Am Wahlabend habe ich einen Großteil der ÖR-Begleit-Kakophonie an mir vorbeirauschen lassen, am Rande einer familiären Zusammenkunft. Wie weit die Gespräche und Monologe und narzisstischen Pirouetten hinter der Glotzenscheibe von der allgemeinen gesellschaftlichen Realität entfernt sind, aber auch: von der konkreten politischen Lage im Bund und den Spielregeln der Demokratie, das ist schon sehr erstaunlich. So viel Weltfremdheit war selten, und damit ist nicht nur das politische „Programm“ der linken Parteien, voran Grüne und Sozialdemokraten, gemeint.
Nicht viel weniger erstaunen allerdings mannigfaltige Meinungsäußerungen auch in „alternativen“ Medien, die per Internet und im mehr oder weniger bürgerlich-liberal-konservativen Spektrum im Angebot sind. Natürlich, eine Riesen-Bandbreite von Bewertungen und Prognosen ist legitim und Pluralismus ist ja gerade, was angesichts einer übermächtigen Propaganda-Front der de facto wie gleichgeschalteten Massenmedien dringend zu wünschen ist.
Aber angesichts dessen, was heute zu lesen ist und schon in den letzten Tagen vor der Wahl zu lesen war, hat der Meinungspluralismus eine Lücke von der Größe nicht nur eines Scheunentors, sondern in den Ausmaßen einer Elefantenherde, die im politischen Raum steht. Offenbar sind sich alle einig in Deutschland, die Linken und (ihre) Medien und die anderen (unabhängigen) Medien ebenso: Die CDU hat unter Merkels Führung Deutschland in eine Sackgasse geführt, die Partei taugt nichts mehr, Laschet kann es nicht. Mit dieser pejorativen Sicht verbindet sich die Vorstellung, die Partei gehöre jetzt per se in die Opposition und dort möge sie gefälligst wieder zur Besinnung kommen, und dann kann man vielleicht in vier Jahren zur Bewährung noch mal draufschauen.
Wenn man den Kreis noch etwas weiter zieht, nämlich alle Parteien im Bundestag einschließend, ist es auch erstaunlich, wenn lauthals beklagt wird, nun komme es wie vorauszusehen zu einer letztlich so oder so hauptsächlich grün politisierenden Regierung – während niemand auch nur in zarten Ansätzen darauf hinweist, dass eine Koalition mit der AfD zumindest nicht mehr des Teufels sein könne als eine, die Grün und Rot mit den Kommunisten der umbenannten SED hätten einrichten wollen. Wenn man die ungefähr 15 Prozent der Wähler, die AfD oder an deren Stelle Herrn Aiwanger oder protestmäßig „die Basis“ angekreuzt haben, als demokratisch legitimes Potential in alle Ewigkeit an die Seite schiebt und insoweit der linken moralisierenden Propaganda folgt, die an Verlogenheit und Scheinheiligkeit kaum zu überbieten ist, dann hat man das Recht verspielt, sich über das Fehlen einer bürgerlichen Regierungsoption zu ärgern, sorry.
Ein Viertel Wähler als Paria, die nicht mitspielen dürfen?
Der erstaunlichste aller erstaunlichen Punkte bezieht sich allerdings auf die Bewertung der Union. Über die Person Merkel und die Folgen ihres Handelns ist dabei im Kern nicht zu streiten, das ist aus bürgerlicher Sicht eindeutig katastrophal. Hätte die Union es daraufhin verdient, übel abgestraft zu werden? Ja, natürlich. Aber genau das ist ja geschehen! Die Minimierung ihrer Wahlprozente und damit der Zahl ihrer Abgeordneten, damit auch der politischen Machtoptionen: das hat am Wahlsonntag stattgefunden. Die Union ist damit offiziell vom Wähler ausgepeitscht worden und wird noch lange an den Schmerzen tragen.
Aber hat es Deutschland verdient, dann auch konsequent nur noch von Kanzler Scholz regiert werden zu dürfen? Muss Deutschland, soweit es noch politisch auf der bürgerlichen, nicht „Transformations“-begeisterten Seite steht, leider zusammen mit der Union quasi in Sippenhaft, und sich leider von einer linkslastigen „Ampel“ regieren lassen? Was für eine Art politischer Moral ist das denn?
Es ist auch für die Regierungsbildung irrelevant, dass die SPD gewonnen und die CDU verloren hat, gegenüber 2017. Ungefähr 25 Prozent der Stimmen für die eine Partei sind nicht prinzipiell mehr oder weniger wert als der sehr ähnliche Stimmenanteil für die andere Partei. Die Bestrafung (verdient!) der Union liegt eben darin, dass sie so tief gefallen ist. Noch draufzusatteln, dass dieses knappe Viertel der Wählerstimmen gefälligst nur in der Opposition agieren dürfe, ist eine blanke Unverschämtheit gegenüber diesem Viertel der Wählerinnen und Wähler. Ihre Stimmen sind nicht weniger wert als das Viertel der Scholz-Wähler, über die minimale Differenz der Zahlen hinaus.
