Meister und Schüler saßen auf der Terrasse, und überblickten den Garten. Der Schüler erwähnte einen Gelehrten, über welchen die Leute in der Stadt redeten. Jener Gelehrte predigte, wie die Menschen zu reden haben. Er gab ihnen neue Gesetze und scharfe Regeln, und weil er einen langen Bart trug und mit Autorität zu sprechen vermochte, gehorchten ihm nicht wenige der einfachen Menschen.
Ob der Meister jenen Gelehrten kenne, fragte der Schüler, und ob man auf ihn hören solle? Was er denn von ihm halte?
Der Meister schaute den Schüler an, um in seinem Gesicht zu prüfen, wie ernst diesem die Fragen seien. Als der Meister sich sicher war, dass der Schüler die Fragen so meinte, wie er sie gesagt hatte, stand der Meister auf. Er trank seinen Tee aus, behielt aber die Tasse in der Hand, und er ging tiefer in den Garten, wo die Büsche begannen und die Erde feucht war.
Der Meister kniete sich auf den Boden, schob einen Stein beiseite, hob mit der Hand fünf lebendige Würmer aus der Erde und legte sie in die Teetasse.
Auf dem Weg zurück zum Schüler polierte der Meister die Tasse mit seinem Hemd. Er polierte die Tasse mit dramatischen Gesten, er hauchte auf die Tasse, nur um sie erneut zu polieren. Er hielt die Tasse in die Höhe, so dass die Sonne auf den polierten Lack schien, dann polierte er ihn erneut.
Der Meister hielt die Tasse dem Schüler hin, und er sagte: »Schütte dir Tee in diese Tasse und trinke ihn!«
Der Schüler wollte schon nach der Tasse greifen, er sah aber die Würmer darin und er zog schnell wieder seine Hand zurück – er hatte ja geahnt, was der Meister da am Boden kniend verrichtet hatte, doch die Würmer auch zu sehen, das weckte Ekel in ihm.
»Aber warum willst du die Tasse nicht nehmen?«, fragte der Meister mit großer, gespielter Geste, »ist die Tasse dir denn nicht poliert genug? Glänzt der Lack nicht hell genug? Wie kann eine derart makellose Tasse dir nicht genügen, um daraus Tee zu trinken?«
»demokratiefeindliche Tendenzen«
Das Wort Politik stammt aus dem Griechischen – Πολιτικά – und über den Umweg des Lateinischen gelangt es in unsere spätrömisch dekadente Gegenwart. Das Wort Politur dagegen stammt direkt aus dem Lateinischen, wo polire schlicht glätten oder eben polieren bedeuten. Ob heilige Wahrheit oder stinkender Dreck – lang genug poliert wird alles zu Politik.
Du kriegst Berlin raus aus der DDR, aber die DDR nicht raus aus Berlin. Zum Markenkern nationaler wie internationaler Sozialisten gehört seit jeher die Schnüffelei, und also gehört sie zum Markenzeichen Berlins.
Letzte Woche erst fiel Berlin unangenehm auf, als ein Ex-SED-Mann versuchte, eine Anti-Regierung-Demonstration verbieten zu lassen; siehe »Deutschland 2020: Demo gegen Merkel-Regierung wird verboten«. (Ich hörte einen Zyniker scherzen: »Ob eine Demo in Deutschland von Linken ist oder von normalen Leuten, erkennst du daran, ob die Demonstranten auf die Polizei einschlagen oder andersrum.«)
Zuvor hatte man in Berlin eine Art »Anti-Polizei-Gesetz« verabschiedet (siehe Essay vom 28.6.2020), welches das Vorgehen gegen die schwierigeren unter ihren Kunden, welche aber der Politik extra nah am Herzen zu liegen scheinen, noch schwieriger macht.
