Tichys Einblick
Nach der EU-Wahl

Die trügerische Euphorie vor der nächsten Krise

Sieht man genauer hin, erkennt man, dass sich in der EU im Großen das vollzieht, was sich in Belgien als Spiegelbild der EU und nicht nur Sitz der EU-Hauptstadt im Kleinen vollzieht. In Belgien haben sich die politischen Kulturen Walloniens und Flanderns vollständig auseinanderentwickelt.

imago Images/Zuma Press

Die – vermeintliche – Katastrophe ist ausgeblieben. Die bösen „Populisten“ haben bei den EU-Wahlen keinen durchschlagenden Erfolg errungen, mit dem freilich bei nüchterner Betrachtung wohl auch nicht so recht zu rechnen war, da hätte das Zentrum für politische Schönheit gar nicht unbedingt nachhelfen müssen. Dafür ist die Wahlbeteiligung gestiegen, was im übrigen namentlich in Ländern wie in Deutschland eben diesen „Populisten“ mit zu verdanken sein dürfte, weil so zum ersten Mal seit Jahrzehnten bei Europawahlen ein echter Wahlkampf stattfand, bei dem es nicht nur um nationale Politik, sondern auch um die EU selber ging. Allerdings begnügten sich die EU-treuen Parteien meist damit, einfach nur zum Kampf gegen das Böse schlechthin aufzurufen, statt die wirklichen Probleme der EU, zu denen auch ein fundamentales Legitimationsdefizit gehört, zu thematisieren.

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Aber war das Wahlergebnis für die Parteien, die sich dazu bekannten, die EU in der jetzigen Form für den Garanten des Glücks eines jeden Europäers zu halten, wirklich so großartig, und vor allem, welche Auswirkungen wird es für die zukünftige Funktionsfähigkeit der EU haben? Sieht man genauer hin, erkennt man, dass sich in der EU im Großen das vollzieht, was sich in Belgien, das in manchem ja durchaus ein Spiegelbild der EU und nicht nur Sitz der Hauptstadt der Föderation ist, im Kleinen vollzieht. In Belgien haben sich die politischen Kulturen Walloniens und Flanderns vollständig auseinanderentwickelt; im Norden dominieren konservative oder rechte Parteien, bis hin zu den radikalen Separatisten des Vlaams Belang (knapp 19 % der Stimmen in Flandern), im französischsprachigen Süden hingegen haben die Sozialisten und eher liberale oder linke Parteien ihre Stellung hingegen behaupten können. Wie hier eine Verständigung möglich sein soll, ist unklar.

Sieht es in EU-Europa so viel anders aus? In der Vergangenheit war die europäische Volkspartei, der die CDU/CSU als stärkste Gruppierung angehört, in den meisten größeren Ländern stark verankert, das galt besonders für die wichtigen großen Gründungsstaaten der EWG, Deutschland, Frankreich und Italien. Das ist jetzt nicht mehr der Fall, die französischen Konservativen stellen nur noch 8 der jetzt voraussichtlich (mit der ungarischen Fidesz) ca. 180 Abgeordneten der EVP und die Forza Italia aus Italien auch nur 8. Diese beiden Länder spielen also in der EVP eigentlich keine größere Rolle mehr, statt dessen besitzen die Vertreter Polens und Rumäniens und – wenn Orbans Fidesz doch bei der EVP bleiben sollte – Ungarns ein zahlenmäßig noch relativ großes Gewicht. Als einzige größere Partei aus West- oder Südeuropa ist die spanische Volkspartei mit 12 Abgeordneten vertreten.

