Wir leben im chinesischen Zeitalter. Daran gibt es keinen Zweifel mehr. Europa hat ab der Renaissance den Globus erschlossen und seine Ideen in die Welt getragen. Ab dem 19. Jahrhundert ging dies mit einer Verbreitung aufklärerischer Werte einher. Darunter zählten die politische Ideologie des Liberalismus, die ökonomischen Gesetze der Marktwirtschaft sowie die Ideale von Fortschritt und Menschenrechten. Die globale Dominanz Europas brachte diese Vorstellungen bis in die letzte Ecke der Welt und beeinflusste fremde Kulturen und Zivilisationen.
Die „Verwestlichung“ des Globus erfolgte dabei nicht nur über Kolonisation, Kanonenbootpolitik und Eroberung. Vielerorts waren es technologische, künstlerische und philosophische Einflüsse, die das Ausland bewegten. Auch innerhalb des europäischen Kulturkreises selbst kennen wir solche Mechanismen: Die „Amerikanisierung“ der alten Welt erfolgte nicht allein durch Militärpräsenz, sondern schon vor dem Zweiten Weltkrieg durch Hollywood, Broadway-Musicals und Jazz. Dasselbe galt für politisches und ökonomisches Gedankengut.
Transformation des westlichen Freiheitsdenkens
Die Erosion der westlichen Dominanz, namentlich der USA als letzter echter westlicher Großmacht, zeigt sich an der Sinisierung der Mentalität. Nicht die aus europäischer Mentalität stammenden Prinzipien von Freiheit, Brüderlichkeit und Autonomie prägen das Staatswesen. Woher hat Europa seine restriktiven Maßnahmen übernommen? Angefangen von der rigorosen Maskenpflicht bis hin zum Lockdown von Städten und ganzen Ländern stammen sie allesamt aus dem Reich der Mitte.
Als China ab Januar 2020 mit seiner harten Corona-Politik begann, reagierte die westliche Presse hochmütig, überzeugt von der eigenen moralischen Überlegenheit. Das – so hieß es sinngemäß – könne „hier“ ja nicht passieren. Als Beispiel mag ein alter Artikel der Deutschen Welle vom 12. Februar 2020 dienen. Darin heißt es: „Die Abriegelung der Stadt Wuhan gilt als Symbol für die im Stil einer militärischen Kommando-Aktion durchgeführte Maßnahme, wie sie so – ohne nennenswerten Widerspruch der Betroffenen – nur in einer Einparteiendiktatur wie China möglich ist.“
Wie sehr das Abendland nun dem roten Drachen gleicht, bringt ein anderes Zitat aus demselben Artikel auf den Punkt: „‚Die Machthaber fühlen sich derzeit ganz wohl in diesem kriegsähnlichen Zustand‘, sagt der regimekritische Historiker Lifan Zhang im DW-Interview, ‚größerer Volkswiderstand ist allerdings unwahrscheinlich, denn die Menschen haben Angst vor dem Virus und meiden deswegen Versammlungen.‘ Die staatlich gelenkte Presse benutzt unter Anlehnung an Begrifflichkeiten aus der Mao-Zeit den Begriff ‚Volkskrieg‘ für die Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemie.“
Das Abendland hat Chinas Mentalität übernommen
Es ist eine Ironie der Weltgeschichte, dass Europa, das vor wenigen Jahrzehnten den dort ausgedachten und umgesetzten Sozialismus abgeschüttelt hat, nun mentalitätsmäßig von einem neuen sozialistischen Großreich unterminiert wird, dessen Hauptstadt Peking heißt. Freilich: Der sozialistische Reflex ist auch hierzulande nie wirklich überwunden worden. Aber der um sich greifende, zentralistisch-autoritäre Reflex ist nicht zuletzt einem Zeitgeist geschuldet, der die Macht des Staates, Machbarkeit und kollektives Wohl über die Grundrechte des Individuums stellt.
Doch dies ist nur das plakativste Beispiel der Veränderung in der europäischen Staatsauffassung. Ökonomisch hatte es dazu schon vor der Corona-Krise Anzeichen gegeben. Man neigt dazu, China als Diktatur mit freier Marktwirtschaft wahrzunehmen. Doch es ist eine Diktatur, die nur die eigene Wirtschaft – das heißt: Staatswirtschaft – machen lässt. Der Konkurrenzwettbewerb wird dadurch verzerrt, dass der Staat dort interveniert, wo das Risiko zu groß sein könnte. Verstaatlichung von Unternehmen, war da nicht etwas?
Altmaiers Industriestragie: Kein Vertrauen in den Markt
Im Februar 2019 forderte der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier eine nationale Industriestrategie. „In bestimmten Bereichen brauchen wir nationale und europäische Champions, die sich gegen die großen Player der Welt durchsetzen können“, sagte Altmaier damals der Welt. „Mit Konsortien, die der Staat organisiert, wie sich das Altmaier bei der Batteriezellfertigung für E-Autos vorstellt“, schreibt die Zeitung weiter. Die Kritik hagelte so drastisch auf den Wirtschaftsminister herab, dass er im November ein neues Konzept vorstellte. Nur um dann, im Corona-März 2020, zu verkünden, es ständen 100 Milliarden Euro zur Verfügung, um „von der Pandemie besonders stark getroffene Konzerne aufzufangen und notfalls ganz zu verstaatlichen“.
