In letzter Zeit scheint die Präsenz der Bundeskanzlerin in der Öffentlichkeit deutlich abzunehmen. Ist sie nur noch im Ausland unterwegs, flieht sie der deutschen Tristesse, für die sie doch eine Mitverantwortung trägt? Die Kanzlerin wirkt unsichtbar, doch das bedeutet keinesfalls, dass sich Angela Merkels Politikstil verändert oder ihre Macht verringert habe. Die Gründe, die man dafür ins Feld führen könnte, reichen von einer grundsätzlichen Abkehr der Bundeskanzlerin von der Innenpolitik über die Rollenverteilung zwischen der Bundeskanzlerin und der Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer bis hin zu einem prognostizierten Herbst der Patriarchin. Man kann zu den Gründen natürlich noch alle möglichen Gründchen hinzufügen, nur sollte man sich davor hüten, Führungspolitiker zu dämonisieren oder zu heroisieren oder sie allzu sehr zu psychologisieren. Sie bestimmen den gesellschaftlichen Zustand, wie sie zugleich auch Produkte eines gesellschaftlichen Zustands sind. Schließlich bewegt sich auch die CDU in einem gesellschaftlichen Umfeld, das unter anderem geprägt wird durch den Sieg der 68er und ihrem erfolgreichen Marsch durch die Institutionen, der seine verheerenden Folgen in der Bildung, der Kultur, in den Medien zeigt, und natürlich unter den Bedingungen der linksliberalen Diskurshoheit. Das muss die Partei selbstverständlich in Rechnung stellen. Die Frage ist nur, führt man die Auseinandersetzung oder weicht man ihr aus, indem man die eigenen Positionen unsichtbar macht.
Angela Merkel ist nicht alleinverantwortlich für Deutschland
Die CDU hat Angela Merkel gewollt und will sie noch immer, auch wenn es den Anschein hat, dass die Diadochenkämpfe im Gange sind, allerdings von Leuten, die noch keine Diadochen sind. Der Kanzlerin kann es recht sein, sie kann hinter der Gardine vergnügt zuschauen, wie sich ihre gefühlten Nachfolger gegenseitig aufreiben. Angela Merkel ist, obwohl sie dafür politisch Verantwortung trägt, was sich in diesem Land je nach Blickwinkel zum Guten oder zum Schlechten entwickelt, nicht die Alleinverantwortliche für den Zustand, in dem sich Deutschland befindet. Es waren die Zustände in Deutschland, die Angela Merkel ermöglicht haben. CDU-Politiker haben auf ihren Parteitagen sie zur Parteivorsitzenden gewählt, sie standen hinter dem „Wir schaffen das“, wie sie auch atemlos Fridays for future hinterherlaufen und die E-Mobilität preisen, obwohl doch jeder, der halbwegs die Fakten kennt, weiß, dass eine Politik, die sich von einer kühl inszenierten Klimahysterie treiben lässt, zur De-Industrialisierung, zur Zerstörung der deutschen Wirtschaft führen wird. Die Meldungen und Prognosen aus der Automobilindustrie sprechen eine klare Sprache. Aber genau diese Fakten sollen hinter immer hysterischer werdenden Klimakatastrophenmeldungen unsichtbar gemacht werden. Die Realität verschwimmt hinter den Träumen, den Emotionen, der Selbstermächtigung, den erhabenen Gefühlen, die man sich so gern macht. Inzwischen wird von den Protagonisten der Klimabewegung auch unumwunden zugegeben, dass es sich nicht um die Emissionen und um das Klima, sondern um den Umbau der Gesellschaft, um „unsere imperiale Lebensweise“, die beendet werden soll, handelt.
