Jedes Jubiläum hat seinen Anfang und das Jubiläum der „68iger“ beginnt jetzt. Obwohl sie erst nächstes Jahr 50 werden, aber der Tag, an dem die bekannteste Generation Deutschlands ihren Anfang nahm, war schon ein Jahr früher, am 2. Juni 1967. So sind die Feierlichkeiten eröffnet. Unter dem Titel: „Das wahre Erbe von 68“ verspricht die „Die Zeit“ sogar eine 4-teilige Serie, die der Frage nachgehen soll, was damals war und bis heute bleibt von der Generation, die Deutschland so verändert hat.
Der Geist dieser Jahre ist immer noch unterwegs, nicht nur in den Medien, auch in der Politik. So darf man durchaus skeptisch sein beim großen Blick zurück in die Zeit, in der es alles gleich zweimal gab. Deutschland, Europa, die ganze Welt. Geteilt vom Eisernen Vorhang gab es einen kapitalistischen Westen, angeführt von den Amerikanern und einen kommunistischem Osten, angeführt von den Russen. Dort herrschte Diktatur, im Westen Demokratie. Und je nachdem, auf welcher Seite man groß wurde, fällt heute der Blick auf diese Generation aus.
Im Westen in Jeans gegen die Amerikaner …
Vom Osten aus gesehen hat der sich bis heute kaum geändert. Weil sich die „68iger“ bis heute kaum geändert haben. Immer noch finden sie, dass sie damals auf der richtigen Seite standen. Schließlich kämpften sie gegen das Böse in der Welt und das verkörperte für sie nicht der Kommunismus, sondern der Kapitalismus, den sie schon damals am liebsten abschaffen wollten.
Auch das unterscheidet den Blick zurück. Im Osten träumten wir von ihm, weil wir vom Kommunismus längst die Nase voll hatten. So wären wir gegen ihn am liebsten so angerannt wie die „68iger“ gegen den Kapitalismus. Aber wir lebten nicht vor, sondern hinter dem Eisernen Vorhang, im unfreiesten Deutschland, jeder Widerstand konnte jederzeit dort enden, wo er sich nur noch in einer Einzelzelle austoben konnte. Anders als im Westen. In dem wuchsen die „68iger“ auf als freieste Generation, die es in Deutschland bis dahin gab. Sie konnten machen, was sie wollten. Kiffen, ficken, demonstrieren, Ärger gab es nur, wenn sie dabei welchen machten.
… im Osten von Jeans und Amerika träumen
Diese Freiheit hatten sie schon von Anfang an den Amerikanern zu verdanken. Ohne ihren Schutz hätten sie ihr Leben so gelebt, wie wir im Osten. Trotzdem ist eines der stärksten Gefühle, das die 68iger bis heute verbindet, ihr Amerikahass. Statt sich jeden Tag bei ihnen zu bedanken, beschimpften sie ihre Beschützer lieber jeden Tag. Selbst diese Freiheit hatten sie nur dank ihnen, aber auch das wollten sie schon damals nicht sehen. Sie schauten lieber nach Vietnam, und was sie dort sahen, bestärkte ihr Weltbild nur weiter.
Am 17. und 18. Februar 1968 versammelten sich deshalb Tausende Studenten zu einem „Vietnamkongress“ in der Freien Universität Westberlin, nicht weit von der Mauer entfernt. Ein Teilnehmer erinnerte sich daran so:
„Das Audimax der Freien Universität war in den Farben des Vietcongs gehalten. Und hinter der Rednerbühne hing ein Spruchband mit den Sätzen: ‚Für den Sieg der vietnamesischen Revolution. Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen.“
Darauf sind sie heute noch stolz. Der Kampf „gegen den imperialistischen Vietnamkrieg“ gehört noch immer zum Lebenselixier der „68iger“ und aller ihrer Sympathisanten. Obwohl sie auch dabei auf der falschen Seite standen. Die Vietnamesen bedanken sich heute noch bei ihnen, dass sie damals dafür gekämpft haben, damit sie in einer kommunistischen Diktatur leben sollten, statt in einer Demokratie.
