Die kölsche Lösung – wenn man in Köln aufwächst, lernt man, dass es immer eine kölsche Lösung gibt; was aber konkret eine kölsche Lösung darstellt, das kann wechseln.
Die einen verstehen die gewitzte Zweckentfremdung darunter (auf neudeutsch würde man das einen »Hack« nennen), die anderen meinen die nur provisorische Lösung eines Problems, welche selbst wieder ganz neue Probleme schafft.
Ein berühmtes Beispiel für eine kölsche Lösung ist das Dach der Kölner Philharmonie. Der berühmte – und wirklich hübsche – Konzertsaal liegt unterm Heinrich-Böll-Platz, und wenn Konzerte stattfinden, können Geräusche etwa von Skateboards oder harten Schuhen das Pianissimo des musikalischen Hochamtes stören – statt Dach und Platz zu reparieren, sperrt man also während der Konzerte den Platz ab, und man stellt Wachpersonal samt Hinweisschildern hin, um so Touristen über den Ticketvorverkauf zu informieren – eine wahrlich kölsche Lösung!
Etwas, das wie eine kölsche Lösung aussah, fiel mir schon vor Jahren auf – auch schon vor 2015. Wenn in den Lokalnachrichten über Verbrechen und anderes Unangenehme mit sozialer Implikation berichtet wurde, dann stand manchmal dabei, dass der vermutliche Täter ein Deutscher war – und manchmal stand extra deutlich nichts über seine Herkunft dabei – warum mal so und mal so? Ich nenne es die Wahrheit in den Lücken.
Eine nur auf den ersten Blick tautologische Definition von »Nachricht« könnte lauten: Was der Leser für eine Nachricht hält. Oder, anders: Eine Nachricht ist, was die Leser aktuell interessiert. Was aber soll eine Zeitung tun, wenn sie einen Aspekt dessen, was die Leser aktuell interessiert, gar nicht sagen darf oder nicht sagen will? Eine Kölsche Lösung wäre, nicht die Fälle auszuzeichnen, in denen der Täter ein »Immi« war, sondern jene, in denen er es nicht war. (Ich weiß natürlich nicht, ob es eine solche Motivation wirklich in den Redaktionsstuben gab, woher sollte ich es wissen?)
Das vielsagende Nichtgesagte war damals noch grob und wenig verfeinert; wir sind heute weiter. – Man spricht heute manchmal von »Lückenpresse«, und man meint eine gefühlte Front von Haltungsmedien, in deren Berichterstattung zur Lage der Nation tägliche und auffällige Lücken klaffen – und täglich die gleichen.
Durchaus durchwachsen
Wenn etwa über ein Verbrechen berichtet wird, kann es passieren, dass zwar berichtet wird, dass der Täter flüchtig und gesucht sei, doch es wird augenscheinlich vergessen, eine Täterbeschreibung beizufügen – sucht man dazu die entsprechende Polizei- oder Lokalmeldung, wird es klarer. Der erfahrene Medienkonsument hat heute das Gefühl, den Täter beschreiben zu können anhand der Dinge, die nicht berichtet wurden.
Neuer Code
Ich habe auf Twitter gefragt, was aktuelle Codes der Zwischen-den-Zeilen-Berichterstattung sind (@dushanwegner, 3.2.2019); aus Ihren Antworten habe ich drei ausgewählt, die auf ein gemeinsames Phänomen unter der Oberfläche zu verweisen scheinen.
»junge Männer«, »Männergruppe«
Kaum eine Chiffre ist so ikonisch für heutige Berichterstattung wie »junge Männer« und die eindeutigere Variante »Männergruppe« – und es ist eher selten eine Selbsthilfegruppe für traurige Herren in der örtlichen Pfarrgemeinde gemeint.
Aus München wird aktuell diese Schlagzeile gemeldet:
Zwei junge Männer steigen in Taxi – einer würgt die Fahrerin, der andere raubt sie aus (tz.de, 4.2.2019)
In diesem Fall erfährt der Leser, wenn er sich durch den Text arbeitet, dass die beiden jungen Männer ein »orientalisches Aussehen« besitzen und »nach eigenen Angaben aus dem Irak« stammen – diese Meldung ist die Ausnahme, denn in weitaus mehr Fällen findet sich »junge Männer« ohne weitere Bestimmung.
