Ist es nicht ein großartiges Ereignis, dass fast 1.000 Bürger eine Veranstaltung miterleben wollen, bei der nichts anderes geschieht, als dass ein Schriftsteller und ein Lyriker miteinander streiten. Widerspricht es nicht geradezu dem weitverbreiteten Klischee der Politikverdrossenheit, denn die beiden Autoren diskutieren über nichts anderes als über Politik, darüber, was in unserem Land geschieht, in gut republikanischer Weise über die öffentlichen Angelegenheiten und vertreten gegensätzliche Positionen. Muss man nicht der Sächsischen Zeitung dazu gratulieren, dass sie diese Veranstaltung initiiert hat? Den Bürgern der zu Unrecht vielgescholtenen Stadt Dresden für ihr politisches Interesse danken? Sucht man nach einem kräftigen, lebendigen Bild für den zur Phrase entleerten Begriff der gelebten Demokratie, dann bot es sich im Dresdener Kulturpalast am Abend des 8. März, als Uwe Tellkamp und Durs Grünbein über Meinungsfreiheit, „Flüchtlingskrise“ und über die Entwicklungen in unserem Land debattierten.
Über die Haltung des Suhrkamp-Verlages ist genügend geschrieben und gesagt wurden. Er hatte mit seinem Tweet bestimmten Medien erst den Boden bereitet, von denen sie ihren Angriff auf den Autor Tellkamp starten konnten. Sie setzen dabei wieder einmal aus Mangel an Argumenten auf die Mittel der Herabsetzung, der Diffamierung. Der SPIEGEL schrieb bspw.: „Es ist nicht das erste Mal, dass Tellkamp durch rechte Positionen auffällt.“ Wie ein böses Kind auffällt, ein Rowdy, einer, der sich nicht zu benehmen weiß. Mit „rechten Positionen“ kann man allerdings allein dort auffallen, wo es nur „linke Positionen“ gibt.
In dieser Situation, wo die Berichterstattung sich gegen Uwe Tellkamp richtete, und zwar nicht inhaltlich, sondern im Ton der Empörung und sich sogar der Verlag gegen seinen Autor aussprach, hätte sich sofort, noch in der gleichen Minute, Tellkamps Kontrahent Durs Grünbein zu Wort melden müssen. Nichts von all dem geschah zunächst.
Nachdem sich Grünbein endlich äußerte, versteht man sein Zaudern. Seine Reaktion zeigt, wie inkonsistent, wie konformistisch seine Haltung ist. Statt seinen Verlag dafür zu kritisieren, dass er sich von Tellkamp distanziert hat, ärgert sich der Lyriker darüber, dass die Distanzierung Tellkamps These von der Meinungsdiktatur bestätigt und der Verlag nun als „linksliberaler Spießerverein“ dasteht. Der Blick in den Spiegel ist nicht immer erfreulich.
Was weiß Grünbein von den Nöten der Bürger in diesem Land, von dem Leid der Mädchen, vom Schmerz der Eltern, deren Töchter erstochen, vergewaltigt oder missbraucht werden, von der Diskriminierung deutscher Kinder in deutschen Schulen, in denen sie in der hoffnungslosen Minderheit sind, von den Kämpfen an der Tafel? Hat sich der Flaneur einmal in No-go-Area-Zonen begeben? In letzter Zeit auf den Hamburger Jungfernstieg? Es sieht nicht danach aus.
Stattdessen stilisiert er sich in einem Akt peinlicher Selbstheroisierung als „Gladiator“, der in einen „Kampf“ hinaus geht und dabei die „Lüste des Publikums, das seit zweitausend Jahren Abendland immer dasselbe will: Unterhaltung, Blutvergießen, Geschrei“ zu kennen meint. Ist Durs Grünbein aus Dresden-Hellerau wirklich am 8. März 2018 mit dem Schwert in der Hand in eine Arena getreten und hat einen Kampf vor einer blutgierigen Menge auf Leben und Tod geführt? Hat ihm niemand zuvor gesagt, dass wir im 21. Jahrhundert leben und er in eine Podiumsdiskussion geht, die von mündigen Bürger besucht wird, die an Standpunkten und Argumenten interessiert sind, nicht aber am Metzeln und am Blutvergießen? Der Wirklichkeitsverlust ist atemberaubend.
Durs Grünbein, der Welterfahrene, der Weltreisende kann den Gegner nur als „Heimatdichter“ sehen, als einen, der in geistiger Provinzialität haust, in seinem hofffnungslosen Hinterwäldlertum Ressentiment auf Ressentiment häuft und der für ihn, den Weltläufigen, eigentlich nur ein „Sparringspartner“ sein kann. Ein Gladiatorenkampf mit „Sparringspartner“?
Grünbein bedient die im medialen Establishment beliebte Mär vom Ostdeutschen als Migranten, der fremd in seinem Land ist. Wenn er die Larmoyanz des Ostdeutschen anprangert, spürt man die Abneigung, die er empfindet. Der Eindruck drängt sich auf, dass der Weltreisende so gern den ostdeutschen Staub von seinen Schuhen streifen möchte.
Doch die Entfremdung des Landes von seinen Bürgern ist eine gesamtdeutsche Entwicklung, die übrigens auch gesamtdeutsch wahrgenommen wird, und die ihren Ursprung in der permanenten Übertragung von nationalen Souveränitätsrechten auf die Brüsseler Ebene, in der Ausplünderung von Sparern, aber auch von Versicherten durch die Nullzinspolitik der EZB und schließlich durch eine Masseneinwanderung in unsere Sozialsysteme hat.
Es sind eben nicht dumpfe Ressentiments, Vorurteile, Neid- und Benachteiligungsgefühle, die Bürger bewegen, es sind auch nicht die Abgehängten und Denkschwachen, die zu den Matadoren eines rot-grünen Establishments mit schwarzer Kanzlerin auf Distanz gehen, sondern es sind Gutverdiener, Menschen, die im Berufsleben stehen, die Rechnen, Denken und Wahrnehmen können und sich deshalb um ihre, vor allem aber um die Zukunft ihrer Kinder sorgen. Übrigens, in Ost und West.
Über die Buchhändlerin Susanne Dagen, die die Charta 2017 initiiert hatte, spricht er abfällig als über diejenige, die „den ganzen Bohei losgetreten hat“ – was für ein vollendet dichterischer Ausdruck. Menschlich sind die Zeilen über die Buchhändlerin niederschmetternd, verraten sie doch viel über den Lyriker, sprachlich nicht minder.
Durs Grünbein arbeitet mit Versatzstücken, mit denen er so verzweifelt wie erfolglos versucht, gegen den Andrang der Wirklichkeit anzukämpfen. Der Lyriker schreibt am Schluss seines Textes: „Man hat mich gefragt, wo an diesem denkwürdigen Abend in Dresden die Dichtung geblieben war.“ Ich hingegen fragte mich nach der Lektüre des Textes, wo die Stringenz des Denkens, die Logik der Argumentation und die Sprache des Lyrikers in dem gereizten, verschwiemelten Text geblieben war.