Tichys Einblick
Lob der Unregierbarkeit

Eine Große Koalition als letzter Ausweg?

Für das absolut Notwendige im Politik-Alltag wäre eine Minderheitsregierung durchaus handlungsfähig genug. Dazu braucht es keine GroKo und böte obendrein Möglichkeiten, den Anderen in der EU mit ihren Mitteln zu begegnen.

© John MacDougall/AFP/Getty Images

Die Bundesrepublik Deutschland galt lange in Fragen der politischen Stabilität als Musterknabe unter den europäischen Staaten. Amtszeiten von 8 Jahren und mehr waren für die Kanzler nicht ungewöhnlich, und die jetzige Bundeskanzlerin schickt sich ähnlich wie ihr Vorbild Helmut Kohl gerade an, ihre eigene Amtszeit auf 16 Jahre auszudehnen, koste es was es wolle, und es wird, viel, sehr viel kosten. Von solchen Amtszeiten können z. B. italienische Ministerpräsidenten nur träumen. Die Möglichkeit eines konstruktiven Misstrauensvotums bietet die Verfassung zwar, aber erfolgreich eingesetzt wurde dieses Instrument bisher nur ein einziges Mal, gegen Helmut Schmidt. Eine Regierung, die keine klare Mehrheit im Bundestag hinter sich weiß, wäre für Deutschland also wirklich ein Novum. Daher tritt vielen Politikern und politischen Kommentatoren beim Gedanken an eine Minderheitsregierung  der Angstschweiß auf die Stirn. Aber ist diese Panik berechtigt?

Blickt man auf eine mögliche Große Koalition, kommen Zweifel auf. Eine solche Koalition wäre nicht mehr als eine Zwangsehe; eigentlich ist der Vorrat an Gemeinsamkeiten zwischen CDU und SPD längst vollständig aufgebraucht. Die SPD befürchtet zu recht, dass die CDU mit ihrem dezidierten Mitte-Links-Kurs ihr erneut die Luft zum Atmen vor dem Munde wegnimmt. Einziges Mittel dagegen wäre, die CDU in einer Koalition auf eine so eindeutig linke, ja quasi sozialistische Politik festzulegen, dass ihre Wähler dann in vier Jahren eben doch abspringen und entweder für die FDP oder die AfD stimmen. Diejenigen, die in der SPD überhaupt bereit sind, sich auf eine Koalition einzulassen, sind offenbar auch entschlossen, einen solchen Kurs konsequent zu verfolgen.

Eine Kombination aus Bürgerversicherung, langfristig kaum bezahlbaren zusätzlichen Sozialleistungen, überhöhten Steuern und europäischer Transfergemeinschaft mit deutschen Netto-Zahlungsverpflichtungen von mindestens 50 bis 60 Milliarden jährlich, wie viele Politiker in Europa sie herbeiführen wollen, könnte in der Tat reichen, um die CDU endgültig zu dem zu machen, was die SPD heute schon ist: Zu einer mittelgroßen Regionalpartei, vielleicht mit anderen Schwerpunkten als die SPD, die sich vor allem auf ihre Anhänger links des Rheins, in Westfalen und in Nordwestdeutschland stützt, aber eben doch zu einer Regionalpartei.

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Die CDU ist eine Partei, die sichtbar müde und alt ist. Manche in der Partei scheinen sich fast nach dem sanften politischen Tod zu sehnen, den ihnen Merkel, die wohl geschickteste Krankenschwester, die Deutschland je mit besänftigenden Floskeln und den Mitteln der politischen Palliativmedizin regiert hat, in einer abermaligen Großen Koalition mit vermutlich dann politisch letaler Wirkung durchaus bieten könnte. Auch in den Niederlanden sind ja einstmals große Parteien entweder ganz kollabiert oder doch weitgehend marginalisiert worden.

