Tichys Einblick
KRISE, KRISE, KRISE

Die Tür zur Zukunft wird zugeschlagen

In der Ad-hoc-Politik zur Krisenbewältigung verliert die strategische Perspektive zunehmend an Bedeutung. Unter die Räder kommt dabei auch die Bildungsförderung. Doch ohne bewegliche, frische Köpfe, in denen auch etwas steckt, werden wir in Zukunft erst recht nicht vorankommen.

© Emile Guillemot

Die Titel künftiger Geschichts­bücher über die gegenwärtige Epoche lassen sich bereits heute formulieren: „Krise, Krise, Krise“ oder „Drama, Drama, Drama“, vielleicht so­gar „Tragödie, Tragödie, Tragödie“. Die Probleme jagen sich: Krieg, Pandemien, Flüchtlingsströme, Inflation, Sabotage­akte, Handelsstörungen, Engpässe bei Gas, Öl, Atomenergie. Und auf alles das weiß die Politik als Antwort nur ein situ­atives Krisenmanagement. Fehlanzeige herrscht bei jenem Ansatz, der eigent­lich unverzichtbar ist: die strategische Lösungsperspektive.

Es ist ein merkwürdiges Phänomen der Verweigerung des Dazulernens. Al­lein in den vergangenen zwei Jahrzehn­ten erlebte Deutschland etliche große Krisen: Finanzkrise, Eurokrise, Klima­krise, Flüchtlingskrise, Corona­-Krise, Russland­-Ukraine­-Krieg. Und jede neue Krise zog alle Aufmerksamkeit auf sich – und man blickte unvorbereitet auf die neue Krise. Dabei hatte es nie an Warnungen gefehlt, doch die Politik blieb jeweils weitgehend sprachlos.

Dies wird in der Gesellschaft natür­lich schmerzhaft festgestellt. Die aktu­ellen Umfrageergebnisse sind deshalb keine Überraschung: 68 Prozent kön­nen weder bei Scholz noch bei Habeck oder Lindner eine Strategie erkennen. Es gibt keine Orientierung, wohin es denn nach dem Ausruf der Zeitenwen­de gehen soll.

Bestimmte Begriffe haben in diesem situativen Krisenmanagement entspre­chende Konjunktur: Gießkanne, Füll­horn, Abschlagszahlung, Preisdeckel et cetera – man fühlt, was es bedeutet, in der „Gerechtigkeitsfalle“ zu sitzen.

Auf der Angstskala wechseln einzel­ne Einstellungen die Plätze. Mal steht die Kriegsangst ganz oben, dann ist es wieder die Gesundheitsangst. Abge­löst werden die beiden zwischendurch von der Angst um wachsende Lebens­haltungskosten und unbezahlbaren Wohnraum.

Aber dann kommt es – von vielen zunächst fast unbemerkt – zur eigent­lichen Öffnung der Tür zum gesell­schaftlichen Niedergang: Die Politik streicht die Wege in die eigene Zukunft. Sie streicht die Budgets der Talent­förderung. Bildung wird plötzlich klein­ geschrieben. Die wichtigen Bildungs­einrichtungen schreiben Alarmbriefe. Die Alexander­-von­-Humboldt­-Stiftung tut dies ebenso wie der Deutsche Aka­demische Austauschdienst (DAAD), die Gesellschaft für Osteuropakunde und das Goethe­-Institut, also jene Institu­tionen, die die Nachwuchsförderung und den damit verbundenen interna­tionalen Austausch als ihre besonders bedeutsame Aufgabe ansehen.

Tausende Wissenschaftler haben in einem offenen Brief an das Auswärtige Amt gegen die geplanten Kürzungen der Kulturmittel protestiert. So wür­den der Standort Deutschland und sei­ne Reputation nachhaltig beschädigt. Die drohende Talentlücke, man könnte auch sagen Bildungslücke, reduziert morgen und übermorgen tiefgreifend die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. Das Leistungspotenzial der Gesellschaft hängt ja nicht nur von Bodenschätzen und unternehmerischen Einsatzgrößen ab – primär sind es die geistigen, sozia­len, kulturellen Talente, die eingebracht werden. Und ausgerechnet diese Talen­te sollen nun beschnitten werden.

So wird eben die Tür zur Zukunft zu­geschlagen. Wenn in den Protestbriefen etablierter Wissenschaftler von einem „fatalen Zeichen“ die Rede ist, dann ist dies zu harmlos formuliert. Es han­delt sich mittelfristig um eine schwere gesellschaftliche, kulturelle Selbstbe­schädigung, die nur noch existenzielle Fragezeichen aufruft.

