„Ein echter Skandal“, so war es überall in den deutschen Medien zu lesen, übrigens links wie rechts: Eine Mannheimer Moschee bot einen „Mädelsabend“ mitsamt einer Seminarreihe zur Vorbereitung auf die Ehe an – für Mädchen und Frauen, und zwar beginnend ab dem Alter von 13 Jahren. Der Aufruhr war (und ist) immer noch groß, und man kann sich die Vorwürfe auch ohne Blick in die Schlagzeilen leicht ausmalen: 13-jährige Mädchen sollen mitten in Deutschland auf die Ehe vorbereitet werden – bestätigt dies nicht alle Vorwürfe gegen islamische Kinderehen, die ja in der Tat mittlerweile auch in Deutschland zu einer legal mehr oder weniger tolerierten Realität geworden sind? Und muss der Staat nicht mit aller Macht einschreiten, um Kinder vor religiös-sexuellem „Grooming“ zu schützen?
Und in der Tat täte man sich wohl überaus schwer daran, eine Ehe für 13-Jährige (Mädchen wie Jungen) irgendwie zu verteidigen; selbst die Gründe, die in den nahöstlichen Gesellschaften üblicherweise litaneiartig dafür angeführt werden – Familienpolitik, Vollzug der Ehe erst ab Volljährigkeit, möglicherweise gar Schutz für Waisen etc. – sind ja in toto allesamt kaum überzeugend, und auch der Prophet selbst bietet aufgrund der Verbindung mit seiner Lieblingsfrau Aischa, die beim Vollzug der Ehe je nach Biograph 9 oder 12 Jahre alt war, kein wirkliches Vorbild – höflich ausgedrückt …
Aber – und ich kann nicht anders, als der Ehrlichkeit halber hier das „aber“ anzuführen, das mich umtreibt, seit ich zum ersten Mal von dieser Geschichte hörte –: Sollte „Kinderehe“ denn überhaupt der Inhalt dieses Seminars sein? Sicher, ohne verifizierbaren Augenzeugenbericht lässt sich kaum etwas Stichhaltiges behaupten und bleibt alles Spekulation. Nimmt man die Seminarankündigung allerdings so, wie sie da steht, und unterstellt man zunächst einmal den Organisatoren keine sinistren Absichten, lässt sich die Veranstaltung zunächst einmal als reiner Informationsabend für alle Frauen im Alter der Geschlechtsreife zum Thema Ehe und Familie verstehen. Ist das an sich bereits ein Skandal? Ich würde sagen: Nein. Dass man mit jungen Mädchen schon ab 13 Jahren über „Ehe“ spricht, bedeutet doch nicht, dass eine solche Ehe nun auch schon sofort geschlossen werden soll. Auch meine Söhne lernten bereits mit sechs Jahren die Grundregeln der Straßenverkehrsordnung, ohne dass irgendjemand sie allen Ernstes hinter ein Steuer gesetzt hätte (übrigens zu ihrem großen Missvergnügen).
Und übrigens: Blickt man in den gegenwärtigen Schulstoff in Deutschland (und den meisten anderen europäischen Ländern), so setzt die staatlich eingeforderte und schulisch geleistete sexuelle Aufklärung bereits erheblich früher als 13 ein, teilweise schon im Kindergartenalter (man erinnert sich an die zahlreichen Skandale anlässlich der Durchnahme von hochproblematischem und durchideologisiertem LGBTQIA-Material nicht nur in Berliner Kindergärten und Grundschulen). Wenn die meisten Staaten unsere Kinder also schon im zartesten Alter als reif genug erachten, in die technischen Details ihrer nur latenten Sexualität eingeweiht zu werden, ist es da ein Skandal, wenn eine private Einrichtung auch Kurse über die eigentlichen Rahmenbedingungen von Sexualität, nämlich Ehe und Familie, anbietet? Darf eine Gesellschaft, die schon Grundschulkinder über Abtreibung, Analsex und Verhütung informiert, sich öffentlich entrüsten, wenn geschlechtsreifen Frauen eine – zugegebenermaßen religiöse, aber daher eben auch rein privat angebotene und freiwillige – Vorbereitung auf Themen wie Ehe, Familienleben und Kindererziehung geboten wird?
