Am 19. Februar jährt sich das Attentat von Hanau: Tobias Rathjen tötete innerhalb kürzester Zeit vier Menschen in einer Shisha-Bar, erschoss vier weitere in einem Kiosk und einen jungen Mann in seinem Auto. Danach ging er nach Hause, tötete seine 72-jährige Mutter und richtete sich selbst. Mit Ausnahme seiner Mutter sind sämtliche Opfer Menschen mit Migrationshintergrund – die Annahme einer rechtsextremistischen Tat drängt sich auf. Wären da nicht dieses abstruse Manifest und seine vor Verschwörungstheorien nur so triefende Website. Rathjen warnte vor unsichtbaren, geheimen Gesellschaften, die das amerikanische Volk bedrohen, ohne dass es etwas davon ahnt. Er sprach mit starrem Blick und völliger Ruhe von unterirdischen Militäranlagen, in denen Kinder gefoltert und ermordet würden und fühlte sich dazu berufen, die Welt aufzuklären.
Ein Rechtsterrorist diagnostiziert
Angehörige der Opfer von Tobias Rathjen fürchten sich vor dem Mann, der laut Spiegel-Informationen die Tatwaffen und Munition seines Sohnes zurückforderte und die Gedenkstätten als „Volksverhetzung“ entfernen lassen wollte. Sie fürchten sich zurecht. Wie schon der Sohn, scheint auch Rathjen senior unter Verfolgungswahn und Halluzinationen zu leiden. Er soll laut Vernehmungsprotokollen behauptet haben, „sein Sohn sei das Opfer einer weltweit agierenden Geheimdienstorganisation geworden. Agenten hätten seinen Sohn im Wald getötet und seine Leiche im Haus der Familie abgelegt. Währenddessen habe ein als sein Sohn verkleideter Agent die neun Morde begangen.“ Die Inhalte seines Wahnkonstrukts scheinen denen seines Sohnes also sehr ähnlich, wenn nicht sogar identisch mit ihnen zu sein. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er schon 2004 mit ihm gemeinsam eine Strafanzeige wegen Bespitzelung durch einen unbekannten Geheimdienst gestellt haben soll. Vater und Sohn könnten sich in ihrem Wahn also gegenseitig verstärkt und unterstützt haben. Die Aussage einer Detektei in Wuppertal über Tobias Rathjen, „dass er sich mit einem ‚Bruder im Geiste‘ über seine Ideen austausche“, würde insofern sogar Sinn ergeben – bis heute ist seitens Ermittlungsbehörden offiziell nichts über etwaige Mitwisser oder -täter bekannt.
Übertragung von Wahnvorstellungen
Allein die Tatsache, dass Hans-Gerd Rathjen seit geraumer Zeit diverse Strafanzeigen gegen alle möglichen Nachbarn und Behörden gestellt haben soll, ist einer der Klassiker schlechthin – Klagen gegen irgendjemanden wegen seltsamen, offenkundig an den Haare herbeigezogenen Vorwürfen: Bekannte Musiker, die ihre Songtexte gestohlen haben; Nachbarn, die sich verschwören, oder das Bezirksamt, das ihnen absichtlich nicht die Leistung auszahlt, die ihnen zusteht. Klagen und Anzeigen wegen Observierungen, Hinterhalten, Inszenierungen und angeblichen Entführungen. Rathjens Anklage gegen Oberbürgermeister Claus Kaminsky vor vier Jahren wegen einer angeblichen Scheinkandidatur bei der Kommunalwahl, lässt sich ebenfalls hier einreihen. Genau wie die Strafanzeige an den Generalbundesanwalt und die Staatsanwaltschaft Hanau. Laut Spiegel „lesen [sie] sich zum Teil wirr, sind aber vor allem durchzogen von rassistischen und verschwörungsideologischen Sätzen und Bemerkungen, manches scheint wahnhaft“: teils logische, teils vollkommen unzusammenhängende dramatische Sätze mit ständigen Einwürfen sind das Muster solcher Texte – übrigens dennoch oft in gewähltem Ausdruck. Dem Generalbundesanwalt warf er zwei Tage später zusätzlich vor, seine Behörde sei eine „politische Organisation“, die „sämtliche Wahrheiten unterdrücken wollte“ – er scheint also eine Verschwörung zu vermuten, gegen die er etwas tun muss. Dazu passend, beschreibt eine Verwandte außerdem wirre Mails, die dem auffälligen Verhalten des Tobias Rathjen geähnelt haben sollen.