Ein deutlicherer Code ist »Männergruppe«, sei es rund um den Berliner Alexanderplatz (z.B. berlin.de, 4.2.2019), im Industriegebiet von Singen (suedkurier.de, 6.1.2019) oder der »Streit mit Männergruppe« in Sigmaringen (tag24.de, 3.2.2019).
Viele, die heute die Nachrichten lesen und auf den Ausdruck »Männergruppe« stoßen, haben »so eine Ahnung«, um was es geht – was bedeutet das? Sind alle, die eine solche Ahnung haben gar »Rassisten«, »Rechte« et cetera? Ich fürchte, dass es um ein tieferliegendes Problem, dass es um einen Riss in der Gesellschaft geht.
Was die Schönredner nicht verstehen, was sie nicht sehen wollen: Indem sie die Berichte sterilisieren, weisen sie gerade umso deutlicher auf die Lücken hin – das Loch in der Mauer zieht mehr Blicke auf eben diese Stelle, als die Mauer es ohne Lücke getan hätte. Gerade indem man etwas zu verheimlichen sucht, das ohnehin herauskommen wird, zieht man den Generalverdacht auf die gesamte Gruppe. Der Leser fragt sich: Wenn hier durch Weglassen de facto gelogen wird, wo wird sonst noch möglicherweise gelogen?
»Streit«
Das Wort »Streit« steht zunächst für eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Interessenslagen (wie etwa um den Leichnam von Diana, siehe gala.de, 3.2.2019), doch in den letzten Jahren ist eine weitere Bedeutung dazugekommen: Wenn Medien heute von »Streit« berichten, oft mit »Männergruppen« und »Messerangriff«, dann handelt es sich augenscheinlich nicht wirklich um Interessenslagen, sondern um das Kräftemessen und den Ausbruch einer Männlichkeit, die denen, »die schon länger da sind«, gottlob abtrainiert worden war.
Ein aktuelles Beispiel aus Gera. Die Überschrift heißt: »Tätlicher Streit vor Restaurant«, die kurze Meldung spricht dann über »zwei männliche Personengruppen«, aber nichts von Motiven (otz.de, 4.2.2019). Weil am Rhein: »Streit auf Recyclinghof eskaliert« (verlagshaus-jaumann.de, 3.2.2019). Burgenland, Österreich: »Im Zuge eines Streits …« (krone.at, 2.2.2019). Bad Soden: »Streit in Asylunterkunft« (presseportal.de, 28.1.2019) – und so weiter.
Sicherlich hat es schon immer Streit gegeben, auch »Streit mit tödlichem Ausgang« – der erste davon war wahrscheinlich der zwischen Kain und Abel. Doch eigentlich hatten wir inzwischen Streit einigermaßen erfolgreich ins Verbale und Nicht-Körperliche verbannt.
Dass Streit a) wie ein Selbstzweck erscheint, und b) immer wieder fast schon automatisch mit Messern einhergeht, das ist beides in dieser Breite neu. (Prüfen Sie selbst: Wenn Sie eine Meldung lesen vom »Streit«, der »eskalierte«, suchen Sie nach den Ursachen! Wird eine angegeben? Und, wenn ja: Wie plausibel erscheint Ihnen die Ursache?)
Ein »Streit« kann auch in eine »Messerstecherei« ausarten, wobei beide Begriffe eine Beidseitigkeit implizieren, und man wird den Verdacht nicht los, dass mancher »Streit« auch als Angriff gedeutet werden könnte. – Wenn Medien heute »Streit« sagen, nicht selten in Kombination mit »jungen Männern«, dann ahnen wir, dass es nicht ein Streit im bisherigen Sinne ist. Der neue Streit hat offensichtlich eine neue Qualität, wir ahnen Machismo aus archaischen Kontexten, die der Lass-uns-mal-drüber-reden-Kultur unserer zum Kuscheln erzogenen Seelen bislang fremd war. (Ich fand es gut, dass uns Gewalt so fremd war!)
