Die Wähler haben keiner der im nächsten Bundestag vertretenen Parteien einen Regierungsauftrag erteilt. Dies gilt allen voran für die Union, die von den Wählern anstelle der AfD zur größten Oppositionspartei im Bundestag degradiert worden ist.
Nachdem die Kanzlerkandidaten von Union, SPD und den Grünen sich lange Zeit geweigert hatten, im Wahlkampf irgendwelche Koalitionsaussagen zu treffen, änderten sie diese Haltung in den letzten Wochen vor der Wahl. Armin Laschet bekundete, im Einklang mit Christian Lindner, zunehmend seine Präferenzen für eine „bürgerliche“ Koalition mit der FDP, nachdem Olaf Scholz und Annalena Baerbock sich immer lauter für eine „öko-soziale“ Koalition ihrer beiden Parteien aussprachen. Diese Versuche einer Revitalisierung früherer „Richtungswahlkämpfe“ zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün hatten angesichts des sukzessiven Niedergangs der beiden ehemaligen großen Volksparteien aber von vornherein keinerlei Aussicht auf Erfolg. Zwar konnte die SPD wider Erwarten ihr Wahlergebnis von 2017 um gut fünf Prozentpunkte und die Grünen ihr Ergebnis um fast sechs Prozentpunkte deutlich verbessern. Trotzdem kommen beide Parteien zusammen nur auf rund vierzig Prozent aller Wählerstimmen. Von dem im Wahlkampf propagierten rot-grünen Regierungsauftrag kann also keine Rede sein.
Noch schlechter bestellt ist es um einen schwarz-gelben Regierungsauftrag. Auch dieser im Wahlkampf propagierte Auftrag ist seit der Wahl vom 26. September Makulatur, nachdem die Union gegenüber dem Ergebnis des Jahres 2017 um fast neun Prozentpunkte auf rund 24 Prozent abstürzte und die FDP dies durch ihre nur geringfügigen Zuwächse von nicht einmal einem Prozentpunkt auf 11,5 Prozent nicht ausgleichen konnte, die mit rund einer halben Million früherer CDU- und CSU- Stimmen zudem vor allem zulasten der Union zustande gekommen sind.
Zusammen erreichen Union und FDP nur noch rund 36 Prozent aller Stimmen und liegen damit gut fünf Prozentpunkte hinter der früheren rot-grünen Konkurrenz. Die wie immer im Wahlkampf beschworene „bürgerliche“ Koalition aus Union und FDP ist als Gegenmodell zur „öko-sozialen“ Koalition aus SPD und Grünen somit ebenso Makulatur. Die Wähler erteilten offenkundig keiner der beiden Koalitionen, mit denen Union und FDP auf der einen und SPD und Grüne auf der anderen Seite in den letzten Wochen des Wahlkampfs mehr oder weniger offensiv warben, auch nur näherungsweise ein Mandat zum Regieren.
Das ist nicht wirklich neu, sondern war auch schon bei der Wahl 2017 so. Lediglich die Zahlenverhältnisse zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün haben sich seitdem zulasten von Schwarz-Gelb umgedreht. Und wie schon 2017 votierten auch jetzt wieder mehr als fünfzig Prozent der Wähler rechnerisch für die damals wie heute bestehende Große Koalition (GroKo) aus Union und SPD. Entgegen allen vorherigen Verlautbarungen kam es 2017 unter der Führung der Union zu einer erneuten Fortsetzung dieser Koalition, nachdem die Verhandlungen zwischen Union, Grünen und FDP zur Bildung einer „Jamaika-Koalition“ aufgrund unüberbrückbarer politischer Differenzen und der Sorge vor einer schwarz-grünen Dominanz in einer solchen Koalition von der FDP beendet worden waren.
Das Wahlergebnis von 2021 kann vor diesem Hintergrund mindestens ebenso als ein Wählervotum zur Fortsetzung der GroKo, dieses Mal allerdings mit einem SPD-Kanzler Olaf Scholz, gedeutet werden wie als ein Votum für eine Neuauflage einer „Jamaika-Koalition“ aus Union, Grünen und FDP oder eine „Ampel-Koalition“ aus SPD, Grünen und FDP. Weder das Ergebnis der Grünen noch das Ergebnis der FDP signalisiert einen irgendwie gearteten mehrheitlichen Wählerwillen, dass diese beiden Parteien zusammen mit der Union oder mit der SPD eine Koalition bilden sollen, nachdem sie im Wahlkampf jeweils allenfalls für eine schwarz-gelbe beziehungsweise eine rot-grüne, an keiner Stelle aber für eine grün-gelbe Zusammenarbeit plädiert haben. Ganz im Gegenteil dürften viele ihrer jeweiligen Wähler eine solche Zusammenarbeit ausdrücklich ablehnen.
Die beiden nun favorisierten Koalitionsvarianten mit grün-gelber Beteiligung wurden im Wahlkampf von den beiden Parteien den Wählern daher ganz gezielt nicht als Option präsentiert. Sie im Nachhinein nun als Ausdruck eines mehrheitlichen Wählerwillens zu interpretieren, um so die Konstruktion einer von der Union oder der SPD geführten Regierungsmehrheit zu legitimieren, grenzt daher schon an Wählerbetrug. Nicht minder grenzwertig mutet die am Wahlabend ins Spiel gebrachte Idee von Christian Lindner und Robert Habeck an, ihre beiden Parteien gleichsam zu einem eigenen Koalitionsbündnis zusammenzuschließen, um so mit gemeinsamen Forderungen Laschet und Scholz in einer Art Casting-Show zur Auswahl des Kanzlers antreten zu lassen. Dieser Plan könnte, sollte er in die Tat umgesetzt werden, Union und SPD bewusst machen, dass ihnen die Wähler rechnerisch noch einmal ermöglicht haben, ihre GroKo ohne die Grünen und die FDP fortzusetzen. Deswegen könnte er von diesen beiden Parteien wieder schneller aus dem Verkehr gezogen werden als er von ihnen dort eingeschleust worden ist.
Als Fazit bleibt somit festzuhalten, daß die Wähler keinerlei „Richtungsentscheidung“ getroffen und keiner der in den Bundestag gewählten Parteien einen Regierungsauftrag erteilt haben, der sich mit einem erkennbaren demokratischen Mehrheitswillen legitimieren ließe. Deswegen müssen sie in den vor uns liegenden, von Macht- und Ränkespielen geprägten Wochen und Monaten einen solchen konstruieren und nachträglich den Bürgern als Ausdruck ihres demokratischen Volkswillens verkaufen.
Unter einem besonders hohen Druck stehen als größte Wahlverlierer dabei die früheren Volksparteien CDU und CSU. Sie müssten im Falle einer „Jamaika-Koalition“ den Bürgern erklären, warum sie überhaupt noch einen Anspruch auf die Führung einer Regierungskoalition erheben, obwohl die Wähler sie nach sechzehn Jahren Angela Merkel mit dem schlechtesten Ergebnis seit ihrem Bestehen bestenfalls zu Juniorpartnern einer SPD-geführten GroKo, eigentlich aber anstelle der AfD zur größten Oppositionspartei im Bundestag degradiert haben, um sich von dort aus programmatisch erneuern zu können. Sollten sie sich diesem Auftrag verweigern und sich stattdessen in einer „Jamaika-Koalition“ dem öko-sozialen Zeitgeist noch weiter anpassen, ist ihr endgültiger Niedergang nur noch eine Frage der Zeit.
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