Tichys Einblick
Wer nichts mehr zu verlieren hat, kann nur gewinnen

Ein Jahr Putsch – Erdogan feiert den Untergang

Finden die um ihre Zukunft gebrachten Massen der gut Qualifizierten zusammen, dann herrscht der Bürgerkrieg auf den Straßen und in den Häusern.

Ankara, 15. Juli 2017

© Adem Altana/AFP/Getty Images

Züchtet sich der türkische Präsidialdiktator Recep Tayyip Erdogan seine eigenen „Terroristen“? Und ist es ihm bewusst? Denn jeder halbwegs klar denkende Mensch sollte sich angesichts der Vorgänge in der Türkei vor allem eine Frage stellen. Sie lautet: Was tun gut ausgebildete Soldaten und Polizisten, wenn sie über Nacht ihre Existenzgrundlage verlieren?

Gehen sie friedlich nach Hause, setzen sich vor ihren Fernseher und warten darauf, wie sie mangels Nahrungszunahme friedlich verhungern? Denn genau dieses Schicksal steht ihnen bevor, wenn sie in einem autokratischen Staat ohne soziale Absicherung ihren Job in den Sicherheitskräften verlieren. Und das vor allem dann, wenn sie angesichts einer staatlich gelenkten Stigmatisierung nicht die geringste Chance haben, irgendwo anders beruflich einen Neuanfang machen zu können.

Erdogans „Flurbereinigung“

Die überwiegend männlichen Opfer der „Flurbereinigung“ des Muslimbruders an der Staatsspitze werden sämtlichst verdächtigt, jener islamischen Sekte des in den USA lebenden Fetullah Gülen anzugehören. Allein dieser Verdacht reicht heute in der Türkei völlig aus, um aus dem Staatsdienst in die Armut verbannt zu werden. Es ist nicht nötig, dass man eine kriminelle Handlung begangen hat. Man muss einer solchen nicht einmal beschuldigt werden. Man muss auch nicht am angeblichen Putschabend an der Seite mit Vorsatz irregeführter Wehrpflichtiger gegen Erdogan skandiert haben, um der Putschbeteiligung beschuldigt zu werden. Man muss nicht irgendwo die Werke des laut staatlicher Darstellung vom Erdogan-Kumpel zum obersten Terroristenführer mutierten Gülen im Regal stehen haben, um als „Gülenist“ zu gelten.

Was die Fakten sagen
Türkei: Ein Putsch? Nein, ein Staatsstreich.
Mittlerweile ist es in der Türkei so weit, dass man nicht einmal irgendwann in Kontakt mit einer der zahlreichen Institutionen des früheren Mitstreiters Erdogans gekommen sein muss. Den Schergen des Systems reicht die bloße Behauptung – und die kann bereits aufgestellt werden, wenn einem ein nicht als absolut getreuer AKP-Mann lästiger Kollege auf der Karriereleiter vor der Nase sitzt oder man ihn aus irgendwelchen anderen Gründen gern loswerden möchte. Was derzeit in der Türkei abgeht, erinnert an die übelsten Zeiten des Stalinismus. Es reicht die Denunziation – keine staatsanwaltschaftliche Ermittlung, keine Anklage, keine Verurteilung. Wer weg soll, weil er nicht laut genug für den Diktator jubelt, wird vor die Tür gesetzt. Und er darf noch von Glück reden, wenn ihm nicht mehr zustößt. Denn wo es die gleichgeschalteten AKP-Organe ernst meinen, dann findet sich schnell ein angeblicher Grund, um vor den Freislers der Türkei zu stehen und für Jahre oder Jahrzehnte im Verlies zu verschwinden.
Erdogan feiert den Putsch

Kurz vor den offiziellen Feiern zum Jahrestag des angeblichen Putsches, mit denen Erdogan den willkommenen Anlass eines Staatsstreichs und die damit verbundene Chance, die fragile türkische Demokratie durch eine nationalislamische Diktatur mit einer neuen Kalifenfamilie ersetzen zu können, hochleben lässt, wurden nun erneut 7.563 bislang staatlich beschäftige Menschen vor die Tür gesetzt. Neben Militärs und Ministerialbeamten sollen darunter auch 2.300 Polizisten sein. Das meldet Hürriyet unter Bezugnahme auf ein entsprechendes Dekret.

7.563 Menschen – das sind in der Türkei zumeist auch 7.563 Familien, die nun in die Armut gestoßen wurden. Zuzüglich der Eltern, vielleicht der Geschwister. Denn von Vollbeschäftigung ist das Land am Bosporus Dank Erdogan‘scher Diplomatie weiter entfernt denn je. Jobs in der Verwaltung, die in sicheres und kontinuierliches Einkommen sicherten, mussten deshalb oftmals nicht nur den Beschäftigten selbst ernähren.