Vielleicht bin ich naiv, aber ich würde sagen: Nein. Und es ist noch gar nicht so lange her, dass selbst in westlichen Schulen analoge Unterrichte angeboten wurden – in Polen sogar noch heute.
Anders ausgedrückt: Das eigentliche Skandalon ist meines Erachtens nicht so sehr, dass eine Religionsgemeinschaft Frauen über die Strukturen informiert, die ihre Religion (von der man halten will, was man mag) für das Ausleben dieser Sexualität bereitstellt, sondern eher, dass unsere weitgehend postchristliche westliche Gesellschaft eben jene Sexualität heillos pervertiert und zertrümmert hat. Ob es nun die omnipräsente Sexualisierung der Medien ist, die nur noch pädophil zu nennenden ästhetischen Ideale der Werbung (etwa, wenn die meisten Models wie 15-Jährige aussehen), die allgegenwärtige Reduzierung des Menschen auf seine fleischliche Dimension, die systematische Zerstörung des Ehelebens, die vor allem seit 1968 immer wieder aufflammenden Skandale um Kindesmissbrauch oder die Auflösung des naturrechtlichen Geschlechtsbegriffs – wohin man auch blickt, ist die westliche Welt wohl die allerletzte, die aus dem Glashaus mit Steinen werfen sollte.
Natürlich bin ich der Ansicht, dass Kinder auch mit 13, 14 und wohl auch 15 oder 16 Jahren zu jung sind, um sich wirklich intensiver mit Fragen der Familiengründung zu beschäftigen oder eine solche überhaupt schon in Betracht zu ziehen, und natürlich ist der Ehe- und Familienbegriff des Islams in vielerlei Hinsicht nur schwer mit demjenigen der abendländischen Tradition vereinbar, denkt man an Frauenrechte, Mehrehe, Scheidungsprozedur etc. Doch bleiben in der Realität eben auch von jener hochgeschätzten abendländischen Tradition in dieser Hinsicht nur noch Trümmer übrig, und inmitten eines ganzen Ozeans sittlicher Auflösung kann man es den Muslimen kaum verübeln, sich gegen die völlige Beliebigkeit der postmodernen Sexualisierung zu stemmen und ihre eigenen Vorstellungen weiterhin zu pflegen und weiterzugeben – etwas, das die christlichen Mainstreamkirchen ihrerseits ja erst seit kurzer Zeit weitgehend aufgegeben haben, um nur ja keine schlechte Presse zu bekommen (als ob diese voreilige Unterwerfung ihnen de facto eine wie auch immer geartete langfristige Sympathie seitens linksliberaler Journalisten sichern würde).
Angesichts der gegenwärtigen ideologischen Lage ist es daher kein Wunder, dass die Kritik am Mannheimer Ehe-Seminar aus buchstäblich allen politischen Lagern erschallt ist. Die Kritik der politischen Rechten war zu erwarten: Was auch immer mit dem Etikett „Islam“ behaftet ist, gilt hier aufgrund der Masseneinwanderung als Feindbild, und wenn dadurch reflexartig die üblichen Kritikpunkte wie „Kinderehe“ und „Frauenunterdrückung“ bedient werden, umso besser. Wieso aber ist für Liberale wie Linke – trotz des permanenten Diversitäts- und Toleranz-Geredes – der Widerstand der Muslime gegen das Anything-Goes der ach-so-aufgeklärten westlichen Welt ein Stein des Anstoßes? Nun, selbstverständlich will man den diversen Bestandteilen der multikulturellen Gesellschaft gerne ihre dekorative folkloristische Vielfalt lassen, von Billigjobs profitieren und die entsprechenden Wählerstimmen kassieren; und auch zur rechtlichen Schwächung der bisherigen Monopolstellung des verhassten Christentums ist der Islam immer wieder hochwillkommen. Dass er allerdings im öffentlichen Raum eine Alternative zum Kernbestandteil des identitären Umbaus der westlichen Welt durch Zerstörung der klassischen Familie vorschlägt – das geht dann offensichtlich doch zu weit.
