Wie der Zufall es will, bin ich in den letzten Monaten erheblich mehr als sonst durch ganz Europa gereist. Ob in Rom, Paris, London, Berlin oder Brüssel – der Eindruck war überall derselbe: Europas Hauptstädte haben ein Problem mit ihrem Müll. Doch halt, ich schrieb „Europas Hauptstädte“ – eigentlich sollte ich eher von Westeuropa sprechen, denn in Warschau oder Budapest konnte ich Vergleichbares noch nicht feststellen.
Wann ist es geschehen, dass wir die Kontrolle über unseren Abfall verloren haben? Vor noch gerade einmal 15 Jahren, wie mir scheint, war die Situation in keiner der genannten Städte aus der Hand geraten. Sicherlich, es bestanden immer schon gewisse Unterschiede zwischen einer gewissen Toleranz für malerischen Verfall im Süden und der etwas klinischen Sauberkeit des Nordens – und ich gestehe an dieser Stelle gerne meinen Schock, als mein ältester Sohn bei seiner ersten Reise nach Südfrankreich im malerischen Parfumeurstädtchen Grasse mit mildem Abscheu erklärte, hier sei alles so „alt und dreckig“: 5 Jahre im sauberen und neubaulastigen Polen haben mentale Spuren hinterlassen, die ich erziehungstechnisch dringend zurechtrücken muss…
Aber zurück zum Thema: Was heute geschieht, hat wenig mit dem Flair historischer Stratenbildung und dem Respekt vor distinguiertem Verfall zu tun: Wenn sich nicht nur in den Seitenstraßen Roms, sondern auch Londons oder Paris’ offensichtlich seit Wochen die Müllsäcke türmen, ergänzt durch allerhand dekorativ drapierten Einzelabfall, so verweist dies auf ein fundamentales strukturelles Problem bei den Stadtverwaltungen, nicht auf eine etwas großzügige Interpretation der Frage, ob und ab wann aus Müll eine Antiquität wird.
Wie konnte es dazu kommen? Die Antwort ist mehrschichtig: Erstens haben wir natürlich die Finanzfrage. Ein erheblicher Teil des Reichtums, der in den Herzen unserer Großstädte erwirtschaftet wird, fließt über verschiedenste Kanäle wieder ab und kommt den unmittelbar Interessierten nur selten zugute – die Stadtverwaltungen konzentrieren sich also auf das dringend Notwendige und priorisieren mit größter Offensichtlichkeit lieber jene Hauptstraßen und Touristenviertel, deren Unterhalt lebenswichtig für ihr „Image“ ist; Seitenstraßen und natürlich „Banlieues“ sind da eher zweitrangig.
Zweitens wäre da die allgemeine Barbarisierung jener, die unsere Städte beleben: Dass der Müll eben nicht nach vollendetem Konsum in die nächste Ecke zu entsorgen ist, sondern man durchaus auch einige Meter gehen kann (und sollte), bis der passende Mülleimer erscheint (falls er denn geleert wurde …), sollte eigentlich zur Zivilisation dazugehören – gerade in Zeiten geradezu manischer Mülltrennung und beständiger Betonung von „Nachhaltigkeit“.
Und drittens, und wohl am wichtigsten: Wer möchte heute schon sein Geld bei der Müllabfuhr verdienen? Hier berühren wir ein fundamentales Problem von Erziehung und Ressourcenverteilung: Wenn das staatlich garantierte Grundeinkommen nahezu so hoch ist wie ein sozial wenig anerkannter Beruf (oder umgekehrt), ergibt sich notgedrungen eine eher geringe Bereitschaft, letzteren anzunehmen – gerade heutzutage, wo Begriffe wie Pflichtgefühl, Gemeinschaftsgeist oder Hingabe an eine Sache um ihrer selbst willen nicht gerade groß geschrieben werden: Kein Wunder, dass jene schlechtdotierte, immer mehr unter Personalmangel leidende Müllabfuhr in Städten wie Paris geradezu in den Dauerstreik getreten ist, um auf ihre Sorgen aufmerksam zu machen.
