Tichys Einblick
DAS WESTMINSTER-MODELL

Direktwahl und Grundgesetz

Die Personenwahl steht der Verfassung näher als die Parteienwahl. Das Wahlrecht in Deutschland hat seit Weimar noch nie der Verfassung entsprochen.

© Kirsty Wigglesworth - WPA Pool/Getty Images

Zur Überraschung aller hat die britische Premierministerin, Theresa May, für den 8. Juni 2017 vorgezogene Unterhauswahlen beantragt und die dafür erforderliche Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten des Unterhauses erhalten. In Deutschland wird am 22. September ein neuer Bundestag gewählt. Ein Vergleich des Wahlrechts liegt daher nahe, zumal in Frankreich nach Ablauf der Wahlperiode ordentliche Präsidentschaftswahlen stattgefunden haben, denen die Wahlen für das französische Parlament folgen. Besonderen Anlass dazu geben mehrere Wahlprüfungs-Beschwerden zur Bundestagswahl vom 22. September 2013, die beim Bundesverfassungsgericht anhängig sind, das deutsche Wahlrecht daher auf wackeligen Füßen steht.

Obwohl in Art. 20 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 stand: „Der Reichstag besteht aus den Abgeordneten des deutschen Volkes“, konnte man damals auf den Stimmzetteln nur Parteien kennzeichnen und musste ihnen die Nominierung, d.h. die konkrete Auswahl der Abgeordneten überlassen. Anders als in Großbritannien wurden Volksvertreter also nicht unmittelbar, sondern mittelbar gewählt. Nach dem Wortlaut der Weimarer Verfassung sollte über die Abgeordneten „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl“ abgestimmt werden. Doch das war der Versuch einer Quadratur des Kreises: Niemand kann auf einem Stimmzettel einen Abgeordneten namentlich kennzeichnen und unmittelbar auswählen, wenn darauf nur politische Parteien zur Auswahl stehen.

Eine Besonderheit des Wahlrechts der Weimarer Republik v. 12.11.1918 (RGBl S. 1303) war es, dass auf jeweils 60.000 Stimmen ein Mandat entfiel und damit auch die Wahlbeteiligung zur Geltung kam. Je nach Höhe der Wahlbeteiligung schwankte die Zahl der Mitglieder des Reichstags. Eine Sperrklausel gab es damals nicht. Deshalb war eine gesetzliche Zahl der Mitglieder des Parlaments für die Berechnung der Fünf-Prozent-Hürde nicht erforderlich. Sie setzt eine feste Prozentbasis (100 %) voraus. Aus einer unbestimmten Menge kann man keine bestimmten Teilmengen (5 %) berechnen. Das gehört zu den Prinzipien der Mengenlehre, die früher an den Grundschulen gelehrt wurde.

Volksvertreter sind Menschen

Teile des Schrifttums geben der Verhältniswahl die Hauptschuld am Abgleiten der Weimarer Republik in die Nazi-Diktatur. Eine Sperrklausel, die den Aufstieg der NSDAP hätte im Keim ersticken können, gab es damals nicht. Wie auch immer wollte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs kein Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung zur Verhältniswahl zurückkehren. Allerdings konnten sich die Urheber der Verfassung auch nicht zur klassischen Direktwahl durchringen, in der die Volksvertreter in überschaubaren Wahlkreisen gewählt werden. Deshalb verständigte sich der parlamentarische Rat 1949 auf einen Kompromiss, sprach der Verhältniswahl den früheren Verfassungsrang ab und überließ das Wahlrecht der einfachen Gesetzgebung. So blieb die unmittelbare Personenwahl in Reichweite, denn sie konnte ohne verfassungsändernde Mehrheit im Parlament beschlossen werden. – Dazu kam es aber nicht. In der Weimarer und der Bundesrepublik wurden die Abgeordneten seit jeher – contra legem! – mittelbar gewählt.

In den Parlamenten sitzen grundsätzlich keine Parteien, sondern Personen. Die Auffassung, die Wähler würden nur die Quoten festlegen, mit denen die Parteien in die Parlament einziehen, ist weit verbreitet, aber falsch. Politische Parteien können auch dann nicht zu Mitgliedern der Parlamente werden, wenn sie als eingetragene Vereine juristische Personen sind, die durch ihre eigenen Organe handeln. Die Volksvertretung besteht aus natürlichen Personen, Menschen aus Fleisch und Blut, die nur ihrem Gewissen verantwortlich sind. Es liegt also in der Natur der Sache, dass politische Parteien nicht selbst und als solche zum Gegenstand der Abstimmung gemacht werden können. Die Personenwahl steht der Verfassung deshalb viel näher als die Parteienwahl.