Der (inzwischen abgesagte) Mannheimer „Mädelsabend“ berührt also offensichtlich eine ganze Reihe wunder Punkte der deutschen und letztlich auch westlichen Gesellschaft und offenbart letztlich mehr über die Lebenslügen der modernen Europäer als über den Zustand der islamischen Gesellschaft. Nun soll – einmal mehr – betont werden, dass diese Zeilen keine Parteinahme für besagte „Ehevorbereitung“ darstellen soll: Wer auch nur einige meiner Aufsätze gelesen hat, sollte wissen, dass mein eigenes, christlich-abendländisches Weltbild mich für alles Mögliche prädestiniert, nur nicht naive-Islam-Apologie. Aber eben darum scheint es mir auch wichtig, davor zu warnen, den gegenwärtigen „Kulturkampf“ unter den falschen Vorzeichen zu führen. Denn es wäre verkehrt, das nun in der Tat sehr reale Risiko einer langfristigen Islamisierung zumindest Westeuropas unter dem Vorzeichen des Kampfes für Hedonismus, Materialismus oder LGBTQ- und Gender-Beliebigkeit zu führen, die allesamt nicht als Essenz der abendländischen Werte, sondern vielmehr Grund für ihren faktischen Zerfall verstanden werden sollten. Es wäre aber ebenso verkehrt, alles auch nur ansatzweise Fremde aus teils rassistischen, teils religiösen, teils ethnokulturellen Gründen zu verteufeln und den gegenwärtigen Kulturkampf auf die Frontstellung „Wir“ gegen „Die“ zu reduzieren.
Denn sowohl hinter dem „Wir“ wie auch dem „Die“ verbergen sich alles andere als homogene Gruppen und sind, wenn man ehrlich ist, durchaus zumindest teilweise Übereinstimmungen über alle zivilisatorischen Grenzen hinweg festzustellen; ganz zu schweigen davon, dass der gegenwärtige demographische Zustand uns, ob wir es wollen oder nicht, zumindest in Westeuropa früher oder später zur gelegentlichen Kooperation zwingen wird, wenn wir ein Land wie Frankreich oder Belgien nicht ganz in Bürgerkrieg und Autoritarismus verfallen lassen wollen. Dass zum Beispiel in Frankreich immer mehr islamische Eltern ihre Kinder aus staatlichen Schulen abziehen, um der dortigen linkswoken Propaganda zu entgehen, und sie auf katholische Schulen schicken, wo sie dann allerdings halal-Essen und Sonderrechte bei der religiösen Erziehung einfordern, verdeutlicht die Chancen, aber eben auch die schweren Probleme der gegenwärtigen Situation. Daher wäre es selbst bei Anerkennung gewisser Übereinstimmungen in der Wertschätzung von Gott, Familie oder Stolz auf das eigene Erbe falsch, nicht auch auf die grundlegenden Unterschiede zwischen dem abendländischen und dem islamischen Weltbild hinzuweisen.
Die einzige gute Antwort auf die gegenwärtige Sachlage wäre daher vor allem, neben der selbstverständlichen scharfen Prüfung dessen, was in den immer zahlreicheren muslimischen und sonstigen Parallelgesellschaften gelehrt wird, die eigenen Defizite festzustellen und im Islam jenseits aller Projektionen auch einen Spiegel dessen zu sehen, was wir nicht sein wollen, was wir nicht mehr sind und was wir vielleicht wieder werden wollen, ja wahrscheinlich sogar werden müssen, wenn wir den völligen inneren Zerfall verhindern wollen. Und dies bedeutet ganz wesentlich eine kritische Auseinandersetzung mit Kindheit, Erziehung, Ehe, Sexualität und Familie – und den Leitlinien, welche diesen zentralen Elementen einer jeden Gesellschaft eine innere Stabilität verleihen und sie zu einem sinnhaften Teil der Selbstwerdung machen, und mehr noch: zu einem Teil der transzendenten Dimension unseres Seins. Dass die Ehe im Christentum ein Sakrament ist und auch im Islam eine zentrale Dimension als Glaubensakt darstellt („Wer heiratet, hat die Hälfte seines Glaubens vervollständigt“), ist kein Zufall oder leeres Gerede, sondern vielmehr Zeichen einer zumindest intendierten Sublimation des Animalischen ins Symbolische, ja ins Transzendente hinein; eine Sublimation, ohne die der Mensch nicht nur eine wesentliche Dimension seines Seins aufgibt, sondern auch die gesamte Maschinerie einer jeden Zivilisation allmählich in sich zusammenbrechen muss – zuerst durch Rechtspositivismus, dann durch Relativismus, schließlich durch Zynismus und letzten Endes durch Hedonismus und nackte Gewalt.