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Die EVP ist somit im Kern zu einer Partei geworden, die Deutschland und Ost- respektive Ostmitteleuropa vertritt. Umgekehrt wird ALDE, der Zusammenschluss der Liberalen, tendenziell von Macrons En Marche dominiert. Die einzige Partei, die hier außer En Marche (mit 21 Abgeordneten) mehr als 10 Mitglieder stellt, sind die britischen Liberal Democrats, die aber voraussichtlich demnächst ganz aus dem EU-Parlament ausscheiden werden. Während also ALDE in mancher Hinsicht der verlängerte Arm des Elysée in Brüssel werden dürfte – die deutsche FDP mit ihren 5 Abgeordneten spielt in dieser Gruppierung sicherlich keine nennenswerte Rolle mehr – werden die Grünen im Parlament stark von den Deutschen dominiert. 23 der insgesamt 69 Abgeordneten kommen aus Deutschland (21 Grüne, dazu vermutlich 1 für die ÖDP, und vielleicht 1 für die Piraten), die meisten anderen Länder stellen weniger als 5 Abgeordnete, nur die französischen Grünen mit 12 Mitgliedern bilden hier eine Ausnahme. Die einzige Fraktion im Parlament der EU, die noch in den meisten größeren Ländern stärker vertreten ist, sind die Sozialdemokraten, deren Gruppierung allerdings voraussichtlich nur noch 6 Franzosen (von 148 Abgeordneten) angehören werden und 16 deutsche Sozialdemokraten, auch das sehr viel weniger als früher. Die stärksten nationalen Gruppierungen stellen hier die Spanier und Italiener, die daher vermutlich auch den Kurs der Gruppe stärker als bisher bestimmen werden.
Ein fragmentiertes Parlament

Auf Grund dieser Verschiebungen werden die Interessenkonflikte zwischen den unterschiedlichen europäischen Nationen auch die Arbeit im Parlament stärker prägen als in der Vergangenheit. Jedenfalls wird ein möglicher Konflikt zwischen Links und Rechts die nationalen Interessengegensätze nur schwer neutralisieren können, weil es kaum noch Parteiengruppierungen gibt, die für sich in Anspruch erheben können, für ein politisches Lager zu sprechen, das in allen größeren Ländern der EU von zentraler Bedeutung ist. Besonders paradox ist dabei der Umstand, dass die Grünen im Parlament der EU die deutscheste von allen Fraktionen bilden. Fast erscheint die Grüne Fraktion in Brüssel wie eine EU-Dependance der Bundestagsfraktion der Grünen, obwohl doch die Grünen hierzulande eigentlich alles Nationale fundamental ablehnen und den Nationalstaat lieber heute als morgen abschaffen würden. Aber den Rest EU-Europas mit deutschen Plänen für die Errettung der Welt beglücken, das will man dann eben doch.

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So wie der Euro innerhalb der Eurozone nicht mehr Kohärenz geschaffen hat, sondern eher die Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen europäischen Volkswirtschaften akzentuiert und verstärkt hat, so haben die politischen Auseinandersetzungen und Krisen der letzten Jahre auch die Divergenz der politischen Kulturen in den einzelnen europäischen Ländern verstärkt, und das in sehr auffälliger Weise. In Deutschland, das hat die Wahl gezeigt, ist offene Kritik am EU-europäischen Projekt immer noch eine Außenseiterposition. Wer sich dazu bekennt, gilt schnell als halber Rechtsradikaler.

Die meisten Deutschen glauben die offiziellen Legitimationsnarrative, dass die EU eine tausendjährige Epoche unaufhörlicher Kriege in Europa plötzlich beendet habe und die Deutschen ihren Wohlstand vor allem der europäischen Einigung und dem Euro verdanken. Namentlich jüngere Wähler lehnen es kategorisch ab, über wirtschaftliche Zusammenhänge etwa zwischen den rapide steigenden Immobilienpreisen und der Niedrigzinspolitik der EZB nachzudenken.

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In anderen europäischen Ländern sieht das aber anders aus. Hier  werden der EU zum Teil auch Probleme angelastet, für die eher die nationalen Regierungen verantwortlich sind, wie in Italien die dauerhafte wirtschaftliche Stagnation. In Frankreich wiederum besitzt Macrons Vision eines europäischen Imperiums – das freilich, wie könnte es anders sein, von Paris aus zu führen ist – nur bei einer Minderheit der Wähler wirklich Unterstützung. Großzügig gerechnet mögen es 35 % der Wähler sein (die Anhänger von En Marche und der Grünen), die anderen, ob nun Konservative, rechte Nationalisten oder Linkssozialisten lehnen das alles eher ab und wollen am traditionellen Nationalstaat festhalten. In Ostmitteleuropa dürfte es ähnlich aussehen. Mehr Umverteilung zu Gunsten des eigenen Landes wird man natürlich befürworten, mehr Kompetenzen für Brüssel in zentralen Fragen wie Immigration, Finanzpolitik oder mit Blick auf Minderheitenrechte will man sicher nicht.
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Das wird allerdings den Trend zu einer weiteren Zentralisierung in der EU in vielen Bereichen trotzdem nicht aufhalten können. Dieser Trend gehört zur DNA der EU, die bislang noch nie in der Lage war, aus Fehlern der Vergangenheit irgendetwas zu lernen. Das gilt für die Schwächen der Währungsunion genauso wie für die Unfähigkeit der EU-Kommission unter Juncker, den Brexit zu verhindern. Warum sollte man auch lernen? Selbst starker Widerstand gegen die Zentralisierungspolitik Brüssels in einzelnen Nationalstaaten verpufft im Parlament der EU am Ende doch.