Beispiele wie die von Altmaier erinnern daran, dass die Pandemie nicht Auslöser autoritärer Ambitionen ist, sondern vielmehr Anlass, um länger gehegte Projekte durchzusetzen. Auf der anderen Seite existieren direkt importierte Kulturbereicherungen, die etwa vom Bundesministerium für Bildung und Forschung vorgedacht wurden, als Ideen für die Post-Corona-Ära. „Für bestimmte Verhaltensweisen können im Punktesystem, das vom Staat betrieben wird, Punkte gesammelt werden (z. B. Ehrenamt, die Pflege Angehöriger, Organspenden, Altersvorsorge, Verkehrsverhalten, CO2-Abdruck). Neben der sozialen Anerkennung ergeben sich durch das Punktesammeln auch Vorteile im Alltag (z. B. verkürzte Wartezeiten für bestimmte Studiengänge)“, heißt es in einem Papier vom Sommer 2021.
Die Transformation als Wegbereiterin staatlicher Gnadenbrote
Die seltsame Liebe für das chinesische Sozialkreditsystem hat im damaligen Papier jedoch auch die anderen „Szenarien“ überdeckt, die die Bundesbehörde vorstellte. Szenario 1, „Der europäische Weg“, liest sich fast wie eine Kopie von Altmaiers ursprünglichem Plan der Staatswirtschaft. Zitat: „Kritik kommt zum einen von Ökonominnen und Ökonomen sowie Unternehmenslenkerinnen und lenkern, die von ‚gezüchteten Oligopolen‘ und ‚Marktverzerrung‘ sprechen. Dieser Kritik begegnen die europäischen Institutionen mit dem Verweis auf realpolitische Zwänge.“ Warum mutet das „Zukunftsprojekt“ von damals so vertraut aktuell an?
Die immer wieder aufgewärmte Debatte um ein Grundeinkommen kommt vielleicht deswegen nicht von ungefähr. Bei der im Land herrschenden Steuerlast und den entrichteten Sozialabgaben kommt die Idee auf, dass der erwirtschaftete Rest ein Gnadenbrot ist. Warum dann nicht gleich das gesamte Einkommen an den Staat abführen und nur noch einen festgesetzten Betrag entrichtet bekommen? Offensichtlich geht der Staat sowieso davon aus, dass ihm sämtliche Einnahmen zustehen und er nur aus Großzügigkeit etwas zurückgibt. Immer wieder aufgewärmte Debatten um das Grundeinkommen erhärten den Gedanken, dass wir als Kinder der maternalistischen Autorität bald nur noch auf ein Taschengeld zählen können. Wir sind auf dem Weg in einen oligarchisch-bürokratischen Staat, dessen Souverän eine Funktionärskaste ist.
Der „Green Pass“ als Vorlauf?
Wir werden nichts besitzen, außer das, was uns der Staat zuweist, in Betten schlafen, die nur gemietet sind, und von der Europäischen Union empfohlene Würmermahlzeiten essen, um unseren Proteinbedarf zu decken. Und wir werden glücklich sein. Sagen Regierung und Medien. Nach einem Jahr „Green Pass“ sind Teile der Bevölkerung schon zu Genüge daran gewohnt, für jeden Kaffee am Stehtisch, für jeden Einkauf im kleinen Laden und auch beim nebenbei eingekauften Törtchen in der Konditorei ein Ausweisdokument vorzuzeigen, das uns zu solchen weltbewegenden Taten befähigt. In Italien bereits passiert: der Rücklauf zum Auto, weil man doch tatsächlich seinen Passierschein vergessen hat, ohne den es kein Croissant im Café gibt. Vielleicht bald nicht nur bei der Einreise in andere EU-Länder, sondern auch bei der Ausreise?
Womöglich sind die Parallelen mittlerweile abgedroschen, weil sie so häufig zitiert werden. Aber was ist denn die „Cancel Culture“ anderes als eine Form der Kulturrevolution? Und ist der selbstbewusste Anspruch, die Soziale Marktwirtschaft in eine öko-soziale Marktwirtschaft umzukrempeln, nicht zumindest in seinem ideologischen Drang mit einem „Großen Sprung nach vorn“ zu vergleichen? Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Der Typus der neuen europäischen Volksrepubliken wird ein anderer sein als das chinesische Original, nicht zuletzt aufgrund sowjetischer Erfahrungen.
Der Westen bemerkt die Veränderung, weil der materielle Wohlstand vor seinen Augen schrumpft. Möglich ist das aber nur, weil wir unseren geistigen Wohlstand bereits vor Jahren verloren haben.