Man liest in der Berliner Presse (und nicht nur dort) immer wieder Schlagzeilen über den grünen Berliner Justizsenator Dirk Behrendt. Die Gründe sind verschieden. Mal geht es um unentschuldigtes Fehlen (tagesspiegel.de, 6.6.2019, taz.de, 6.6.2019: »Behrendt schadet dem Parlament«, »Es ist das zweite Mal binnen vier Wochen, dass ein führender Grünen-Politiker den Eindruck erweckt, ein Parlament nicht ausreichend wertzuschätzen«.). Mal geht es um eine Ausbruchserie (faz.net, 2.1.2018), und bei bz-berlin.de, 4.1.2018 las man so deutlich wie hilflos: »Justizsenator will nicht zurücktreten? Dann sollte er entlassen werden!«
Nun, im Failed State Berlin wird man nicht entlassen, weil man beschädigt haben könnte, was zu bewahren man reich entlohnt wird – Herr Behrendt ist weiter im Amt und wieder in den Schlagzeilen.
Aktuell wird Herrn Behrendt vorgeworfen, er wolle unter Berliner JVA-Beamten ein »Spitzelsystem nach DDR-Vorbild« einführen (tagesspiegel.de, 3.9.2020).
Behrend will »demokratiefeindliche Tendenzen bei Strafvollzugsbeamten erfassen« (tagesspiegel.de, 31.8.2020), so heißt es. Doch, das Wort »Demokratie« klingt heute, wenn etablierte Politfiguren oder auch Staatsfunker es aussprechen, längst gemäß orwellscher Begriffsumdrehung wie eine Chiffre für »Macht linker Strippenzieher« – und »demokratiefeindlich« klingt wie linker Neusprech für »was linke Lügen entlarvt«.
Die Leiter der Berliner Gefängnisse wurden angewiesen (siehe tagesspiegel.de, 3.9.2020, 31.8.2020) auch nur »Hinweise« auf »demokratiefeindliche Tendenzen« in »Handlungen« oder »dem äußeren Erscheinungsbild« zu erfassen und zu melden – und eine solche Meldung kann erhebliche Konsequenzen haben, bis hin zur »Entfernung aus dem Dienst«.
Ein Geschenk aus China
Zu sagen, dass unsere Welt eine komplizierte sei, es wäre eine Banalität. Die Komplexität der Welt lässt das Erfassen eben dieser Welt unser eher für die Büffeljagd in der Savanne entwickelte Gehirn schmerzen. Zu den Lastschmerzen unserer Denkapparate kommt die kaum zu leugnende Tatsache hinzu, dass in jeder Komplexität auch Gefahren und Widerstände lauern.
Ein weiser wie auch ein kluger Mensch suchen nach Wegen, die Komplexität der Welt als solche zu akzeptieren, die prinzipielle Nicht-Greifbarkeit hinzunehmen (populär formuliert: »Ich weiß, dass ich nichts weiß« (Randnotiz: eigentlich heißt es »Ich weiß als Nicht-Wissender« und bezeichnet ein erkenntnistheoretisches Problem)).
Ein weiser wie auch ein kluger Mensch sind sich der Unmöglichkeit eines »reinen« Weltbildes bewusst, und sie suchen nach Wegen, mitten im Chaos der Realität eine Ordnung in ihren Gedanken zu finden, denn diese ist es, mit welcher das Glücklichsein beginnen kann.
Ein nicht-so-weiser Mensch aber, der durch Gewalt oder einen Zufall an die Macht gelangt, wird bald diese oder jene Ideologie zur einzig wahren erklären (manchmal tun dies auch schlaue Leute, die einen Dummkopf simulieren).
Die »Reinheit« der Ideologie verleiht der persönlichen Welterklärung eine vulgäre und primitive, aber vermeintlich »gehirnfreundliche« Einfachheit. Die »unique selling proposition« der Ideologie ist nicht ihr Inhalt, sondern ihre »Reinheit«. Die Inhalte der Ideologien sind austauschbar, solange sie den Gehorsam belohnen und eine Erlaubnis zum Nicht-Denken geben.
Das Versprechen des Ideologen an die Beherrschten – und damit ein wesentlicher Baustein im Fundament seiner Macht – ist die radikale Vereinfachung, die »Reinheit« des Weltbildes.
Das dauernde, unüberwindbare Riesenproblem des Ideologen ist der Widerspruch zwischen der Reinheit seiner Lehre und der »Schmutzigkeit« der Realität.