»Deutscher«, »deutscher Pass«
Bei Gelegenheit kann der neue Code orwellsche Züge annehmen, wenn etwa durch das Ausdehnen von Begriffen und durch das Verwenden von Worten gegen die erwartete Bedeutung bei Hörern ein aktiv falscher Eindruck erzeugt wird, aber eben nur für eine immer kürzere Zeit.
Beispiel: »heute Xpress« (ZDF) berichtete im Dezember 2018 zu einem Mordfall in Sankt Augustin, unter anderem: »Ein 19-jährige Deutscher wurde festgenommen.« – Correctiv stellt über Teile des Berichtes fest: »Das ist eine Verkürzung, aber nicht falsch.« (correctiv.org, 5.12.2018) – Man könnte auch sagen, es ist technisch richtig, doch evoziert (bewusst?) ein unrichtiges Bild im Empfänger. Es wird von einer »städtischen Unterkunft« gesprochen, in welcher er lebte (Video-Kopie auf Facebook). Die Familie des Tatverdächtigen stammt tatsächlich aus Kenia und er lebt seit seinem zweiten Lebensjahr in Deutschland; er gilt als »Ius-soli-Deutscher« mit zwei Pässen, in der »städtischen Unterkunft« lebten auch Flüchtlinge, und das Weglassen dieser Information ist wohl, was Correctiv mit »Verkürzung« meint.
Der rhetorische Trick, den die ZDF-Journalisten hier anwendeten (ob bewusst oder aus Versehen) hat mit begrifflichen Prototypen zu tun. – Wenn ich Ihnen einen Begriff wie Tisch, Auto oder Bayer nenne, dann denken Sie an eine Platte mit vier Beinen, an einen PKW mit vier Rädern beziehungsweise an einen Mann in Lederhose – das sind die Prototypen dieser Begriffe. Wenn im Leitmedium von Deutscher gesprochen wird, dann wird das Bild des prototypischen Hans Müller, Facharbeiter getriggert, nicht das grüne Konzept des Deutschen als eigenschaftsfreies Wer-schon-länger-da-ist. Absicht? Versehen?
Es passiert ja häufiger! Im Fall des Anschlags von München 2016 wurde in Deutschland von einer rechtsextremen Tat berichtet durch einen Deutschen »David S.« – dass seine Familie aber aus dem Iran stammte und er unter anderem einen ausländischen Nachnamen trug und als »Ali« geboren worden war, all dies wurde zunächst in der Berichterstattung gestrichen, und so das prototypische Bild eines Klischee-Deutschen mit noch dazu rechtsextremer Gesinnung impliziert.
Solche Tricks wie die Betonung des Deutschseins bei einem nie-ganz-angekommenen Bürger zweiter oder dritter Generation, meint man wirklich, dass es die Risse zwischen den Kulturen und »Heimaten« heilen wird? Kann man wirklich so naiv sein?
Tünche über dem Riss
Der Codes sind viele! Die Wahrheit – die eigentliche Nachricht – ist immer wieder in Lücken versteckt – und jene, welche die Wahrheit oder eine alternative Deutung als die »offizielle« Deutung eben dieser Wahrheit vorschlagen, werden mit Wieselworten in sprachlicher Distanz gehalten. – »Umstritten« kann Code sein für jemanden, der störende Fakten erwähnt, den es aber nicht zum Schweigen zu bringen gelingen will (vergleiche etwa meedia.de, 31.7.2018 zu Thilo Sarrazin). Umstritten reiht sich ein in die Reihe von Abwertungen für Personen und Positionen, über die zu berichten man sich zwar gezwungen sieht, die man aber als außerhalb des aktuellen Overton-Fensters einordnen möchte, dazu zählt unter anderem auch »(rechts)populistisch« oder »selbsternannt«. (Im entsprechenden Thread bei Twitter finden sich viele weitere Beispiele!) – Interessant sind etwa auch Gegenüberstellungen wie »Aktivist« (links) vs. »Rechtsadikaler« (nicht-links), et cetera. – All diese wackligen Kunstwörter, die wir vor wenigen Jahren noch nicht kannten, sie weisen auf eine klaffende Lücke hin.
