Tichys Einblick
Ein Jahresvorblick:

Das Ende der schnatternden Klasse durch künstliche Intelligenz und die Unsterblichkeit

Mit Chat GPT gibt es ein Programm, das den Journalismus und das gesamte akademische Milieu radikal umpflügen wird. Wahrscheinlich macht es die Öffentlichkeit aber auch gleichförmiger. Es dürfte die Gesellschaft jedenfalls tiefer verändern als Mobiltelefon und Computer.

Symbolbild

IMAGO / Panthermedia

Wirklich große Umwälzungen kommen meist unter unauffälligen Namen. Einer lautete DynaTAC 8000X; es handelte sich um das erste in Serie gebaute schnurlose Telefon der Welt, das Motorola im Jahr 1983 auf den Markt brachte.
Es ging auf einen namenlosen Prototyp zurück, mit dem sein Erfinder Martin Cooper, ein Ingenieur des Jahrgangs 1928, schon am 3. April 1973 in New York das erste Gespräch führte (er rief Bell Laboratories an).

Am 20. November 1985 präsentierte Microsoft eine Entwicklung mit der Bezeichnung Windows 1.0, die erste grafische Benutzeroberfläche für seinen Personal Computer. Das System – und noch einige Entwicklungen mehr – machten aus dem Rechner einen Alltagsgegenstand.

Am 30. November 2022 ging Chat GTP von einem Rechner in San Francisco Online, ein Chatbot, also ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Kommunikationsprogramm. GTP steht für „Generative Pre-Trained Transformer“. Gut einen Monat später, am 4. Dezember 2022, erreichte Chat GTP seine erste Million Nutzer. Das Programm lässt sich kinderleicht bedienen. Einstweilen kostet es seine Nutzer nichts. Chat GTP dürfte die Welt mindestens so stark ändern wie das mobile Telefon und der private Rechner. Möglicherweise auch stärker. Es handelt sich nicht nur um Technik, die bestimmte Dinge bequemer macht und Anwendungen ermöglicht, die sich bis jetzt noch kaum absehen lassen, so, wie Cooper 1973 nicht wissen konnte, was innerhalb von dreißig Jahren aus seiner Erfindung werden würde. Der Chatbot dringt in eine sehr viel tiefere Schicht ein. Er wird die Sprache ändern und das Verhalten von Menschen. Er ändert die Matrix ganzer Gesellschaften.

Bei Chat GTP handelt es sich um eine Art Hyper-Google. Nach der Anmeldung kann der Nutzer dem Programm eine beliebige Aufgabe in das Dialogfeld tippen. Schreibe einen Essay über das Werk von David Hume unter besonderer Berücksichtigung seines Paris-Aufenthalts. Was sind die wichtigsten Investment-Trends für 2023? Schreibe eine Neujahrsansprache für Olaf Scholz. Schreibe eine Theaterkritik zu dem Stück XY im Stil der New York Times. Was hat uns Fontanes „Effi Briest“ heute noch zu sagen?

Eine Sekunden nach Eingabe entsteht der Text am Bildschirm vor den Augen des Nutzers. In der Regel dauert es zwischen 10 und 20 Sekunden, bis Chat GPT den Schlusspunkt unter den Text setzt. Teilt der Aufgabensteller mit, er sei nicht ganz zufrieden, was ab und zu passieren kann – schließlich erlebt es gerade seine ersten Praxiswochen – entschuldigt sich das Programm höflich, um noch einmal anzusetzen.

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Chat GTP kann auch Kurvendiskussionen durchführen und in verschiedenen Programmiersprachen Codes verfassen. Aber nichts wirkt mit hoher Sicherheit so umwälzend wie seine Fähigkeit, Texte zu beliebigen und durchaus komplexen Themen auszuspucken. Sie bestehen aus bekannten Daten und Versatzstücken, angefangen von Wikipedia über journalistische Texte bis zu akademischen Datenbanken (in der Anglosphäre existieren gewaltige digitalisierte und bestens verschlagwortete Materialmengen). Eine gewisse Ambivalenz erzeugt das Programm durch eine sehr vorhersehbare Einerseits-Andererseits-Erörterung bei philosophischen und politischen Themen. Seine Texte besitzen eine vernünftige Gliederung, die Formulierungen wirken klar, Abschweifungen und Redundanzen finden sich nicht, auch keine Rechtschreibfehler. Im Stil versucht sich Chat GPT den Vorgaben anzupassen, mit wechselhaftem Erfolg zwar, aber bei ausreichendem Trainingsmaterial imitiert er ein bestimmtes Medium oder eine bestimmte Textsorte schon halbwegs gut. Seine Texte lesen sich durchweg flüssig. Die Welt stellt zurecht fest: „Sie übertreffen die Ausdrucksfähigkeit vieler Studierender deutscher Hochschulen bei Weitem, aber auch von Managern und Führungskräften.“