Berechtigte Angst vor dem Nachbarn
Hanau hätte verhindert werden können
In den Wahnkonstrukten selbst macht alles Sinn, was von außen nur noch als irrational und verstörend wahrgenommen werden kann. Wie etwa die Beschreibung eines Nachbarn im Interview mit Bild.de: Hans-Gerd Rathjen verstellte die Mülltonnen seiner Nachbarn nicht nur immer und immer wieder, er versteckte sie zum Teil sogar in seiner Garage. Eine Woche vor dem Attentat seines Sohnes soll er den Müll dann noch auf den Bürgersteig bei seinen Nachbarn ausgeschüttet haben. Auf Ansprache reagierte er nicht, bei Berührung rastete er aber völlig aus und brüllte „Körperverletzung“ und dass er die Polizei holen würde – wieder ein Hinweis auf Verfolgungswahn mit Bedrohungsgefühl. Wir hatten mal einen ganz ähnlichen Klienten, der seinen Nachbarn über Monate die Schlüssellöcher mit Zahnpasta zuklebte und seinem Müll vor ihre Haustür schüttete, weil sie ihn angeblich beobachteten und ihm etwas Böses wollten.
Ich verstehe, wenn die Nachbarn und Angehörigen der Opfer (die zum Teil selbst Nachbarn sind) vor diesem Mann Angst haben. Das Bedrohungsempfinden eines Schizophrenen in einer akuten Phase seiner Krankheit kann schnell in aggressives, unter Umständen auch tödliches Verhalten gegenüber anderen umschwingen. Drohung mit Schusswaffen, Attacken mit Messern und Eisenstangen bis hin zum U-Bahnschubsen oder der Angriff mit einem PKW treten auf. Der Fall des Hanau-Attentäters ist ein weiteres grausames Beispiel – und: Es hätte verhindert werden können. Laut Spiegel ist Tobias Rathjen bereits im Jahre 2002 kurzzeitig wegen einer Psychose aus dem Schizophrenen Formenkreis zwangsuntergebracht worden. Rathjen hatte damals wegen seiner „psychischen Vergewaltigung“ im Polizeipräsidium Oberfranken angerufen und berichtet, dass er „durch die Wand und durch die Steckdose abgehört, belauscht und gefilmt“ worden sei. Er wurde daraufhin zum Gesundheitsamt eskortiert, von einem Amtsarzt diagnostiziert und erhielt eine Empfehlung auf sofortige Unterbringung in einem Krankenhaus. Wie die meisten Psychotiker zeigte er keine Einsicht, rammte einen Polizisten mit seinem Kopf und versuchte zu fliehen, bis er überwältigt wurde. Sein wahrscheinlich damals auch schon psychotischer Vater engagierte einen Anwalt und ließ seinen Sohn noch am selben Tag aus der Unterbringung holen.
Wie ist so etwas möglich? Wieso werden offensichtlich eigen- und fremdgefährdende Menschen nicht untergebracht? Warum werden keine Konsequenzen gezogen? Die Gesetzeslage ist fatal. Polizei und Gesundheitsbehörden dürfen im Prinzip nämlich erst eingreifen, wenn es schon zu spät ist – wenn jemand ernsthaft verletzt oder getötet wurde. Und genauso kann es auch mit Hans-Gerd Rathjen laufen: Niemand wird auch nur einen Finger krumm machen, bis der Mann jemandem ein Messer an den Hals hält oder ähnliches. Das ist das Problem. Und dahin sollten sich auch die Forderungen der Angehörigen der Opfer richten. Die Gesetzeslage müsste so geändert werden, dass man im Umgang mit psychotischen Menschen mehr Möglichkeiten hat frühzeitig zu handeln. Es wäre unter anderem schon hilfreich, wenn der Sozialpsychiatrische Dienst (SpD) von anderen Stellen früher informiert werden dürfte – nach den momentanen gesetzlichen Bestimmungen durfte nämlich z.B. das bereits im November 2019 vorliegende Manifest von Tobias Rathjen nicht an den Sozialpsychiatrischen Dienst weitergeleitet werden. Der hätte zumindest theoretisch eine Unterbringung veranlassen oder den Entzug der Waffenlizenz fordern können.