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Dort sind die stärker nationalstaatlich oder auch nationalistisch orientierten Parteien in der Regel nur schwer dazu in der Lage, zusammenzuarbeiten – das wird auch in der Zukunft so bleiben, während umgekehrt die Abgeordneten der größeren traditionellen Parteifamilien sich trotz der stärkeren Zersplitterung der Parteienlandschaft und der offener zu Tage tretenden nationalen Gegensätze vermutlich immer noch irgendwie darauf einigen können, die eigene Macht, also die des Parlamentes der EU, zu stärken, denn das wertet auch ihren persönlichen Status auf.

Allerdings werden dazu vermutlich noch mehr faule und dysfunktionale Kompromisse notwendig sein, als bisher, und diese reinen Formelkompromisse werden die Tendenz der EU, Vorschriften und Regelwerke zu produzieren, die sich in der Praxis nicht oder kaum sinnvoll und wirksam anwenden, aber eben auch nicht mehr korrigieren oder kassieren lassen, verstärken.

Dazu kommt ein Weiteres. Der sogenannte EuGH als zentraler Motor der Zentralisierung der EU ist nicht auf demokratische Legitimation angewiesen, wenn er auch ohne politisches Mandat durch reines Richterrecht die nationalen Rechtstraditionen gewaltsam homogenisiert. Zusätzlich wird in den nächsten 5 Jahren die Umweltpolitik benutzt werden, um nationale Kompetenzen auszuhebeln. Viele nationale Regierungen werden das sogar forcieren, weil man auf diese Weise unpopuläre Entscheidungen wie die Einschränkung des Individualverkehrs, die Abschaffung des Verbrennungsmotors oder vielleicht auch die Einführung einer CO 2-Steuer nach Brüssel auslagern kann.

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Für diese Entscheidungen kann man dann auf nationaler Ebene nicht vom Wähler belangt werden, denn man kann sich immer hinter der EU verstecken, und wer dort am Ende für konkrete Weichenstellungen wirklich verantwortlich ist, das ist nicht feststellbar, weil die Entscheidungsprozesse viel zu intransparent sind und vor allem auch nationale Konflikte im Rat der EU oft bewusst hinter einer Konsensfassade verborgen werden, um sie überhaupt beherrschbar zu machen.

Die EU wird also trotz aller Probleme in den nächsten fünf Jahren vermutlich einen Kurs des „Jetzt erst Recht“ einschlagen und versuchen, noch mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern, und sie wird damit, solange es nicht um zentrale Bereiche wie die Steuerhoheit an sich oder die Sozialpolitik geht – hier werden die nationalen Widerstände zu groß sein – auch immer wieder in vielen Einzelbereichen erfolgreich sein. Auf Widerstand wird sie am ehesten in Ländern wie Italien, Polen und Ungarn stoßen, wo stark national orientierte Parteien an der Regierung sind, die finanzielle Transfers aus Brüssel oder die Bereitschaft der EZB, ihren Staatshaushalt unbegrenzt über Anleihenkäufe zu finanzieren, freilich dennoch zu schätzen wissen.

Der deutsche Wähler hingegen zweifelt mehrheitlich an der Existenzberechtigung des eigenen Staates und wird daher die weitere Zentralisierung in Namen des Friedens und des Kampfes gegen die Klimakatastrophe mittragen oder hinnehmen, solange er die negativen Folgen nicht allzu deutlich persönlich spürt. Die Frage ist allerdings, wie dieselben Wähler reagieren, wenn hier dank des Zusammenbruchs der Autoindustrie massiv Arbeitsplätze verloren gehen und die Steuereinnahmen wegbrechen, so dass Sozialleistungen gekürzt werden müssen. Ob die Welle der Begeisterung, auf der die Grünen jetzt schwimmen, dann noch Kraft haben wird, und ob man dann immer noch so unkritisch reagiert auf alles, was aus Brüssel kommt, das bliebe dann doch abzuwarten.

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