Sinkt die CDU bei der nächsten Bundestagswahl auf rund 25 % und die Chancen dafür stehen nicht wirklich schlecht, wenn es nicht zu einem wirklichen Neuanfang in der Partei kommt, könnte die SPD sogar wieder knapp zur stärksten Partei werden, und damit den Kanzler oder die Kanzlerin in der nächsten Groko in vier Jahren stellen, die vermutlich auch dann alternativlos sein und bleiben wird. Die Frage ist nur, ob in dieser Partnerschaft zweier Parteien, die beide eigentlich invalide sind, das Land überlebt. Das erscheint zunehmend ungewiss.

Der Reiz einer Minderheitsregierung

Was spräche unter solchen Umständen gegen eine Minderheitsregierung? Sicherlich, Deutschland würde weniger intensiv regiert werden, in bestimmen Situationen könnte es zeitweilig fast unregierbar werden. Aber wie sehr sich unsere europäischen Nachbaren auf die Selbstdisziplin Deutschlands verlassen, auf seinen Pragmatismus und seinen Sinn für Zurückhaltung, sieht man ja an dem jüngsten Vorschlag des famosen Präsidenten der EU- Kommission, Juncker, von dem der Spiegel berichtete (1. 12. 17). Juncker, der als Freund und leidenschaftlicher Verteidiger der luxemburgischen und europäischen Finanzindustrie ein von vielen beneideter Meister seines Faches ist, und der Deutschland seit Ausbruch der Eurokrise mit offener Aversion begegnet, schlägt allen Ernstes vor, die Neuverschuldungsgrenze von 3 % des BIP jährlich nur noch auf die Eurozone als Ganzes anzuwenden. Zwar wurde die Meldung anschließend heftig dementiert, aber sie dürfte doch zeigen, worüber man in Kreisen der Kommission zumindest nachdenkt.

Wenn Deutschland also töricht genug ist, eine schwarze Null bei der Verschuldung im eigenen Haushalt durchzusetzen, können sich andere um so stärker verschulden. Juncker rechnet offenbar damit, dass Deutschland seine relativ sparsame Politik auch dann fortsetzen wird, wenn es selber für die unkontrolliert wachsenden Schulden der südlichen EU-Länder in Haft genommen wird, was ja faktisch schon jetzt der Fall ist.

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Wie kann man solchen Vorschlägen begegnen? Letzten Endes weiß man in Brüssel, aber auch in Paris und Rom, dass die deutsche Regierung am Ende, wenn es um die Rettung oder Stabilisierung des Euro geht, doch meistens nachgeben wird. Man spricht zwar von roten Linien, aber oft ist das nur Rhetorik, zumal die SPD ohnehin fast nie einen Grund sehen wird, den Wünschen der Partner Deutschlands nach einer umfassenden Transfergemeinschaft entgegenzutreten, man will ja schließlich keine nationalen Interessen offen verteidigen, das wäre ja irgendwie „rechts“, wie wir alle wissen.

Mittlerweile hat die Bundesregierung aber ohnehin kaum noch eine andere Möglichkeit, als das immer weitere Zurückweichen, denn aus der Falle der Haftungsunion gibt es kein Entkommen mehr, dazu reicht u. a. ein Blick auf die Target 2-Salden der Bundesbank, die sich der Summe von einer Billion Euro nähern: 1.000.000.000.000 (12 Nullen). Aber wie wäre es, wenn in Deutschland plötzlich im italienischen Stil Politik gemacht würde, wenn die Bundesregierung nach Brüssel melden müsste, so leid es uns tut, aber diese oder jene Maßnahme, die ihr verlangt, bekommen wir im Parlament einfach nicht durch. Wenn wir als Regierung überhaupt überleben wollen, dann müssen wir die Staatsausgaben massiv erhöhen und uns stärker verschulden?