Den Turing-Test würde Chat GTP nicht bestehen, die von Alan Turing entwickelte Prüfung, mit der Menschen beurteilen, ob sie mit einem anderen Menschen oder einem Programm kommunizieren. Die Texte des Chatbots lesen sich zwar korrekt, allerdings auch völlig steril. Wer etwas Sprachempfindlichkeit mitbringt, erkennt die (sauberen) Fugen zwischen den konventionellen Textbausteinen. Es gibt nicht die kleinste Überraschung in den Aufsätzen von Chat GTP, keine verblüffende Argumentationskurve, vor allem nicht ein Körnchen Witz. Es gibt kein Risiko des Autors – mangels Autorenschaft. Kurzum, Chat GTPs Produktion unterscheidet sich nicht von etwa einhundert Prozent aller Pressemitteilungen, ebenfalls nahezu einhundert Prozent aller politischen Reden, den meisten akademischen Aufsätzen und der Mehrzahl aller medienmenschengemachten Texte. Am besten fragt man Chat GTP selbst, was er damit mittelfristig in den Medien bewirkt. Seine Antwort an den Autor dieses Textes, gegeben am 29. Dezember 2022, lautet folgendermaßen:

“Es ist schwierig, die Zukunft des Journalismus exakt vorauszusagen, wenn Chat GTP oder irgendeine andere spezifische Technologie populär wird. Aber es ist wahrscheinlich, dass die Nutzung von künstlicher Intelligenz und Automatisierung im Journalismus sich in Zukunft ausweiten wird. Das könnte zu Änderungen in der Art führen, wie Nachrichten produziert und verbreitet werden, und auch die Rollen und Verantwortlichkeiten von Journalisten ändern.“ (“It is difficult to predict the exact future of journalism if ChatGPT, or any other specific technology, becomes popular. However, it is likely that the use of artificial intelligence and automation in journalism will continue to increase in the future. This may lead to changes in the way news is produced and distributed, as well as the roles and responsibilities of journalists.”)

Wann wurde je ein Kündigungsschreiben für große Teile einer Branche so höflich verfasst? Und vor allem durch eine Maschine, die niemand dafür hassen kann?

Bots, die Texte oder auch Bilder und Grafiken fabrizieren, gibt es schon seit längerem. Manche Medien lassen schon Sport- und Börsennachrichten, also einfache Texte, die faktisch nur aus Standardfloskeln bestehen, von Maschinen schreiben. Es gibt KI-Programme, die aus verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten eine neue produzieren, indem sie die Inhalte bündeln, neu abmischen und manche Formulierungen leicht verändern. Mit anderen Worten: Sie arbeiten ähnlich wie viele Doktoranten, nur deutlich schneller und rechtschreibsicherer. Die wahrscheinlich erste vollständig maschinengenerierte Studie mit dem Titel: „Lithium-Ion Batteries: A Machine-Generated Summary of Current Research“ erschien schon vor drei Jahren im Springer-Wissenschaftsverlag.

Seit kurzem wartet neben etlichen ähnlichen bilderzeugenden Angeboten auch die Software Dall-E 2 auf Aufträge; sie entwirft auf Zuruf beliebige Szenen im Stil von Vermeer, Gustav Klimt, David Hockney und anderen. Beispielsweise, wie eine Kunstredakteurin in der Weihnachtsausgabe der „Financial Times“ schrieb, „ein Formel1-Rennen auf dem Mars im Stil von van Gogh“. Bei dem Schöpfer von Dall-E-2 handelt es sich offenbar um den gleichen, der auch Chat GPT in die Welt schickte. Sein Schreib-Bot unterscheidet sich von den Vorläufern dadurch, dass er wesentlich komplexere Texte liefert, in einem variablen, gut lesbaren Stil und zu nahezu allen Themen. Mit jeder neuen Nutzeranfrage und jedem Tag lernt das Programm mehr. Es dürfte also nicht schon übermorgen, aber in mittlerer Frist zumindest in die Nähe des „Großen Automatischen Grammatisators“ kommen, den Roald Dahl 1953 für seine gleichnamige Kurzgeschichte ausheckte. Dort macht die Maschine nach und nach die Schriftsteller Englands arbeitslos, am Ende auch den Erzähler. Die stillgelegten Autoren verarmen trotzdem nicht. Sie erhalten von dem Programmbetreiber eine Art Gnadenbrot.

