Wer sich derzeit bei manchen Regierungen Mitteleuropas umhört, bekommt meist eher Pessismistisches zu hören, wenn es um den Ukraine-Krieg geht. Der Krieg werde Jahre dauern – „fünf Jahre”, sagte eine ranghohe Quelle in Belgrad diesem Verfasser. Dass es lange dauern werde, sei auch die überwiegende Meinung westlicher Gesprächspartner. Und danach werde es „die Ukraine nicht mehr geben”, zumindest „nicht in der Form, wie wir sie heute kennen”, fürchtet man sowohl in Belgrader wie auch Budapester Regierungskreisen.
Wenn diese Analyse stimmt, wird es als Folge des Krieges wahrscheinlich zu Grenzänderungen kommen. Nicht unbedingt de jure, aber doch de facto. Es sei denn, Russland erobert die Ukraine komplett in ihren gegenwärtigen Grenzen, und sieht davon ab, sie danach administrativ zu zerschlagen.
Oder Russland verliert komplett – und zerfällt danach dennoch nicht in Kleinstaaten.
Es geht nicht nur um die Ukraine. Erste Anzeichen sind erkennbar für eine Annährung zwischen Rumänien und der Republik Moldau. Am 18. Juni unterzeichneten die Parlamentarier beider Länder in einer gemeinsamen Sitzung eine Deklaration, in der sie ihre unverbrüchliche Unterstützung für einen EU-Beitritt der Moldau erklärten. Sowohl die gemeinsame Sitzung als auch das Dokument wurden in beiden Ländern als historisch gefeiert und von manchen Beobachtern als Schritt in Richtung einer Vereinigung Rumäniens mit der Moldau wahrgenommen.
Es wäre eine populäre Entscheidung – rund 80 Prozent der Moldauer sind ethnische Rumänen. Es ist eine Vision, die in beiden Ländern seit dem Ende des Kommunismus viele Verfechter hat.
Jetzt ist der Krieg aber sowieso da und die russische Führung hat offen erklärt, den gesamten Süden der Ukraine bis hin nach Transnistrien erobern zu wollen. Die Moldau, mit nur 2,5 Millionen Einwohnern und Hunderttausenden ukrainischen Flüchtlingen, hat keine nennenswerte Armee.
Was läge da näher als ein Anschluss an das relativ große, militärisch recht starke Rumänien?
Die Moldau ware damit automatisch EU-Mitglied. Und Nato-Mitglied. Bislang ist Neutralität Verfassungsgebot in der Moldau, aber das würde nach einem Anschluss an Rumänien nicht mehr gelten.
Ohne Anschluss würde die Moldau wohl lange warten müssen bis zu einem EU-Beitritt, obwohl sie am 23. Juni zusammen mit der Ukraine offiziell Kandidatenstatus erhielt. Eine Lösung dieser Frage durch eine Vereinigung mit Rumänien wäre dann denkbar, wenn Russland den Krieg in der Ukraine gewinnt, Transnistrien sich an Russland anschließt, die Moldau in Panik nach schnellen Lösungen für ihre Sicherheit sucht, und die EU nicht bereit ist, die Moldau im Hauruck-Verfahren aufzunehmen, ohne Rücksicht auf die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien. In dieser Lage würde ein Anschluss als letzter Ausweg bleiben.
Eine Panik-Lösung ist auch vorstellbar, falls die Ukraine eines Tages mit dem Rücken zur Wand steht, nach etwaigen großen Gebietsgewinnen der Russen. Auch da wäre eine Verschmelzung mit Polen ein letzter Ausweg. Sowieso würde Polen am liebsten selbst in den Krieg ziehen gegen Russland. Ein Zusammengehen Polens mit einer Rest-Ukraine würde automatisch bedeuten, dass sich die Nato mit Russland im Krieg befindet. Je nachdem wie sehr Polen den Westen dazu drängen möchte, wäre das ein Schritt, den Warschau vielleicht auch ohne den Segen Washingtons, Berlins und Paris zu unternehmen bereit wäre, wenn die Ukraine in letzter Not diesen Wunsch äußern sollte.
Nicht zuletzt auch deswegen, weil Teile der westlichen Ukraine historisch bis 1939 zu Polen gehörten. Lemberg gilt den Polen als eine polnische Stadt.
Am 24. Mai kündigte der Ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gemeinsame Zollkontrollen mit Polen an, um die „Integration der Ukraine in die EU-Märkte zu beschleunigen”.
Und der viel gelesene pro-polnische Twitteraccount „Visegrád24” befeuerte die Fantasien seiner Follower mit dem Hinweis, viele polnische Politiker seien für eine „polnisch-ukrainische Union”. Wie man in der Ukraine darüber denkt, ist wahrscheinlich eine andere Geschichte.
Zugegeben, solche Anschluss-Visionen sind derzeit eher journalistisch, als dass sie tatsächlich politische Strategie relevanter Akteure wären. Die meisten Politiker und Experten halten eine solche Entwicklung für sehr unwahrscheinlich.
Aber zumindest in Kontinentaleuropa hielten die meisten Politiker und Experten auch einen Angriff Russlands auf die Ukraine für sehr unwahrscheinlich – bis es dann geschah.