Wie schon in Art. 22 der Weimarer Reichsverfassung steht auch in Art 38 Grundgesetz: „Die Abgeordneten werden (…) gewählt“. Doch „Papier ist geduldig.“ Das war beim Wahlrecht der Weimarer Republik schon so und ist in der Bundesrepublik nicht anders. Nach dem Bundeswahlgesetz (BWahlG) werden gegen den Wortlaut der Verfassung auch in der Bundesrepublik auf den Stimmzetteln mit der ausschlaggebenden Zweitstimme nicht die Abgeordneten, sondern die politischen Parteien gekennzeichnet. Auf die von ihnen aufgestellten Listen können die Wähler keinen unmittelbaren Einfluss nehmen. Sie wählen also mindestens 299 der 598 Abgeordneten mit den Zweitstimmen nach wie vor nur mittelbar.

Mit dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl, der schon in Art. 22 der Weimarer Reichsverfassung fest verankert war, ließ sich das nicht vereinbaren. Aber auch im Grundgesetz wird in Art. 38 GG für den Bundestag und in Art. 28 GG für die Landtage die Unmittelbarkeit der Wahl sowohl für das aktive als auch für das passive Wahlrecht garantiert. Die Garantie der unmittelbaren Wahl verlangt, dass aus den Stimmzetteln der Parteien – wenigstens – eine namentliche Auswahl der Abgeordneten erfolgt, wie dies bei Kommunalwahlen üblich ist. Die Wahlgebiete dürfen aber nicht zu groß sein, sonst werden die Stimmzettel zu lang und die Wähler können daraus keine vernünftig Auswahl mehr treffen, weil sie die Kandidaten aus entfernten Regionen nur schlecht oder gar nicht kennen. Und es liegt auf der Hand, dass die Wahl am transparentesten ist, wenn die Zahl der Wahlkreise der Zahl der Sitze im Parlament entspricht und die Abgeordneten in den Wahlkreisen sowohl nominiert als auch gewählt werden.
Eine positive Revolution

Wie der „einsame Rufer in der Wüste“ hat sich der frühere Regierungssprecher, Friedhelm Ost, MdB a.D., schon zum Jahreswechsel 2015 im „Blog der Republik“ für die Direktwahl in überschaubaren Wahlkreisen stark gemacht. Seine Ausführungen haben folgenden Wortlaut:

„Eine Wahlrechtreform, die das Mehrheitswahlrecht etablieren würde, wäre eine echte, positive Revolution in dem inzwischen erstarrten, für viele undurchsichtigen System. Große Sorgen um Splitterparteien links wie rechts im Politspektrum – wie etwa um AfD, Alfa oder andere radikale Gruppierungen – könnten so endgültig beseitigt werden. Gewiss, das Geschrei wäre bei vielen Hinterbänklern, Parteitaktikern und „Kungel-Politikern“ riesig, weil bequeme Listenpfründen verloren gingen. Die Chancen, wieder mehr profilierte Persönlichkeiten für die Politik zu gewinnen, wären hoch. Im direkten Wettbewerb würden sich nur die besten Köpfe und Konzepte durchsetzen. Für unsere Demokratie wäre dies ein Riesengewinn. Insbesondere wüssten alle Wähler, um wie viele Mandate im Bundestag es wirklich ginge. Komplizierte und nicht verständliche Berechnungen von Überhangsitzen blieben allen erspart.“

Dieses Wahlverfahren mit nur einer Stimme kennt weder Überhang- noch Ausgleichsmandate, kein „negatives Stimmengewicht, keine Siegerprämien, keine auf Dauer leerstehenden Wahlkreise, weder Zweitstimmen-Abzug (§ 6 Abs. 1 BWahlG) noch Ergänzungsmandate (§ 6 Abs. 7 BWahlG). Und vor allem kennt das Wahlsystem auch keine Sperrklausel. Das Verfahren folgt dem klassischen Prinzip „one man one vote“. Es ist leicht verständlich und lässt sich sehr rasch auszählen. Die hochkomplizierten Zuteilungsverfahren nach d’Hondt, Hare/Niemeyer, Sainte-Lague/Schepers oder Pukelsheim-I, Pukelsheim-II, oder Pukelsheim-III, sind der traditionsreichen Direktwahl fremd.