Was uns zum Journalismus der Zukunft bringt, beziehungsweise zu dem, was Chat GPT und ähnliche Programme davon übriglassen. In der kommenden Pulverisierung einer ganzen Kohorte von Leitartikeleminenzen und -respektabilitäten verwirklicht sich die erste und noch gar nicht mal größte Auswirkung der neuen Bot-Generation.
Wie schon erwähnt: Je stereotyper eine Textsorte, desto perfekter kann Chat GTP sie in einem Bruchteil der Zeit herunterschreiben, die ein Journalist bräuchte. Für die jährlich wiederkehrenden Ratgeberartikel beispielsweise, wie wohlgesinnte Großstadtkinder zu Weihnachten ihren unaufgeklärten Onkel Heinz und die schwurbelnde Tante Heidi ertragen, bräuchte das Programm nur eine extrem kurze Lernkurve.

Die gesamte deutsche Jahresproduktion der allfälligen Artikel über Rassismus hinter jedem Busch, in jedem alten Kinderbuch und neuerdings auch auf den Berggipfeln erledigt Chat GTP demnächst wahrscheinlich in einer Zeit unter fünf Minuten.

Screenshot Süddeutsche Zeitung

Ihm würden bestimmte Pannen nicht unterlaufen, anders als humanoiden Produzenten. Es hätte beispielsweise nicht – wie die Tageschau es tat – die Geschichte über den verkannten Erfinder Maxwell Chikumbutso aus Simbabwe erzählt, dessen Fernseher keinen Strom verbraucht, sondern produziert.

Denn zum einen greift das KI-Programm mühelos auf die Grundsätze der Thermodynamik zurück, zum anderen wertet es sekundenschnell vorhandenes Material zu Personen aus, und wäre deshalb sofort darauf gestoßen, dass Maxwell mit ähnlichen Lach- und Krachgeschichtenschon seit Jahren durchs Internet tingelt. Dieses Material lag auch für die ARD-Korrespondentin in Johannesburg nur einen Google-Klick entfernt. Nur wollte sie offenbar unbedingt daran glauben, dass jemand in Afrika schon den Prototyp des Wunderfernsehers besitzt, dessen weltweitem Erfolg nur die Ignoranz des Westens im Weg steht. Chat GPT glaubt überhaupt nichts. Und anders als die ARD mit ihrem Jahresbudget von gut 7 Milliarden Euro fallen für die Programmnutzung erst einmal keine Kosten an.

Öffentlich-rechtliche Sender besitzen vorerst noch die Ressourcen, um dieses Einsparpotential zu ignorieren. Private Medien meist nicht angesichts der papier- und energiepreise, des gestiegenen Mindestlohns und der absackenden Leserzahlen.

Nachdem wohlmeinende Journalisten jahrelang die Vorarbeit leisteten, indem sie die Sprache planierten, beispielsweise peinlich darauf achteten, nicht mehr zwischen Migranten und politischen Verfolgten zu unterscheiden, sondern alle unter dem Nebelbegriff Geflüchtete zusammenfassten, indem sie also vereinfachten, standardisierten, schematisierten und Ambivalenzen ausjäteten, stellten sie selbst die idealen Arbeitsbedingungen für Chat GPT her. Das Programm stellt nur noch die Endstufe eines langen Prozesses dar. Statt sich wie heute noch damit abzuplagen, dpa-Meldungen umzuschreiben und nach immer neuen Narrativen für die immergleichen Überzeugungen zu suchen, beschäftigen sich viele Journalisten der Zukunft vermutlich damit, einen Auftrag ins Dialogfeld von Chat GPT zu tippen, und das Ergebnis ins hauseigene Layout zu übertragen. Allerdings braucht es dafür sehr viel weniger Arbeitskräfte als heute. Und ein Dialogzeilenschreiber kann auch kaum erwarten, so bezahlt zu werden wie jemand, der heute noch selbst über schwurbelnde Tanten, rassistische Berggipfel und die neueste Warnung von Karl Lauterbach schreibt.