Ich habe unter den vielen von Ihnen vorgeschlagenen Codes die drei erwähnten als Beispiele ausgewählt (»junge Männer«, »Streit« und »Deutscher«), denn sie sind wie verzweifelte Tünche über einem sich täglich weiter öffnenden Riss. (Es gibt durchaus weitere Codes, etwa »Beim Motiv tappen die Ermittler bisher im Dunklen«, während der mutmaßliche Täter im Moment der Tat sehr deutlich in die Welt rief, was ihn treibt – es sind Lückenbezeichner, die immer wieder auf denselben Riss hindeuten.)
Die »jungen Männer«, von denen wir hören, sind oft nicht einfach nur Halbstarke, sondern eben Männer, die zum Teil in einer völlig anderen Kultur und Denkweise sozialisiert wurden. Wenn von »Streit« die Rede ist, fehlt regelmäßig die Information, was denn die auslösende Motivation jenes Streits war – und wenn wir die angeblichen Gründe erfahren, dann kann es sein, dass lediglich das Opfer »so komisch geguckt« habe (bild.de, 31.1.2019) – verstehen wir es? Nein, und das ist eine klaffene Lücke.
Wenn Medien mögliche kulturelle Zusammenhänge von Handlungen mit Code-Wörtern zu übertünchen suchen, dann argumentieren sie gelegentlich mit dem »Pressekodex«, doch auch dieser fühlt sich längst wie ein Werkzeug politischer Interessenslagen an (siehe z.B. »Presserat: Mal gilt der Pressekodex, mal gilt er nicht«, heise.de, 26.6.2018; aber auch deutschlandfunk.de, 5.2.2018). – Das krampfhafte Verstecken möglicher kultureller Hintergründe hinter Worten ist gefährlich. Die Spannungen zwischen Kulturen, Denkweisen und damit Ethiken sind das Megathema der nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte, meines Erachtens drängender noch als Künstliche Intelligenz oder Energie. Ob Autos selbst fahren können oder ob dieses oder jenes Kraftwerk angeschaltet bleibt, das sind längst keine so drängenden Fragen wie die nach dem Zusammenleben möglicherweise inkompatibler Kulturen und Ethikkonzepte in einer globalen und freizügigen Welt. – Probleme und Spannungen hinter schönrednerischen Codes zu verstecken ist so aussichtsreich wie Zahnschmerzen mit Pfefferminzbonbons heilen zu wollen.
Nit emmer joot jejange
In Köln hat man sich ein eigenes Rheinisches Grundgesetz gegeben, dessen dritter Artikel lautet: »Et hätt noch emmer joot jejange.« – auf Deutsch: Es ist noch immer gutgegangen.
Als am 3. März 2009 das Kölner Stadtarchiv einstürzte, sagten manche, Artikel Drei des Rheinischen Grundgesetzes hätte sich spätestens bei diesem Einsturz als falsch erwiesen. Zwei Menschen starben. Die Ursachen wurden vor Gerichten verhandelt, doch man könnte vermuten, dass es beim Bau der U-Bahn wohl hier und da eine »kölsche Lösung« zu viel gab.
Jeder einzelne »Einzelfall« mit »jungen Männern« widerlegt Artikel Drei des Rheinischen Grundgesetzes, deutschlandweit, nicht nur in Köln. Jedes einzelne Mal, wenn die Risse in der Gesellschaft mit schönfärberischen Ausdrücken wie »junge Männer« übertüncht werden sollen, bewegen wir uns weiter weg vom Frieden.
Ich empfehle uns, den ersten Artikel desselben Rheinischen Grundgesetzes zu beherzigen: »Et es wie et es.« – Das erfolgreiche Leben und Denken, ob als Rheinländer oder ganz allgemein als Rationaler, beginnt stets mit der Anerkennung der Tatsachen, der Fakten, der Wahrheit.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.