In aller Nüchternheit analysiert vollzieht sich in Deutschland durch die Erosion des Parteiensystems ein Zerfall der politischen Stabilität. In Gang gesetzt wurde diese Erosion durch die Dicta der Alternativlosigkeiten. Die politische Auseinandersetzung wurde in Frage gestellt durch die angebliche Alternativlosigkeit der Maßnahmen, doch nichts im Leben ist alternativlos. Mehr noch, die Alternativen sollen gerade durch die Behauptung ihrer Nichtexistenz unsichtbar gemacht werden. Die Erosion resultiert aus dem Wechsel von der politischen Rationalität in die politische Romantik, die leider die Deutschen so sehr lieben und die sehr viel Unheil hervorgebracht hat. Die Erosion findet ihre Ursache im Verwischen, in der Unsichtbarmachung von politischen Konfliktlinien, wie sie zum Politikstil der Kanzlerin gehört.
Mag die Erosion sich am auffälligsten bei der SPD zeigen, so betrifft sie nicht weniger die CDU, die nur noch der Wille zur Macht zusammenhält, denn inhaltlich verfügt sie kaum noch über Positionen, die sie nicht wie Hans im Glück im gleichnamigen Märchen eingetauscht und aufgegeben hätte. Die Positionen der CDU in der Einwanderungspolitik, der inneren Sicherheit, der Verteidigung, in den Fragen der Ehe, der Familie und der Wirtschaft wurden auf Anraten des Wahlforschers Matthias Jung schon vor Jahren geräumt. Allerdings hatten Jung und die ihm zujubelnden Christdemokraten um Angela Merkel nicht bedacht, dass Politik und Geschichte keine Spielwiesen für Demoskopen sind und Macht sich nicht im Marketing erschöpft. Macht rechtfertigt sich historisch als Macht zu etwas und gegen etwas, nicht aber der Macht als Macht. Die technokratische Vorstellung, die Macht dadurch auszudehnen, dass man eigene Positionen preisgibt, dafür die des politischen Gegners übernimmt, um so in dessen Wählerschicht einzubrechen und die eigene Klientel aus Ermangelung einer Initiative in einer Art Babylonischer Gefangenschaft zu halten, mag für eine überschaubare Zeit Vorteile bringen, doch sie zerstört das Parteiensystem und führt zu einer Entpolitisierung, die eine neue, jedoch ungestümere Politisierung zur Folge hat.
„Die CDU läuft zum Zwecke des Machterhalts nur
noch allem hinterher, was selbigen zu versprechen scheint.
Ihr Charakter, das, wofür sie steht, ist unsichtbar“
Diese Vorstellung, die im Grunde die Übersetzung des Marketings in die Politik darstellt, ist heillos naiv. Wähler sind keine Konsumenten, auch keine gläubige Gefolgschaft, sondern Bürger mit Interessen. Werden in einer repräsentativen Demokratie die Interessen von Bürgern missachtet, sogar gegen die Interessen einer größeren Anzahl von Bürgern regiert, dann suchen sich diese Interessen neue Vertreter. Die AfD ist das Produkt der Idee der asynchronen Demobilisierung des Matthias Jung und einer CDU, vor allem einer Führungsgruppe um Angela Merkel, die diese Idee zur alleingültigen politischen Taktik erhob. Damit gleichen sie dem Zauberlehrling, der nun die Geister, die er rief, nicht mehr loswird. Aus der asynchronen Demobilisierung wurde die synchrone Mobilisierung der Grünen und der AfD.
