Nachdem im September 2017 zunächst die (AfD-)Wähler dem Ziel der Kanzlerin, auf Bundesebene zusammen mit den GRÜNEN zu regieren, einen Strich durch die Rechnung gemacht haben und anschließend die FDP sich einem schwarz-grün-gelben Regierungsbündnis verweigerte, konnte Merkel ihre Kanzlerschaft nur noch durch eine erneute Koalition mit der SPD retten. Dafür benötigte sie allerdings auch die Zustimmung der CSU-Führung, die ihr dafür einige migrationspolitische Zugeständnisse abforderte. Im Koalitionsvertrag stimmte sie daher widerwillig einer Obergrenze und sogenannten Ankerzentren zu, die nicht nur im Widerspruch zu Merkels migrationspolitischen Zielen, sondern noch mehr zu denen des dritten Koalitionspartners SPD stehen. Sowohl Merkel wie auch Nahles und Scholz akzeptierten die CSU-Forderungen nach einer restriktiveren Migrationspolitik (Obergrenze, Ankerzentren) vermutlich in der Hoffnung, sie im Zusammenspiel mit Merkel und einigen Landesregierungen im realen Regierungshandeln irgendwie unterlaufen oder wenigstens abmildern zu können.
Migrationspolitisch zieht die Koalition aus CDU, CSU und SPD schon seit der Grenzöffnung 2015 in keiner Weise an einem Strang, sondern hangeln sich von einem faulen Kompromiss zum nächsten. Das wird sich auch nicht ändern, koalieren hier doch drei Partner miteinander, von denen zwei (CDU und SPD) das (ultra-)liberale Ziel eines möglichst freien und unbegrenzten Zugangs von Migranten aller Art in den deutschen Arbeitsmarkt mittels des Asylrechts verfechten, während der dritte Partner (CSU) das Ziel verfolgt, die einheimischen Arbeitskräfte vor einer anhaltenden Massenzuwanderung aus den Kriegs- und Armutsgebieten dieser Welt via Asyl zu schützen, ohne deswegen allerdings das Recht auf Asyl außer Kraft zu setzen.
Überlagert ist dieser arbeitsmarktpolitische Konflikt von einem Konflikt um die kulturelle Integration muslimischer Zuwanderer, die schon lange im Land leben oder inzwischen in großer Zahl neu einwandern. Auch hier sind sich die drei Koalitionspartner alles andere als einig. Während die SPD-Führung etwa in Gestalt ihrer früheren Integrationsbeauftragten im Kanzleramt, Aydan Özoguz, der Meinung ist, das Zusammenleben müsse jeden Tag zwischen den Einheimischen und den muslimischen Zuwanderern (neu) ausgehandelt werden, vertritt die CSU-Führung die Auffassung, hier gäbe es nichts zu verhandeln. Die Muslime müssten sich vielmehr einer deutschen Leitkultur anpassen, hätten sich also nicht nur zu integrieren, sondern zu assimilieren. Bei der CDU-Führung weiß man nicht so genau, wo sie in dieser Frage steht, wenngleich Kanzlerin Merkel, wie in so vielem, wohl auch hier eher der grünen Position der SPD zuneigt.
Die derzeitige Koalition ist sich vor diesem Hintergrund migrationspolitisch in keinster Weise einig und deswegen auch nicht handlungsfähig. Sie ist deswegen, in den Worten von Alexander Gauland, mindestens so gärig oder auch obergärig wie seine eigene Partei, die AfD. Der Gärungsprozess hat dabei schon längst auf die drei beteiligten Parteien übergegriffen und dort Zersetzungsprozesse bislang unbekannten Ausmaßes in Gang gesetzt. Den vorläufigen Höhepunkt bildet seit einigen Wochen der Konflikt um Verfassungsschutzchef Hans Georg Maaßen, bei dem es nur vordergründig um Fragen seines illoyalen Verhaltens gegenüber der Kanzlerin im Falle Chemnitz geht. Entscheidend ist, dass an der Spitze des dem CSU-Innenminister unterstehenden Verfassungsschutzes bislang ein Behördenchef stand, der sich zunächst nicht-öffentlich, inzwischen aber auch öffentlich hinter die migrationspolitische Linie des CSU-Innenministers und damit gegen die Linie der Kanzlerin und der SPD stellt.
Spätestens nach den zu erwartenden Wahlerfolgen der AfD in Bayern und in Hessen werden die Karten neu gemischt. CDU, CSU und SPD werden gezwungen sein, sich entweder auf eine einheitliche migrationspolitische Linie zu einigen oder die Koalition aufzulösen. Während Merkel vermutlich auf einen Kurswechsel der CSU setzt, setzt die SPD-Führung auf eine Neubesetzung des dritten Koalitionspostens, vorzugsweise durch die GRÜNEN. Diese sitzen daher schon nicht mehr nur erwartungsvoll auf der Ersatzbank am Spielfeldrand, sondern laufen sich hinter den Außenlinien, beklatscht von den deutschen Talkshow-Diven und den meisten Printmedien, schon erkennbar warm.
Eine Fortsetzung des migrationspolitischen Streits könnte aber die derzeitige SPD-Führung nicht weiter mittragen, die trotz des Wechsels ehemals sozialdemokratischer Wähler zur AfD stur an ihrem (ultra-)liberalen Migrationskurs festhält. Ihrem Wunsch, die GRÜNEN als dritten Koalitionspartner hinzuzugewinnen, käme sie allerdings nur näher, wenn sie die Koalition aufkündigt und Neuwahlen zulässt. Danach werden entsprechend der derzeitigen Umfragen CDU/CSU und SPD rechnerisch nicht mehr in der Lage sein, zusammen eine „Große Koalition“ zu bilden und bräuchten einen dritten Partner. Auch dafür bieten sich am ehesten die GRÜNEN an, deren Funktionäre, Mitglieder und Anhänger inzwischen die entschiedensten Anhänger von Merkels (Migrations-)Politik sind.
Wie auch immer: die Zeit der faulen migrationspolitischen Kompromisse in Berlin läuft ab. Entweder setzt sich eine der beiden migrationspolitischen Linien unter Inkaufnahme des völligen Gesichtsverlustes von einem oder zwei Koalitionspartnern durch, oder einer von ihnen muß die Koalition verlassen, so daß sich alle Beteiligten für ihre jeweiligen Linie andere, verlässlichere Partner suchen müssen. Zusehends deutlicher wird in diesem Zusammenhang, daß sich inzwischen nicht nur in den USA und einigen europäischen Ländern, sondern auch in Deutschland das politische Feld nicht mehr allein nach dem „rechts versus links-Gegensatz“, sondern einem neuen „international versus national-Gegensatz“ sortiert. Das internationalistisch-kosmopolitische Lager besteht in Deutschland schon seit geraumer Zeit und beherrscht es ökonomisch, politisch wie medial und kulturell; das kommunitaristisch-nationale Lager bildet sich dagegen erst heraus, gewinnt aber sichtlich an Boden. Kein Wunder, daß dies die heute „herrschenden Klassen“ ziemlich beunruhigt.