Ein Heer der Hoffnungslosen

Diese rund 7.500 „neuen“ Gebannten, die zur Feier des Putsches vor die Tür gesetzt wurden, dürfen sich einreihen in eine mittlerweile nicht mehr zu zählende Schar von Leidensgenossen. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass bei den aus dem Staatsdienst entlassenen mittlerweile die Zahl von 100.000 deutlich überschritten ist. Hinzu kommt die Dunkelziffer jener, die wegen Gülen-Verdachts bei privaten Unternehmen ihren Job verlieren. Denn auch, wer einen „Gülenisten“ als Lagerarbeiter beschäftigt, kann selbst schnell in den Verdacht geraten, mit der von Erdogan zur Terrorvereinigung abgestempelten Sekte zu sympathisieren. Und so trifft es dann auch nur scheinbar ausschließlich Richter und Professoren, Staatsanwälte und Lehrer, Polizisten und Ministerialbedienstete. Der staatlich verordnete Anti-Gülenismus macht auch vor dem Tagelöhner nicht mehr Halt.

Übergangsgelder oder soziale Abfederung? Die Chance, sich per Arbeitsgericht wieder in den Job zu klagen; zumindest eine Abfindung für den unberechtigten Verlust von Arbeitsplatz und Einkommen zu bekommen? Nicht in der Türkei.

Und so schafft sich Erdogan derzeit nicht nur ein Heer intellektueller Theoretiker ohne Beschäftigung, sondern eine Armee von kampferprobten, an der Waffe ausgebildeten Männern, die nichts mehr zu verlieren haben, weil sie dank Staatswillkür bereits alles verloren haben. Die Möglichkeit, die einige der älteren Semester vor allem aus dem Offizierskorps gewählt hatten, indem sie in Westeuropa um politisches Asyl nachsuchten – und dieses völlig zurecht bekamen -, ist dem Fußvolk versperrt. Ohnehin: Pässe werden eingezogen, die Kontrolleure an Ein- und Ausreisestellen haben lange Listen mit den Namen derer, die nicht herein oder nicht heraus dürfen.

100.000 und mehr Menschen ohne jede Perspektive, mit gestohlener Zukunft. In ihrer großen Mehrheit männlich, gut ausgebildet und in den besten Jahren stehend. Vielleicht nicht mehrheitlich ständig an der Waffe erprobt – aber das lernt sich. Zumindest dann, wenn man mit den Netzwerken der Leidensgenossen, die man aus besseren Tagen kennt, zu der Überzeugung gelangt, dass der Kampf um Recht und Würde für die eigene Person immer dann der Armut vorzuziehen ist, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Waffen gibt es in der Türkei an jeder Straßenecke. Der Krieg in Syrien ist immer auch Armierungslieferant für den Schwarzmarkt.

Wer nichts mehr zu verlieren hat …

Manches deutet darauf hin, dass Erdogan ahnt, was auf ihn zukommen kann – und dennoch seine „Flurbereinigung“ unbeirrt fortsetzt. Der von ihm inszenierte nationaltürkische Krieg gegen die kurdische Bevölkerung könnte so bald das geringere seiner innenpolitischen Probleme sein. Deshalb wurden die Kämpfer der faschistischen Grauen Wölfe, eine türkische SA, schon vor geraumer Zeit mit entsprechenden Kampfwerkzeugen ausgerüstet. Finden die um ihre Zukunft gebrachten Massen der gut Qualifizierten zusammen, dann könnten die bisherigen Terroranschläge für die Türkei zur Lappalie werden. Dann herrscht der Bürgerkrieg auf den Straßen und in den Häusern.

So ist denn auch die erneute Forderung Erdogans nach der Todesstrafe, vorgetragen mit dem barbarischen Eifer des frühmittelalterlichen Despoten und verknüpft mit der Drohung, den Delinquenten erst die Zunge abzuschneiden und ihnen dann das Leben zu nehmen, gut nachvollziehbar. Nur so wird er dann, wenn es zum Schwur kommt, sowohl das Drohmittel als auch das unverzichtbare Instrumentarium in den Händen halten können, um seine gefühlten Gegner nicht nur materiell, sondern auch existenziell final um ihre Zukunft zu bringen. Und sollte das dennoch nicht genügen, die um Alles gebrachten, ehemaligen Staatsbediensteten widerstandslos ihr Schicksal ertragen zu lassen, bieten sich für den neuen Sultan weitere, in der Region bereits in der Antike erfolgreich erprobte Martyrien an. So liebten es selbst einige griechische Tyrannen, ihre gepeinigten Gegner im stählernen Feuerofen auf heißer Platte zu rösten. Gern genommen auch das „In-der-Wolle-rot-färben“ – was dafür stand, den Delinquenten bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen – und was insofern recht nah an dem bereits von Erdogan angedrohten Herausschneiden der Zunge ist.

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