Im übernächsten Schritt erledigt ein Programm wahrscheinlich auch die Themenvorgabe. Auch die gestaltet sich schließlich ähnlich voraussehbar, lässt sich folglich programmieren und braucht keine Menschen mehr. Meine Prognose lautet: In spätestens zehn Jahren wird das Publikum, und zwar völlig egal, welches, nur noch für Texte zahlen, die das Wasserzeichen eines menschlichen Geistes zeigen. Also eine gewisse Ambivalenz, den Willen, argumentativ einer Kurve zu folgen, von dessen Existenz der Autor bis eben noch gar nichts ahnte, die Fähigkeit, sich in Gedanken seitwärts und probehalber auch rückwärts zu bewegen, die Neigung, bei der Suche nach Quellen und Daten nach dem Prinzip von Serendipity vorzugehen, also weder ganz schematisch noch ganz regellos. Und dazu noch ein Quantum Witz. Kurzum, alles, was sich bis auf weiteres nicht oder nur sehr mangelhaft in Algorithmen übersetzen lässt. Ein ernstzunehmender humanoider Autor ist mit seinen Texten Sand und Getriebe gleichzeitig.

An dem Versuch, diese Kombination nachzuahmen, scheitert jede Maschine. Bis auf Weiteres.

Die maschinellen Texte dürften um 2033 herum vermutlich 90 Prozent der Gesamtproduktion ausmachen, aber nur noch durch Werbung und Datenverkauf Umsatz bringen. Zahlen werden Leser dann nahezu ausschließlich für menschliche Manufakturarbeit. Am ehesten dann, wenn ein Autor so etwas wie eine Signatur besitzt, also einen erkennbaren Stil.

Dass der Bot den Journalismus demnächst um- und die meisten Medienschaffenden unterpflügt, macht allerdings nur den kleineren Teil der großen KI-Revolution aus. In seinem Buch „Ages of Discord“ (Das Zeitalter der Zwietracht) führt der Kliodynamiker Peter Turchin einen großen Teil der gesellschaftlichen Spannungen in westlichen Ländern auf die Überproduktion von Funktionseliten zurück, also von Akademikern, die irgendetwas leiten, koordinieren, beraten, beaufsichtigen, die Begriffe prägen und sich vor allem in der Symbol- und Aufmerksamkeitsökonomie tummeln. Die Autorin Catherine Liu fand für diese Managerial class den Begriff „Virtue Hoarders“, Tugend-Hamsterer.

Schätzungsweise 90 Prozent dieser Managerial class beschäftigt sich damit, Texte zu erstellen. Entweder akademische Papiere, journalistische Texte, Beraterprosa, Aufrufe, Kuratorenmanifeste oder Tweets. Und das nach völlig vorhersehbaren Mustern in einem Einheitsstil von Seattle bis Wien, mit immer den gleichen Signalwörtern und Textbausteinen. Sie erzeugen nichts, was Chat GPT, seine Kinder und Enkel nicht besser, schneller und billiger herstellen könnten. Die Formel der nächsten Jahre wird also lauten: Kann eine Maschine deine Arbeit ersetzen? Oder eher nicht? Bis es einen Roboter gibt, der ein gebrochenes Wasserrohr oder eine Hochspannungsleitung besser flickt als ein Handwerker, werden noch ein paar Jahre vergehen. Der Managerial class dagegen dürfte es in den kommenden zehn Jahren ähnlich gehen wie den Handwebern beim Aufkommen des mechanischen Webstuhls.

Es liegt eine gewisse Logik darin, dass die Chattering class – auch diesen Begriff gibt es schließlich für das beschriebene Milieu – durch Chat Bots größtenteils erledigt wird. Aus dem berühmten Hund vor dem Grammophon und dem Werbespruch ‘His Masters Voice‘ wird: their machines voice.

Und zwischen beidem liegen nur gut 120 Jahre. „Master“ liefert übrigens auch das Stichwort zur wahrscheinlich größten Umwälzung durch intelligente Sprachprogramme. Der erste Auftritt von Chat GTP fand fast zur gleichen Zeit statt, da die Stanford University meldete, sie sei dabei, intern „schädliche Sprache“ zu entfernen. Es handelt sich um die „Elimination of Harmful Language Initiative“ (EHLI), ein „mehrphasiges, mehrjähriges Projekt zur Bekämpfung schädlicher Sprache in der IT in Stanford“.