Verheerendes Sparen an der Bildung

Es beginnt im Detail mit sinkender wissenschaftlicher Relevanz, mit nach­lassender Attraktivität für Spitzenfor­scher, die dann nach Asien oder in die USA ziehen. Auswärtige Kulturpolitik wird auf das Terrain der Irrelevanz und der Erfolglosigkeit abgeschoben. Aber kulturelle, technologische, wirtschaft­liche Innovationen entstehen nicht von selbst. Hunderte Milliarden Euro wer­den zu Themen wie Sicherheit, Inflation oder Energie als Sonderetats mobili­siert – aber nicht für den notwendigen kulturellen Aufbruch, für die Talen­te, die uns morgen retten sollen, jenen Nachwuchs, der unser Zukunftspoten­zial ist. Dies alles sind Beweise tiefer Unkenntnis über die gesellschaftlichen Zukunftswege.

Der Kampf um die jungen Köpfe ist verloren, wenn die Wissenschaft und dort insbesondere die Talentförderung zum Krisenverlierer degradiert werden. Der Politik ist anzuraten, den Sinn für Prioritäten sensibel zu korrigieren und fortzuentwickeln. Die Politik muss doch lernfähig sein, wenn sie in der se­riösen Tagespresse täglich Schlagzeilen konsumieren muss wie „Ein Bild des Jammers“.

Eine Horizonterweiterung braucht je­der Mensch. Und die gibt es meist nicht zum Nulltarif. Nur durch ein besonders gezieltes Engagement werden Deutsch­land und Europa „Fit for Future“. Offen­bar aber erfordert dies ein Umdenken der politischen Führung: Kreativität, Neugier, Offenheit und strategische Klugheit müssen dominant sein. Nur so lassen sich die Barrieren in den Köpfen überwinden. Wer nun dieser krisengeschüttelten Gesellschaft eine Zukunftsdynamik verleihen will, der muss die Talente zur Entfaltung bringen, die in dieser Gesellschaft schlummern. Dies gelingt in drei Schritten. Erstens: Talente ausfindig machen. Zweitens: Talente strategisch fördern. Drittens: Talente dann weiter fördern. So kann man der Zukunft ein Zuhause geben.

Dass uns dies vor Jahren durchaus gelang, lässt sich an einem Beispiel anschaulich belegen: Es galt damals, Spitzentalente Amerikas für die Kooperation mit Deutschland zu gewinnen. Dazu mussten finanzielle Spitzensätze für die Stipendien mobilisiert, eine optimale Betreuung gewährleistet und hohes Prestige garantiert werden – vergleichbar den Rhodes Scholarships der Universität Oxford. Das bis heute sehr erfolgreiche Stipendium wurde „Bundeskanzler-Stipendium“ genannt. Das Stipendium bewährte sich sehr nachdrücklich, sodass später auch andere Länder – neben den USA – einbezogen wurden. Es gilt heute für Kandidaten unter anderem aus China, Indien, Brasilien und Südafrika.

Drift in die Misstrauensgesellschaft

Wie dringlich es ist, höchst anspruchsvolle Initiativen zu ergreifen, sehen wir, wenn wir in dieser Zeit der strategischen Sprachlosigkeit das geistige Vertrocknen und die politische Auszehrung erfassen. Die Erosion der politischen Inspiration schmerzt.

Erst die Talente der nächsten Generation werden zu neuen Aggregatzuständen des Politischen führen – wenn man diese Talente zur Entfaltung bringt, sie also kraftvoll fördert.

Die tiefgreifende demografische Veränderung bedeutet mehr, als nur immer wieder „Rente!“ zu rufen. Die soziale Komposition der Gesellschaft verändert sich tiefgreifend. Wer dies ausblendet, lässt die politische Landschaft mehr und mehr in die Misstrauensgesellschaft abdriften. Man kann diesen Vorgang resignierend als Dahinwelken der Demokratie bedauern – oder aber zu einem neuen intellektuellen Aufbruch drängen: durch gezielte, umfangreiche, kraftvolle Talentförderung.

Für jede strategische Perspektive bedarf es beweglicher, aufgeweckter Köpfe. Sie verträgt nicht die herkömmliche Denkfaulheit. Nur mit den neuen Talenten kann auf neuem Weg eine strategische Vertrauenselite aufgebaut werden. Die braucht man, wenn man die Zukunft als Lerngemeinschaft konzipieren will. Deshalb dürfen wir das Sparen an der Bildung nicht zulassen.

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