diametral gegen deutsche Interessen, weshalb er auch so stark an der Regierungsbeteiligung der SPD interessiert ist, nachdem seine ideale Verbündeten, die Grünen, ausgefallen sind.
Deutschland muss so „europäisch” wie die anderen werden
Ein großer Vorteil der Minderheitsregierung bleibt überdies, ein Warnsignal an unsere europäischen Partner zu senden, dass es vielleicht unklug sein könnte, die Stabilität des deutschen politischen Systems zu sehr auf die Probe stellen. Als noch russische Truppen an der Elbe standen, mussten sie daran nicht erinnert werden, sie wussten es selber gut genug, aber diese Zeiten sind vorbei, man braucht Deutschland sicherheitspolitisch nicht mehr (mit der jetzigen Bundeswehr ließe sich freilich im Ernstfall auch wenig anfangen), sondern nur noch finanziell und wirtschaftlich. Da ist eine kleine Warnung, dass wir die Kunst der politischen Anarchie, die sich in anderen Ländern so großer Beliebtheit erfreut, auch beherrschen, wenn auch auf immer noch sehr bescheidenem Niveau, vielleicht doch keine schlechte Idee. Es würde zeigen, dass wir im Sinne des europäischen Einigungsprozesses lernfähig sind und uns an die politische Kultur der Mittelmeerländer anpassen können, auch wenn wir als echte Spätentwickler diesen Lernprozess nur langsam vollziehen, aber Nachzügler waren wir Deutschen als „verspätete Nation“ ja schon immer.
Historiker Ronald G. Asch lehrt an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.