Die Frage nach der zunehmenden Vermüllung unserer Großstädte ist keine Nebensache; sie ist auch kultumorphologisch relevant. In kaum einem Bereich zeigt sich der Niedergang einer Kultur so sehr wie in der mangelnden Pflege von Hygiene und Ästhetik – und man komme mir hier nicht mit Legenden vom (angeblich) schmutzigen Mittelalter, das auch in dieser Hinsicht übrigens ebensowenig „dunkel“ war wie in den meisten anderen. Wenn eine Hochkultur auf etwas aufgebaut ist, so ist es die Einsicht, dass nur durch die Wertschätzung des öffentlichen Raums – der übrigens durchaus nicht immer säkular sein muss, sondern auch und gerade sakral definiert sein mag – jene Sublimierung geschehen kann, die die nötigen Energien freisetzt, um alltägliche Lebensbedingungen zu schaffen, von denen letztlich auch der Einzelne profitiert; dass also die Aufgabe gewisser individueller Freiräume notwendig ist, um im Gegenzug die Möglichkeit zur ungeahnten Ausdehnung und Bereicherung der im privaten Bereich verbleibenden Räume zu bieten. Wenn ein rücksichtloser, spätzivilisatorischer Individualismus die Verantwortung für das „Ganze“ in den Wind schlägt, so leidet früher oder später jedes Individuum unter jenem Zivilisationsbruch.
Eine kleine Anekdote zur Verdeutlichung und zum Beschluss dieser Überlegungen. Die Gründung Roms durch Zusammenschluss verschiedener Hügelsiedlungen war letzten Endes nur dadurch ermöglicht worden, dass durch eine beachtliche kollektive Anstrengung die sumpfige Talsenke des späteren Forums trockengelegt wurde, das zum politischen und wirtschaftlichen Treffpunkt der Bürger werden sollte: Das Herz des Imperiums war im wahrsten Sinne des Wortes auf einer Abflussanlage gegründet, und es war dementsprechend mehr als logisch, dass sich im Zentrum des Forums auch ein kleines Heiligtum für die Reinheitsgöttin Cloacina befand.
Durch nichts wurde der Niedergang des Reichs dann ein Jahrtausend später so augenscheinlich verdeutlicht, dass nicht nur die von den Germanen unterbrochenen Aquädukte nicht mehr wiederhergestellt, sondern auch die Abflusssysteme nicht mehr unterhalten wurden: In Rekordzeit sammelten sich auf den marmornen Bodenplatten der einstigen Welthauptstadt erneut allerlei von den Sieben Hügeln herabgespülten organischen Abfälle an und bildeten schließlich eine meterhohe Erosionsschicht, die von den einstigen Prachtbauten nur noch die Spitzen sichtbar bleiben und das Forum (wieder) zur Viehweide werden ließen.
Wer heute einen Spaziergang entlang der Tiberböschungen macht – vor gar nicht so langer Zeit ein beliebter Treffpunkt von Joggern, Liebenden und Flaneuren, die abseits vom städtischen Getriebe etwas Ruhe suchten –, wird dieses Phänomen mit eigenen Augen erblicken: Aus Müll, toten Blättern und Überschwemmungsresten ist längst wieder eine echte Erdschicht geworden, auf der neben unzähligen Büschen sogar erste Bäume zu wachsen beginnen, während von der Pflasterung nur noch ein kleiner, gewundener Trampelpfad übriggeblieben ist, der von jenen zahllosen Obdachlosen und illegalen Migranten benutzt wird, die sich hier, nur wenige Meter unterhalb der Touristenmassen aus aller Welt, in Zelten und Pappunterkünften häuslich niedergelassen haben – der Verfall der Spätantike hat sich hier in nur wenigen Jahren erneut augenfällig wiederholt.
Noch ist es zum Glück nicht zu spät, als dass eine konzertierte städtische Aktion hier nicht die dringend benötigte Abhilfe schaffen könnte, ebenso wie in den verfallenden, über und über mit Müll besäten Seitenstraßen der ewigen Stadt. Aber die Zeichen des zivilisatorischen Memento Mori stehen offensichtlich an die Wand geschrieben, und der nicht nur in Rom, sondern auch vielen anderen westeuropäischen (und übrigens auch amerikanischen) Städten dringend nötige, immer wieder in die Zukunft verschobene Aufwand zur Widerherstellung von Ordnung und Sauberkeit wird immer größer – und das in einer Zeit, wo nicht nur für die Müllabfuhr, sondern auch die Polizei, die Justiz, die Erziehung oder die Krankenvorsorge die Mittel immer spärlicher gesät zu sein scheinen …