Die wussten die „68iger“ schon zu Hause nicht zu schätzen, sonst hätten sie auf ihren Demos die Amerikaner statt die Russen unterstützt und den Vietnamesen wäre das Schicksal einer Diktatur vielleicht erspart geblieben. So kam es andersherum und Vietnam wurde zur nächsten Baracke des „Kommunistischen Lagers“, wie es damals hieß.
Im Oste schneiderten Vietnamesen Jeans-Kopien
In der ging es zu wie in der im Osten Deutschlands, nur das der Kommunismus dort noch armseliger war. Das erzählten uns die Vietnamesen, die nach der Niederlage der Amerikaner als billige Arbeitskräfte nach Ostdeutschland verschickt wurden. Ein paar kamen auch nach Dresden. Zum Glück. Denn einige hatten vorher in Saigon in einer Fabrik gearbeitet, die Levis Jeans herstellte. Man musste ihnen nur Stoff bringen, dann schneiderten sie Modelle, die den echten näherkamen als alle Ostjeans zusammen. So hatte die Niederlage der Amis wenigstens etwas Gutes. Auch wenn wir über sie nicht so glücklich waren wie die „68iger“. Getreu dem alten Spruch: Der Feind meines Feindes ist mein Freund und der allergrößte Feind meines Feindes ist mein allergrößter Freund, waren wir keine „Russenknechte“, sondern Amerikafans, denn Amerika stand für uns für alles, was wir hinter dem Eisernen Vorhang vermissten.
Das war nicht wenig. Manchmal schafften es die Kommunisten nicht einmal, uns ausreichend mit Klopapier zu versorgen. So gab es vieles nur wenig, nur ab und zu oder noch seltener, aber das wichtigste gab es eben nie: Freiheit. Von der konnte man nur träumen hinter dem Eisernen Vorhang: Bis hierher und nicht weiter! Sonst wirst du erschossen auf dem Weg in die weite Welt.
Am deutlichsten konnte man das in Berlin sehen. Auch die „68iger“. Berlin war schließlich ihre Hochburg und ihr Mekka Kreuzberg grenzte direkt an die Mauer, die Westberlin seit dem 13. August 1961 wie eine Gefängnisinsel umzog. Dabei war es der freieste Platz östlich des Eisernen Vorhangs, wir nannten es immer die „Insel im Roten Meer“.
„Die Mauer muss weg!“ war keine Parole der „68er“
Auch die verteidigten die Amerikaner und auch davon profitierten die „68iger“. Weil die Stadt nach 1945 zur „Entmilitarisierten Zone“ erklärt wurde, gab es keine Armee, das hieß, die Westberliner brauchten keinen Wehrdienst leisten. Man musste nur hinziehen und schon gehörte man dazu. Für viele „68iger“ aus dem Westen Deutschlands war das der Hauptgrund, in die „Mauerstadt“ im Osten zu gehen.
Dort schrieben sie sich an den Universitäten ein, die die meisten von ihnen danach nur noch ab und zu sahen, statt studieren ging es demonstrieren, am liebsten gegen alles Unrecht auf der Welt. Nur das Unrecht in ihrem eigenen Land ließ sie seltsamerweise völlig kalt. Obwohl es in Kreuzberg direkt vor ihrer Nase stand. Aber „Die Mauer muss weg!“ gehörte nicht zu ihren Parolen.
Auch sonst gab es kaum noch Proteste im Westen. Ein Schuss mitten in Vietnam ging um die ganze Welt. Ein Schuss mitten in Deutschland nur in den Rücken, den Bauch oder mitten ins Herz. So ging das Morden an der Mauer ungehindert seinen „sozialistischen Gang“, die Opferzahl erhöhte sich jährlich, bis heute sind die Zahlen nicht sicher. In den 5 Jahren bis 1966 sind 61 bekannt.