Die Menschen sind etwa nicht alle uneigennützig (und aus tiefstem Herzen dem Zentralkomitee hörig), wie kommunistische Ideologen es für ihre Ideologie voraussetzen (aber selbst natürlich nicht praktizieren). Die Motivation des Menschen ist nie »rein«. Während der unideologische Kapitalismus die Komplexität menschlicher Motivation versteht und nutzt, muss der Sozialismus – wie jede andere »reine« Ideologie, als auch Gottesstaaten – immer und ohne Ausnahme versuchen, die in seiner Ideologie vorausgesetzte »Reinheit« mit Folter, Gewalt und politischem Terror durchsetzen – um zuletzt doch jedes Mal zu scheitern.
Der endgültige Name für den in diesen Jahren in Deutschland aufziehenden Sozialismus ist noch nicht gefunden. Einige der Betreiber des neuen Sozialismus, wurden im DDR-Sozialismus, äh, sozialisiert, waren teilweise sogar Funktionäre im DDR-System, und doch ist dies eine neue Art des Sozialismus, wie auch immer diese Variante dereinst heißen wird.
Dieser neue deutsche, noch in seiner Formungsphase befindliche Sozialismus, er teilt mit allen anderen Ideologien die Eigenschaft, in täglich wachsender Manie eine »Reinheit« des öffentlichen Redens durchsetzen zu wollen.
Der deutsche Staatsfunk agitiert täglich gegen Menschen, die nicht »rein« genug reden. Ministerien, Schulen und Behörden wollen die neue »Reinheit« des »erlaubten« Weltbildes durchsetzen. Der Corona-Virus erscheint den neuen Sozialisten womöglich geradezu wie ein »Geschenk aus China«, mit dessen Hilfe sie Maßnahmen installieren können, die sich auch trefflich zur Durchsetzung einer ideologischen »Reinheit« politischer Meinung nutzen lassen.
Ein Virus ist, ebenso wie eine sogenannte »falsche« Meinung, nicht mehr als eine Information. Wer Covid-Kontakte verfolgt, der kann technisch auch Kontakte zu Menschen mit »falscher Meinung« verfolgen. Die Technologie, die feststellen soll, ob man einen »Infizierten« traf (vergleiche etwa heise.de, 27.8.2020), ist weitgehend dieselbe, wie jene, die es bräuchte, um zu verfolgen, wer sich etwa zum Mittagessen mit jemandem trifft, der mit allzu oppositionellem Gedankengut »infiziert« ist.
Länger und strenger
In unserer kleinen Geschichte reicht der Meister dem Schüler eine Teetasse, die von außen traumhaft poliert und schön aussieht, aber im Inneren Würmer birgt.
Im Herrschaftsbereich von Ideologien, welche die Reinheit der Äußerungen und politisch deutbaren Handlungen überwachen und mit Staatsmacht durchsetzen, entfernen sich soziale Realität und offizielle Wahrheit immer mehr voneinander. Außen stehen die potemkinschen Fassaden politisch korrekter Lügen, drinnen kriechen linke Lügen und die Konsequenzen der Lüge umher.
Politische Korrektheit versucht, durch das Leugnen von Problemen eben diese verschwinden zu lassen. Je länger und strenger ich aber das Aussprechen von Problemen verbiete, umso ärger wird das Problem werden.
Im Propagandastaat wird von oben vorgegeben, welche Lügen man zu sagen hat, was man nicht zu sehen hat, mit wem man sich nicht zu treffen hat, wenn man im öffentlichen Leben mitspielen und nicht seinen Job verlieren will.
Wie die polierte Tasse
Ich bin mir noch nicht sicher, warum ausgerechnet Deutschland wieder und wieder und wieder für die Illusion von »Reinheit« anfällig ist, mal eine angebliche »Reinheit« der Gene, mal die »Reinheit« der sozialistischen Haltung, und heute eben die »Reinheit« der Realitätsleugnung im Zeichen suizidaler »Toleranz«.
Die Welt ist kompliziert und schmutzig, ihre Widersprüche sind schmerzhaft, und manchmal lassen sie uns hilflos dastehen.
Ich strebe keine »Reinheit« an, und schon gar nicht die Reinheit des Weltbildes, denn die »Reinheit« der Ideologen ist immer nur wie die polierte Tasse, in dessem Inneren die ekligen Würmer ihrer Unwahrheiten sich winden.
Nein, ich strebe keine Reinheit an. Man verspricht uns einen Palast polierter Lügen, doch in der kleinsten Hütte kratziger Wahrheit schlafe ich besser.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.