Das entspricht Angela Merkels Politikverständnis, das in einem virtuosen Gebrauch der Macht gipfelt. Sie ist eine ausgesprochen talentierte und oft unterschätzte Machtpolitikerin. Die Taktik der asynchronen Demobilisierung passt perfekt zu ihrem Politikstil, der seinen gültigen Ausdruck in ihrer Sprache findet. Es geht um Entropie des Diskurses, die Auflösung der Debatten durch die Entpolitisierung der politischen Kommunikation. Argumente werden durch Losungen ersetzt, Denken durch Fühlen. Die Bundeskanzlerin vermochte, getragen von einer mächtigen Kampagne der Willkommenskultur, die von Medien geradezu im sozialistischen Stil entfesselt wurde, nicht einmal ihre Losung: „Wir schaffen das“ zu begründen – sie musste dies auch nicht. Die beiden langen Interviews in Anne Wills Sendung erschöpften sich in der Aussage: Ich weiß, wie es geht, ich kann es euch aber nicht erklären, also habt Vertrauen zu mir. Glaubt mir einfach, ich durchdenke die Dinge vom Ende her und weiß, was gut für euch ist. Das Argument, die rationale Begründung von Politik, wurden unsichtbar hinter der Emotionalisierung und Moralisierung und der Behauptung der Alternativlosigkeit.
Eine pluralistische Demokratie setzt aber den kritischen und nicht den gläubigen Bürger voraus. Die Auflösung von politischen Gegensätzen, die Überführung des politischen Meinungsstreites in die Bereiche der gesellschaftlichen Ächtung oder der Therapie schaden der Demokratie.
Man hat keine Fehler gemacht, sondern bewusst das Falsche getan
Spätestens seit 2014 war die Regierung vom Migrationsstrom unterrichtet, im Herbst 2015 prognostizierten Fachleute in den Sicherheitsorganen und einige wenige Wissenschaftler, Politiker und Publizisten die Folgen der Willkommenskultur. Sie wurden moralisch verächtlich gemacht, der Zugang zu den Medien, die sich als Propagandisten der Willkommenskultur verstanden und teils immer noch verstehen, wurde für sie, freundlich formuliert, stark eingeschränkt. Einige erlitten berufliche Konsequenzen. Doch die Prognosen bewahrheiteten sich. Es wird gern der Eindruck erweckt, dass man damals Fehler gemacht habe. Das ist nicht richtig, man hat keine Fehler gemacht, man hat bewusst das Falsche getan. Um die eigene Verantwortung unsichtbar zu machen, erweist sich die Klimadebatte als geniales Framing, denn alle sprechen vom Wetter und niemand über die Migrationskrise, die übrigens nicht beendet ist, sondern sich weiter verschärft. Auch die Finanz- und die Griechenlandkrise wirken weiter, allerdings medial unsichtbar. Die Rezession wirft ihre Schatten voraus, die Euro-Krise wird noch durch Niedrigzinspolitik und Anleiheankauf, einer heimlichen und verheimlichten Inflation eingehegt. Wenn diese Maßnahmen an das Ende ihrer Wirksamkeit gekommen sind, wird sich zeigen, wie marode die Fiskalstrukturen sind.
Der kühle Analytiker findet sich in der Rolle des Kassandra wieder, jener Trojerin, die Apollon mit der Gabe beschenkt, die Zukunft vorauszusehen, und gleichzeitig mit dem Fluch geschlagen hat, dass niemand ihr glauben wird.
Wenn man die spärlichen autobiographischen Statements in Merkels Interviews liest, fragt man sich als Ostdeutscher, wo sie eigentlich gelebt hatte, zu welcher Zeit, in welchem Staat. In Ostdeutschland wird Angela Merkel kaum als Ostdeutsche wahrgenommen, in Westdeutschland hingegen schon. Für Ostdeutsche ist ihre ostdeutsche Herkunft nicht sichtbar.
Die Unsichtbarkeit christdemokratischer Positionen und die Ununterscheidbarkeit der CDU von der SPD und immer mehr von den Grünen wird das schwere Erbe der Kanzlerschaft der Angela Merkel sein. Es gilt, das Politische, die Sichtbarkeit, die Unterschiede wieder zu aktivieren, allerdings jenseits von Moralisierung, Tabuisierung, Empörung, Verdächtigung und Verunglimpfung auf der Grundlage politischer Rationalität. Es ist notwendig, den Gesellschaftsumbau, der hinter den Kulissen und abseits der Öffentlichkeit erfolgt, sichtbar zu machen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur.