Ein Schüler kam zum Meister. – »Berichte uns von dir!«, sagte der Meister. Der Schüler erzählte also von sich.
Der Schüler berichtete von seinem Heimatdorf, von seiner Mutter und von seinen Geschwistern, von den Schulen, die er besuchte, und vom Beruf, den er erlernt hatte.
Nachdem der Schüler den ersten Bericht abgelegt hatte, goss der Meister ihnen Tee ein und reichte dem Schüler eine Tasse.
Es war früher Abend an einem frühen Sommertag. Meister und Schüler saßen auf der Terrasse und blickten in den Garten. Ein Vogel spazierte vorbei, schaute sie an, prüfte sie, piepste zwei mal, und ging zu Fuß weiter.
»Danke«, sagte der Meister zum Schüler, »ich danke dir für dein Vertrauen, dass du mir so viel und so ehrlich über deinen Vater berichtet hast!«
Der Schüler verschluckte sich am Tee, verbrannte die Spitze seiner Zunge, hustete, und antwortete dann: »Aber ich habe doch gar nichts über meinen Vater gesagt!«
Der Meister lächelte, schlürfte vorsichtig am Tee, betrachtete neugierig den Vogel, der wiederum neugierig einen Wurm zu betrachten schien, unsicher, ob er ihn fressen sollte (also der Vogel den Wurm, nicht der Meister den Vogel).
Der Schüler wiederholte: »Ich habe doch nichts über meinen Vater erzählt.«
Der Meister schüttete dem Schüler den Tee nach, den dieser beim Husten auf das Holz der Terrasse vergossen hatte.
»Über deinen Vater«, sagte der Meister, »über deinen Vater hast du am lautesten gesprochen!«
Westen, Helme und Maschinenpistolen
Es ist eine jener Schlagzeilen, wie wir sie nun seit einigen Jahren lesen: »Hessen – Schießerei und Verletzte in Darmstadt« (welt.de, 8.5.2020)
Wir lesen im Bericht, unter anderem, diese Zeilen zu den festgenommenen Tatverdächtigen:
Zu deren Identität und der der Verletzten machte die Polizei keine weiteren Angaben. Auch der Ablauf der Auseinandersetzung und die Zahl der Beteiligten sowie deren Nationalität blieben nach dem Vorfall zunächst unklar. Die Polizei konnte auch nicht sagen, ob mehrere Streitparteien Schüsse abfeuerten. (welt.de, 8.5.2020, Stand 8.5.2020 vormittag)
Man darf dem schreibenden Journalisten zugestehen, dass er immerhin die Zeilen liefert, zwischen denen der Leser dann lesen kann – immerhin das.
Lasset uns puzzlen!
Wir verstehen heute, buchstäblich, was mit dem »Lesen zwischen den Zeilen« gemeint ist. Selbst ehrliche Journalisten, also die mit altem Berufsethos, als »Journalist« noch nicht ein Schimpfwort war und »Haltung« noch nicht für »schmierige Parteilinientreue« stand, selbst die wohl-nicht-so-vielen Anständigen in den Redaktionen, können nicht sagen, was sie wollen – oft können sie nur die Leerzeilen liefern, zwischen denen der Leser dann selbst die Wahrheit erkennen und einsetzen soll.
Nachrichten sind ein Puzzlespiel, und die Kunst des klugen Nachrichtenlesens besteht darin, die falschen Puzzleteile herauszufiltern, dann aufs ganze Bild zu schließen und selbst die fehlenden Stücke zu ergänzen.
Große unsichtbare Buchstaben
Manche Wahrheiten entdecken wir als Analogien auf verschiedenen Ebenen unserer Existenz wieder, und dazu gehört jene von der unausgesprochenen Wahrheit, welche die Lauteste, Dringendste, Schmerzlichste ist. Wir finden es in Partnerbeziehungen zweier Menschen, in Familien wie in Firmen, und selbstredend auch in Politik und Journalismus, was ja heute ohnehin zwei Namen für denselben Komplex zu sein scheinen. (Randnotiz: Dieses brüllende Schweigen begegnet uns in der Rhetorik von Politik und Wahlkampf auch im Begriff Tabu, mit dem Tabubrecher als schwierig zu spielender, aber wenn gut und im richtigen Augenblick gespielt, punktuell hoch effektiver Politik-Rolle; Näheres dazu in »Talking Points«.)
»Man sieht nur mit dem Herzen gut«, so sagt der kleine Prinz, »das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.« – Nun, beim Lesen der Nachrichten gilt desweiteren: Man liest nur mit dem Verstand und der Erfahrung gut, und mit viel Vorsicht, auf dass man beim Ergänzen und Ausmalen nicht allzu oft über die Linien der Logik und der Wahrscheinlichkeit drüber- und hinausfällt.
Boulevardblätter sind für ihre großen Buchstaben bekannt, mit denen sie betonen wollen, was wir heute wichtig und dringend zu finden haben, doch die größten Buchstaben sind heute bei Gelegenheit unsichtbar, die größten Buchstaben muss der kundige Leser heute selbst errechnen, selbst ergänzen.
Die wirklich wichtigen Frequenzen
Demokratie setzt kluge Bürger voraus, eine ehrliche Debatte und gemeinsames Dazulernen, ja, auch im offenen Streit um die Sache – und der muss eben möglich sein!
Wir hören heute Kampfgebrüll, wie das latent faschistische »Wir sind mehr!«. Im Staatsfunk wird gegen Andersdenkende gehetzt, wer aus Reih und Glied auszuscheren wagt, wird als Ratten, Spinner oder Wirrköpfe verhöhnt.
»Wer Ohren hat, der höre«, heißt es in der Bibel (Matthäus 11:15). Die Wahrheit zwischen den Zeilen klingt heute lauter als die Schablonen und Beschwichtigungen um die Wahrheit herum, doch es braucht aufmerksame Ohren.
Und deshalb: Trainiert eure Ohren! Hört die Zwischentöne und das Weggelassene. Zuerst mag es uns alles als Kakophonie erscheinen, als Durcheinander und Lärm, doch wenn man genauer hinhört, wenn man zu hören lernt, dann klingen die wirklich wichtigen Frequenzen erstaunlich klar durch.
Es braucht Übung, die richtigen und wichtigen Frequenzen aus dem großen Lärm herauszuhören, doch wer etwa den Ostblock am eigenen Leib und an eigener Seele erlebte, wird Ihnen bestätigen, dass man mit Erfahrung richtig gut darin werden kann.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.