Zur Schadsprache gehören unter anderem die Begriffe „Einwanderer“ (zu pauschalisierend), „schwarzes Schaf“ (konnotiert ‘schwarz‘ negativ, wobei offen bleibt, wie dann lebende und wortwörtlich schwarze Schafstiere beschrieben werden sollen) und auch „to master“ im Sinn von „master a language“, eine Sprache meistern, denn das Stanford-Eliminationsmanual belehrt darüber, dass „master“ selbst dann begrifflich mit „Versklavung“ zusammenhängt. Es fällt besonders leicht, eine KI auf eine derart tiefengereinigte, standardisierte und um alle Ambivalenzen gebrachte Schrumpfsprache zu trainieren. Und sehr viele werden in Zukunft die Dienste einer Maschine schon deshalb nutzen, weil durch sie automatisch Texte entstehen, die bei keiner Wächterinstanz mehr Anstoß erregen. Chat GPT und seine Nachfolger treiben also die orthodoxe Wende in der westlichen Geisteswissenschaft und ihren angehängten Milieus mit Warpgeschwindigkeit voran. Gerade deshalb, weil Etats und Posten für die schwatzende Klasse aus den oben beschriebenen Gründen sehr viel knapper ausfallen, dürfen sich diejenigen, die bei der Reise nach Jerusalem noch ein Stühlchen bekommen wollen, erst recht keinen Fehler mehr erlauben. Die KI-gestützte Durchformalisierung der Sprache aus Angst vor dem kleinsten Fehltritt beschreibt Dave Eggers in seinem gar nicht mehr so dystopischen Roman „Every“.

Und wie in dem Roman führt die Konformität zwangsläufig auch dazu, dass sich eine bestimmte Gruppe in der Gesellschaft verweigert, um sich erst recht ins Risiko des Denkens ohne Assistenzsystem zu stürzen. Hauptsächlich deshalb, um sich nicht zu Tode zu langweilen.

Es gibt nicht bei jedem, aber doch bei mindestens zehn Prozent der Menschen ein Bedürfnis nach Witz. Bisher scheitert auch die beste KI an dieser Aufgabe. Wie schon Peter Gay wusste: „Der Witz ist anscheinend die einzige geistige Hervorbringung, die von der Analyse zerstört wird.“ In meiner Konversation hatte ich Chat GPT gebeten, mir einen jüdischen Witz zu erzählen.

Chat GPT:
“Sure, here is a classic Jewish joke:
Why couldn’t the bicycle stand up by itself?
Because it was two-tired.”

Ich gebe zu, ich habe kurz gelacht. Das bewegt sich ungefähr auf der Ebene des siebenjährigen Neffen bei der Familienfeier.

Ich: „Aber das war kein jüdischer Witz.“ Dann erzählte ich ihm den Witz von dem jungen Mann, der zum Rabbi kommt und fragt: „Rebbe, wie werde ich unsterblich?“ („Heirate, mein Sohn“. „Ai Rebbe, und davon werde ich unsterblich?“ „Nein. Aber dein Wunsch verschwindet.“)

Chat GPT bedankte sich höflich, machte eine kleine Bemerkung dazu und verbuchte die Geschichte irgendwo in seinen Datenmassen. Nach einem Jahr Training dürfte das Programm wahrscheinlich tausend bessere Witze kennen als den mit dem müden Fahrrad. Es wird sich allerdings erst einmal keine Witze ausdenken. Sollte es 2050 doch so weit sein, hört der Autor dieses Textes gern zu. Kein Problem. Zu dem Zeitpunkt liegt das meiste sowieso hinter mir, auf schriftlichem Gebiet und auch sonst.

Zum Abschied stellte ich Chat GPT noch eine Fangfrage: „Träumst du?“

Die Antwort: „Als künstliche Intelligenz habe ich keine Träume. Das ist ein typisch menschlicher Zug. Aber wenn ich Daten durchsuche und probeweise kombiniere, geschieht möglicherweise so etwas ähnliches wie Träumen.“
Es kommen radikal neue Zeiten. Ich für meinen Teil sehe ihnen relativ angstfrei entgegen.

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