Dass der Euro als artifizielle und falsch konstruierte Währung sich überhaupt noch einigermaßen behauptet, beruht wesentlich auch auf dem Vertrauen der Finanzmärkte in die Fähigkeit Deutschlands, zur Not noch jeden Scheck, den andere Regierungen in der Eurozonen ausgestellt haben, zu begleichen und sei es auf dem Umweg über Garantien oder weil seine wirtschaftliche Stärke die negativen Effekte der monetären Staatsfinanzierung durch die EZB halbwegs ausgleicht. Hätte Deutschland eine Minderheitsregierung, wäre das nicht mehr ganz so selbstverständlich, und in Folge dessen müssten sich andere in der Eurozone dann vielleicht etwas mehr Mühe geben, statt ihre Probleme auf Kosten Dritter zu lösen, ein Ausweg, der sich in einigen Ländern doch immer noch erheblicher Beliebtheit erfreut, auch wenn man die heimischen Reforminitiativen Macrons durchaus anerkennen mag. Seine Pläne für die Eurozone richten sich jedoch diametral gegen deutsche Interessen, weshalb er auch so stark an der Regierungsbeteiligung der SPD interessiert ist, nachdem seine ideale Verbündeten, die Grünen, ausgefallen sind.

Von der alten in eine neue Republik
Wiedergeburt einer handlungsfähigen Opposition
Für das absolut Notwendige im Alltag der Politik würde im übrigen eine Minderheitsregierung durchaus stark genug sein. Es würde der SPD überaus schwer fallen, z. B. einen Gesetzesentwurf im Parlament gegen die CDU durchzubringen, denn dazu bräuchte sie faktisch die Stimmen der FDP, die dazu mit der Linkspartei und den Grünen gemeinsame Sache machen müsste. Das wird sie sich dreimal überlegen und mit der AfD wird die SPD kaum zusammenarbeiten können oder wollen. Sicherlich könnte die SPD irgendwann durch die Verweigerung der Zustimmung zum Haushalt oder auf einem anderen Weg Neuwahlen erzwingen, aber gar so schnell wird das nicht geschehen, da vorher der verhinderte „Gottkanzler“ Schulz, der an der Spitze der Partei ein erstaunliches, ja fast schon heroisches Beharrungsvermögen zeigt, ausgetauscht werden müsste. Umgekehrt würde die CDU Zeit gewinnen, um einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für Merkel innerhalb eines reinen CDU-Kabinetts aufzubauen. Und dass Merkel, die zunehmend den Eindruck erweckt, nur noch als Konkursverwalterin ihrer eigenen Politik tätig zu sein, am Ende ihrer politischen Karriere steht und daher ersetzt werden muss, das müsste eigentlich jedem in der CDU klar sein, von der implodierenden CSU ganz zu schweigen.
Deutschland muss so „europäisch” wie die anderen werden

Ein großer Vorteil der Minderheitsregierung bleibt überdies, ein Warnsignal an unsere europäischen Partner zu senden, dass es vielleicht unklug sein könnte, die Stabilität des deutschen politischen Systems zu sehr auf die Probe stellen. Als noch russische Truppen an der Elbe standen, mussten sie daran nicht erinnert werden, sie wussten es selber gut genug, aber diese Zeiten sind vorbei, man braucht Deutschland sicherheitspolitisch nicht mehr (mit der jetzigen Bundeswehr ließe sich freilich im Ernstfall auch wenig anfangen), sondern nur noch finanziell und wirtschaftlich. Da ist eine kleine Warnung, dass wir die Kunst der politischen Anarchie, die sich in anderen Ländern so großer Beliebtheit erfreut, auch beherrschen, wenn auch auf immer noch sehr bescheidenem Niveau, vielleicht doch keine schlechte Idee. Es würde zeigen, dass wir im Sinne des europäischen Einigungsprozesses lernfähig sind und uns an die politische Kultur der Mittelmeerländer anpassen können, auch wenn wir als echte Spätentwickler diesen Lernprozess nur langsam vollziehen, aber Nachzügler waren wir Deutschen als „verspätete Nation“ ja schon immer.

Historiker Ronald G. Asch lehrt an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

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