Man will sich mit Anis Amri, der mit 14 oder mehr Identitäten in Deutschland unterwegs war, eigentlich wirklich nicht mehr beschäftigen. Sozialbetrug und andere Straftaten hatten den Tunesier früh den Behörden bekannt gemacht. Die für ihn zuständige Ausländerbehörde in Kleve wollte den außergewöhnlich Auffälligen schon im Jahre 2016 per Ministerentscheid außer Landes bringen lassen. Die Entgegnung vom NRW-Innenministerium: „Abgelehnt“. Seit Februar 2016 wurde Amri zudem vom LKA in Düsseldorf als islamistischer Gefährder eingestuft. Konsequenzen? Keine.
12 Tote später. Ralf Jäger, der NRW-Innenminister, der durch ein beherztes Eingreifen das Attentat auf dem Weihnachtsmarkt von Berlin hätte verhindern können, rechtfertigte sich so: „Wir können in einem Rechtsstaat Gefährder nicht einfach vorsorglich wegsperren.“ Es brauche Tatsachen, nicht Hörensagen. Das heißt, sein LKA verbreitet Gerüchte, „Hörensagen“? Wörtlich heißt es in dem LKA-Schreiben laut BamS, dass „nach den bislang vorliegenden, belastbaren Erkenntnissen zu prognostizieren ist, dass durch Amri eine terroristische Gefahr in Form eines (Selbstmord-)Anschlages ausgeht“. Da stellt sich die Frage: Versteht Jäger die Schreiben des Landeskriminalamts nicht, oder will er sie nicht verstehen?
Der Fall Amri ist längst ein Fall Jäger geworden. Wahrscheinlich war Jäger gottfroh, dass der Terrorist vor dem Attentat nach Berlin verschwand. Das legt die Antwort seines Ministeriums auf eine Anfrage seines LKA nahe. Frage: „Da die Zuständigkeit für Amri derzeit bekanntermaßen in Berlin liegt, würden wir unsere Bemühungen im Bereich des Ausländerrechts bis auf Weiteres zurückstellen.“ Antwort: „Klingt nach einem guten Plan.“ Nach ihm die Sintflut.
Weil aber die Vorwürfe seitens der NRW-Opposition nicht verstummten, kam dem Jägersmann eine super Idee. Warum nicht einen Experten beauftragen, seine, Jägers Unschuld festzustellen. Der Experte sollte natürlich nicht aus NRW kommen, das hätte gleich wieder ein G’schmäckle. Die Wahl fiel auf den Strafrechtler Bernhard Kretschmer von der Uni Gießen. Auf den ersten Blick eine gute Wahl. Der Sonderermittler habe „keine wesentlichen Versäumnisse der NRW-Behörden“ festgestellt, meldeten die Zeitungen. „Erhebliche Mängel, die den Anschlag ermöglicht hätten, habe er nicht entdeckt.“ Zwar ließ der Jurist nicht unerwähnt, dass „er nicht alle Akten habe einsehen können“, aber seinen Zweck hat er dennoch erfüllt. Danke, Herr Professor.
Der Westdeutsche Rundfunk gilt gemeinhin als „Rotfunk“. Umso erstaunlicher die gestrige Meldung: „Der Staatskanzlei war bekannt, dass der von ihr im Januar beauftragte Strafrechtler aus Gießen schon vorher einen Ruf der Uni Bielefeld erhalten hatte. Bei der Vorstellung des Gutachters, der parallel zum Amri-Untersuchungsausschuss arbeitet, hatte die Landesregierung den Ruf der Uni Bielefeld nicht erwähnt.“ Da hätte er gleich einen Gutachter der Uni Duisburg beauftragen können.
Dumm gelaufen. Und irgendwie passend zum Innenminister Jäger, der es unter allen Innenministerkollegen der Länder zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat. Als größte Fehlbesetzung seit … nun, da fällt uns keiner ein. Schauen wir uns den Mann einmal genauer an.
Aus Duisburg. Kaufmannslehre. Dann noch ein bisserl Pädagogik studiert (ohne Abschluss). Und schließlich die SPD zum Beruf gemacht. „Er steht gern breitbeinig, mit durchgedrücktem Rücken und entschlossenem Blick“, beschrieb ihn ein Journalist. In der Opposition fiel er der FAZ vor allem hierdurch auf: „Legendär ist die hohe Frequenz seiner Rücktrittsforderungen.“ Vielleicht prallen deswegen nun alle entsprechenden Forderungen an ihm ab. Dabei ist sein ministerieller Werdegang von Anfang an davon begleitet.
Sprüchekloppen gehört allerdings zu Jägers Kernkompetenzen. Wer die Vollverschleierung verbiete, müsse auch den Nikolaus verbieten. Oder: NRW sei so sicher wie nie. Die katastrophalen Zustände in seiner Heimatstadt Duisburg, die zum Magnet von Osteuropäern mit ausgeprägter Reiseneigung wurde, seien vor allem der Skrupellosigkeit von Geschäftemachern und den Hausvermietern geschuldet. Dass sich gerade im Bundesland NRW No Go Areas immer mehr ausbreiten, konterte Jäger mit der Bemerkung, der Landtag sei wegen seiner Kritiker eine No Brain Area.
Wie im Parteiprogramm verankert sieht er dafür überall „Rechtsextreme“ im Land, die Flüchtlingsheime anzünden. Der spektakulärste Flüchtlingsheimbrand in Düsseldorf, von Bewohnern verursacht, denen der Schokopudding ausgegangen war, blieb ohne Konsequenzen.
Dafür hat Jäger Dutzende Strafanzeigen wegen Beleidigung und Volksverhetzung gestellt. Der Cyberraum hat es ihm angetan. Das Ergebnis: In zwei Fällen wurden Ordnungsgelder verhängt. Bei ausländischen Tätern und „Strafgeneigten“ (ein Bonmot von Zeit-Kolumnist und Richter Fischer) setzt Jäger statt auf Abschreckung auf Entspannungskurse. Beim Fall eines Attentäters auf einen Sikh-Tempel in Essen musste er dann offenlegen, dass der 17-Jährige seit längerem an einem „Präventionsprojekt gegen gewaltbereiten Salafismus“ teilgenommen hatte.
Dabei kann er durchaus beherzt durchgreifen, wenn es der Partei dient. So versuchte der Innenminister per Erlass eine Neuauszählung der Kommunalwahl in Köln zu verhindern oder zu verzögern – sogar entgegen einem entsprechenden Ratsbeschluss der Stadt. Durch die schließlich nach einem Jahr vom Verwaltungsgericht angeordnete Neuauszählung verlor der damalige Oberbürgermeisterkandidat Ott (SPD) seinen Ratssitz.
Wenn er denn irgendwann geht (BRD-Innenminister unter Martin 100%-Schulz?), hinterlässt er in NRW einen Failed State. Sein Ruf bei der Polizei: miserabel. Selbst die traditionell sozialdemokratische Presse in NRW findet kaum lobende Worte für den seltsamen Minister.
Gibt es denn gar nichts Positives über Ralf Jäger zu berichten? Seiner Chefin, Genossin Hannelore, scheint er jedenfalls noch etwas zu bedeuten. „Warum sollte er nicht mehr im Amt sein?“, so Krafts rhetorische Rückfrage auf entsprechende Ansinnen. Immerhin fängt er viele Schläge auf, die durchaus auch der Ministerpräsidentin gelten.