Der erste Erschossene 1967 war ein „Ossi“
Das erste Opfer des Jahres 1967 war Max Sahmland, 33 Jahre, der am 17. Februar seinen Weg in den freien Teil Berlins suchte. Wie, wurde von der „Gedenkstätte der Berliner Mauer“ so rekonstruiert:
„Gegen 2.30 Uhr versucht Max Sahmland den Signalzaun zu überwinden. Er löst Alarm aus, woraufhin vom Beobachtungsturm Wredebrücke aus das Feuer auf ihn eröffnet wird. Der „Grenzverletzer“ zeigte „Trefferwirkung, überwand jedoch die Drahtsperre“, heißt es in einem Brief des NVA-Stadtkommandanten an SED-Politbüromitglied Erich Honecker, zugleich Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates. Verletzt flüchtet Max Sahmland weiter, unterkriecht die Sperranlagen, erreicht so schließlich das Ufer des Teltowkanals und versucht, sich schwimmend zu retten. Die Grenzposten setzen ihm nach und schießen auch noch auf ihn, als er sich bereits auf West-Berliner Gebiet befindet. Max Sahmland wird von mehreren Kugeln getroffen: Eine Kugel dringt in die rechte Lunge ein.“
So war der Schuss, der keine vier Monate später Benno Ohnesorg traf, nur einer von vielen tödlichen, die bis dahin in der Stadt abgegeben wurden, aber er war der erste, über den sich die „68iger“ aufregten. Für sie war er der letzte Beweis für ihr Weltbild. In dem war der Kapitalismus das Böse und alle ihre Repräsentanten die Bösen. Im Fall des Westberliner Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras hatten sie damit am Ende sogar Recht. Allerdings ganz anders als sie es immer meinten.
Es war so etwas wie der Supergau der „68iger“. Als die Stasibehörde im Jahr 2009 Akten präsentierte, die zeigen, dass der Mann, der Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 mit einem Schuss in den Kopf tötete, als Agent der Stasi kein Repräsentant des kapitalistischen, sondern des kommunistischen Systems war. Des Systems, für das sie damals so gerne auf die Straße gingen. So hat am Ende einer von ihnen einen von ihnen umgebracht. Wenn sie das schon am Anfang gewusst hätten, wäre alles, was folgte, wahrscheinlich nie passiert. Sie wären nur die Generation der ersten Hippies in Deutschland geblieben, statt die der ersten Terroristen geworden.
Auch das gehört zum Blick zurück in diese Zeit. In der hatten die „68iger“ ihre Eltern schon von Anfang an immer wieder gefragt, warum sie nichts dagegen getan haben, als die Faschisten in Deutschland wüteten. Heute wird es allerhöchste Zeit, dass die Kinder der „68iger“ ihre Eltern fragen, warum sie nichts dagegen getan haben, als die Kommunisten in Deutschland wüteten.
Nicht mal angesehen haben sie sich das. Aber am Ende kann ich sie verstehen. Ich wäre auch lieber nach Indien als nach Bitterfeld gereist. Und gegen Amerika zu kämpfen ist bis heute nicht so gefährlich wie gegen Russland. Nennst du Trump im Westen was auch immer, twittert er einfach „Nein“. Beschimpft du Putin in Russland, sind die Folgen nicht kalkulierbar.
Das werden die „68iger“ sicher nicht machen. Aber um sein Erbe zu erkennen, muss man es erst einmal annehmen. Die ersten Schritte sind getan. Ich hoffe, ich konnte mit meinem dazu beitragen. Also, trotz alledem: Happy Geburtstag. Auch im Namen der Freiheit. Die hat am Ende ja doch noch gesiegt. Dank der „89iger“, aber das ist eine andere Geschichte …
Torsten Preuß ist Journalist und Autor.