Gewählt wird mit einfacher Mehrheit. Gewählt ist, wer die meisten Stimmen hat. Die absolute Mehrheit aller Mandate ist daher einfacher zu erringen, als das bei einem höheren Quorum der Fall wäre. Koalitionen sind im Unterhaus von London deshalb selten, kommen aber vor. Gewiss, man kann schon mit einfacher Mehrheit aller Stimmen die Macht erlangen, mit einfacher Mehrheit aber auch genauso gut verlieren. Es herrscht daher Waffengleichheit zwischen Regierung und Opposition. Die einfache Mehrheit vereinfacht die Regierungsbildung, bündelt aber auch die Opposition. Genau das erleichtert den politischen Wechsel und er kommt in Großbritannien und den sonstigen Staaten mit Direktwahl der Volksvertreter auch vor, und zwar ohne dass dadurch die politische Stabilität gefährdet, ohne dass die Verfassung entwurzelt wird, ohne dass Chaos und Anarchie das Zepter übernehmen.

Bundeslisten wären ein Unding

Ein bundesweiter Stimmzettel mit 598 Namen von Kandidaten pro Partei, die zur persönlichen Auswahl stehen, wäre ein absolutes Unding, weil die Wähler die Abgeordneten aus weit entfernten Gebieten nur selten oder gar nicht kennen, also „die Katze im Sack kaufen“ müssen. Der Idealfall ist in diesem Zusammenhang die klassische Direktwahl in 598 Wahlkreisen – das „Westminster-Modell“. Das ließe sich unschwer dadurch erreichen, dass man den Bundestag nur mehr mit den Erststimmen wählen würde. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Zahl der 299 Wahlkreise durch Halbierung verdoppelt und so auf die Zahl der 598 Sitze im Parlament angehoben wird. Denn niemand kann 598 Plätze mit direkt gewählten Abgeordneten besetzen, wenn es nur 299 Wahlkreise gibt.

Zu den zahlreichen Irrtümern, die über die klassische Direktwahl in überschaubaren Wahlkreisen im Umlauf sind, gehört es u.a., dass es sich um ein Zwei-Parteien-System handele, in dem für kleine Parteien kein Platz sei. In Großbritannien sind nach der Wahl v. 7. Mai 2015 insgesamt zehn Parteien in das Parlament eingezogen. Zudem ist sogar ein parteiloser Einzelbewerber gewählt worden. Trotz der vermeintlichen Parteienzersplitterung im Unterhaus erlangte die stärkste politische Kraft mehr als die Hälfte der Mandate und konnte alleine die Regierung stellen. Das liegt vor allem daran, dass in den Wahlkreisen mit einfacher Mehrheit gewählt wird, die Hürde für die Mehrheit im Parlament also nicht zu hoch ist und deshalb zur Bildung von Koalitionen zwingt, in denen die stärkste politische Kraft aus der Regierungsverantwortung herausgedrängt werden kann. Bei der Wahl v. 7. Mai 2015 stellten die Konservativen 330 „Members of Parliament“; Labour 232; die Scotish National Party 56; die Liberal Democrats 8; die Demokratic Unionist Party 8; Plaid Cymru 3; die Ulster Unionists Party 2; Sinn Fein 4, die SDLP 3; Ukip 1; die Green Party 1. Hinzu kommt ein parteiloser Einzelbewerber und der Speaker.

Das Fazit

Das Grundgesetz verlangt die Personenwahl. Sie ist im klassischen Westminster-Modell verwirklicht und kann in Großbritannien schon seit 1429 in den Urkunden nachgewiesen werden. Dieses Verfahren ist im Verlauf der Geschichte nicht ohne Veränderungen geblieben, hat sich aber nie von der Direktwahl entfernt. Außerdem ist es wohl das einzige weltweit, das in einer Volksabstimmung vom 6. Mai 2011 mit überwältigender Mehrheit basisdemokratisch bestätigt wurde.

Im Unterhaus gibt es 10 Parteien, doppelt so viele wie im Bundestag. Eine Sperrklausel ist der klassischen Direktwahl fremd. Und trotzdem führt dieses Verfahren nicht zu „Weimarer Verhältnissen“ im Parlament. Von Benjamin Disraeli, Premier unter Königin Victoria (1840 bis 1901), stammt der stolze Satz: „Dieses Land bildet keine Koalitionen.“ Von seltenen Ausnahmen abgesehen, trifft das zu. Und das ist der unübersehbare Vorteil des „Westminster-Modells“.


Manfred Hettlage lebt in München, ist als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist tätig und hat mehrere Sachbücher zum Wahlrecht veröffentlicht, z. B. : „Wer mit zwei Stimmen wählt … / Beobachtungen, Bemerkungen und neue Beiträge zur Wahl der Parlamente in Bund und Land“, 2014; und „Wie wählen wir 2013? Veröffentlichte und unveröffentlichte Beiträge zur Wahl der Parlamente in Bund und Land“, 2/2013.

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