Wenn zwei Fußballteams gegeneinander antreten, dann zählt nur der aktuelle Trainingszustand. Ob das eine Team von der ersten in die zweite Liga abgestiegen ist, während das andere neulich noch vor dem Abstieg in die Regionalliga zittern musste, sich aber an den letzten drei Spieltagen gut gefangen hat, kann kein Vorentscheid für das letztgenannte Team sein. Aber im großen Polit-Match ums Kanzleramt schreit die Pressetribüne, der Erstliga-Absteiger gehöre disqualifiziert und müsse ohne Spiel in die Kabine, und ohne Abendessen und Fernsehen ins Bett. Was für eine Albernheit, völlig unsportlich, absolut unfair, und erneut weltfremd.
Diese konsequenzlüsterne Haltung erklärt die Laschet- und Söderwähler de facto zu Bürgern zweiter Klasse, deren Stimmen und die darauf basierenden Mandate irgendwie von vornherein keine Regierungsperspektive verdienen, so wie auch die mehr als 10 Prozent für die AfD nicht und die paar Prozent für die bürgerlichen Protestparteien, die man durch die Fünfprozenthürde draußen vor hält. Das sind zusammen mehr als ein Drittel aller Wähler – beinahe 40 Prozent (!), die man für demokratische Paria zu halten scheint.
Nur mal angenommen, Armin Laschet meint es ernst mit der strategischen Neuausrichtung jenseits der bleiernen Merkel-Ära, zugunsten echter Reformen: Wenn er Macht ausüben, die Kommunikation als Regierender stark beeinflussen und Belohnungen an Parteifreunde verteilen kann, hat er wirklich eine Chance, die CDU neu aufzustellen. Wenn er als kompletter Verlierer ohne echten Einfluss nur noch Reden halten kann, wird ihm genau das eher nicht gelingen und die Union wird sich ungünstigenfalls komplett zerfleischen.
Rechte Lust am Untergang? Sonthofen 2021?
Das kann man als „Bestrafung für 16 Jahre Merkel“ rein emotional richtig finden, aber dann fehlt in Deutschland eine maßgebliche Kraft, die das pragmatisch-bürgerliche Spektrum repräsentieren könnte. Wer soll denn diese Rolle übernehmen? Dass dringend so eine Partei gebraucht wird, ist offensichtlich. Gerade wenn man nicht will, dass alles nur noch der linksgrünen Schickeria aus weltverbessernden, moralisierenden, arroganten „Eliten“ hinterdreinläuft. Kann es sein, dass es nicht nur auf der klimafanatischen Linken eine Lust an der Selbstzerstörung gibt und am mutwillig herbeigeführten Untergang Deutschlands als freies, wirtschaftlich prosperierendes Gemeinwesen – sondern dass auch im liberal-konservativen Spektrum der Ekel so groß geworden ist, dass man schon gar nicht mehr bereit ist, es pragmatisch und „ins Gelingen verliebt“ mit den kärglichen Resten zu versuchen, die immerhin noch da sind?
Wer dies schreibt, hat ganz sicher nicht CDU gewählt, ist voll des Abscheus über das Merkelregime und würde sich einen echten bürgerlichen Neuanfang für Deutschland sehnlichst wünschen. Aber man kann nur mit dem arbeiten, was da ist. Wenn die AfD tabu ist, mit der man ohne weiteres eine im weitesten gesäßgeographischen Sinne konservative Regierung bilden könnte, dann ist Jamaika im zweiten Anlauf die beste Option, sogar die einzige. Eine Sonthofen-Strategie 2021, Deutschland erst mal noch vier Jahre unter rotgrüner Ägide vor die Hunde gehen zu lassen, wäre verantwortungslos und dumm, denn es dürfte vieles irreparabel zerstört werden, das ist ja gerade das Ziel der Linken.
Haben immer noch nicht alle kapiert, dass es jetzt echt ums Ganze geht? Dass wir nur vielleicht überhaupt noch zu retten sind? [Sorry, das klingt rhetorisch wie die Klima-Apokalyptik der Linken. Aber in derselben und dem, was damit zusammenhängt, liegt ja gerade die echte Gefahr, von totalitärer Natur.]
Aber der eigentliche Kampf muss woanders stattfinden. Im Bundestag wird er sich höchstens matt widerspiegeln. Die öffentliche Debatte in Deutschland muss wieder frei, transparent und pluralistisch werden. Das ist unser aller Auftrag, unabhängig von Wahlprozenten. Wir alle haben Merkel zugelassen. Wir alle haben Verantwortung. Schiebt das nicht alles auf Laschet ab und glaubt, damit wäre irgendwas gewonnen. Gehässigkeit, Häme und taktische Manöver waren genau das System Merkel. Darüber wollten wir doch eigentlich hinweg und neu anfangen.
Michael W. Alberts, Gastautor mit langjähriger Berufserfahrung in verschiedenen Feldern der Politikberatung