Mit uns Menschen ist es wie mit den Sätzen der höheren Mathematik – je mehr ich über sie weiß, umso weniger verstehe ich sie. Ein großer Unterschied ist jedoch, dass ich Menschen kennenlernte, welche, anders als ich, durchaus die höhere Mathematik durchdrungen haben. Jene Herrschaften aber, welche zu den Wegen und Winkeln des Menschseins aufbrachen und uns Wegkarten zurückbrachten, sie sind allesamt tot – und sollten heute noch welche der alten Weisen leben, wissen sie sich gut zu verstecken. (Wer könnte es ihnen verübeln?)
Eine Frage zu unserer eigenen Essenz nagt nun bereits seit Jahrzehnten an mir: Warum gehen Menschen in ihr eigenes Unglück?
Warum Kollektive und Gruppen ins Unglück gehen, jene Frage wurde etwa von Jared Diamond in Collapse behandelt und auch sonst von manchem Philosophen und hauptberuflichem Wehklager. Ich frage mich heute aber zusätzlich: Warum gehen einzelne Menschen in ihren absehbaren Untergang?
Wenn ich vor Jahren mit Verwandten und Freunden sprach, die selbst oder deren Eltern das Dritte Reich erlebt hatten (bedingt durch meine Herkunft meist auf »Nehmerseite« des Geschehens), war früher eine der großen, ewigen Fragen: Warum haben so viele von uns, obwohl so vieles absehbar war, stillgehalten? Warum sind so viele nicht geflohen, als man noch fliehen konnte? (Heute fragt man auch und zuerst: Warum nur liefern sich die Deutschen wieder der Manipulation aus? Sind die Deutschen wirklich dazu verdammt, nie länger als nur wenige Jahrzehnte bei Verstand zu bleiben?)
Die Verführbarkeit der Masse ist wohlerforscht (in Diktaturen gab es zu ihrer Manipulation sogar eigene Funktionärsstellen wie etwa die einer »Sekretärin für Agitation und Propaganda«). Ja, die Verführung der Masse wurde untersucht, unternommen und auch unzählige Male (unglücklicherweise oft umsonst) zu unterbinden versucht.
Mehr noch jedoch als die melancholische Masse und der manische Mob versuche ich mir die Ergebenheit des Einzelnen zu erklären.
Warum ergibt sich der Mensch einem Schicksal, obwohl und solange er noch handeln kann, wenn doch bald jedes andere Schicksal vorzuziehen wäre?
Wir werden richtig liegen
Aus dem schönen Frankreich lesen wir von einer Studentin namens Elisabeth, und die zitiert die Männer, die ihr Böses antaten: »Sei still, Schlampe, und senke den Blick!« (so berichtet in Deutschland etwa welt.de, 24.9.2020)
Früher sagte man: »One man’s terrorist is another man’s freedom fighter.« – sinngemäß: Ob einer »Terrorist« ist oder »Freiheitskämpfer«, kommt auf die Perspektive an. (Die Antifa-Terroristen und ihre Sympathisanten sehen sich ja auch nicht selbst als Terroristen und Terror-Unterstützer, sondern in linkstypischem Denkdurcheinander als die »Guten«, welche »die Demokratie niederbrennen um die Demokratie zu retten« – ja, es ist wirr.)
In ähnlichem Streben nach genauer Rede könnten wir auch zum Ereignis in Frankreich formulieren: Des einen Vorurteil ist des anderen Erfahrungswert.
Wenn wir diese Schlagzeile lesen, »Sei still, Schlampe, und senke den Blick!«, können wir im Kopf den Rest des Artikels zu Ende schreiben, ob wir dieses Können nun Vorurteil oder Erfahrungswert etikettieren – und wir werden richtig liegen.
Ein Grund, warum ich den Artikel zuverlässig zu Ende schreiben kann, sind die Berichte dieser Art, die ich erster Hand hörte, konkret aus dem hiljen Kölle am Rhing. (Anderswo ist es fürwahr nicht besser! Aus Berlin wird gemeldet: »Polizei verzeichnet täglich 2 Vergewaltigungen«, focus.de, 2.8.2020, und ja: Der Anteil ausländischer Täter ist weit »überproportional«.)
Schon lange, bevor Angela M. die jungen Männer Nordafrikas nach Deutschland einlud, um Deutschlands Brennpunkte noch heißer brennen zu lassen, erlebten Frauen in Deutschland und Europa solche Angst, solches Leid.
Einige trauen sich bis heute nicht, davon zu berichten (»man würde mich Nazi nennen«). Andere versuchten davon zu berichten, doch ihre Geschichten werden totgeschwiegen und sie werden im Freundeskreis gemieden – sie passen nicht ins linke Lügen-Weltbild.
Was hat eine Frau denn zu gewinnen, wenn sie sich die Blöße gibt, ihre Erniedrigung zu offenbaren? Indem sie davon berichtet, wird sie ein zweites Mal erniedrigt, doch niemand wird ihr beistehen.
Im Propagandastaat Deutschland, einem Land in Angststarre vor Staatsfunk und Propaganda, wird das Opfer aufs Neue zum Opfer werden, wenn der Täter einer jener ist, welche den Mächtigen besonders heiß und nah am ansonsten kalten Herzen liegen.
Du hältst die Klappe
Dieser einen Dame in Frankreich ist es gelungen, etwas Aufmerksamkeit und öffentliche Reaktion zu erregen – auch und besonders indem sie auf das Ausbleiben von Reaktionen hinweist.
Die Studentin berichtet, wie »junge Männer« sie auf ihre nach deren Meinung zu freizügige Kleidung anpöbelten, einen kurzen Rock:
Je me permets de répondre ‚pardon‘. Là, ils me répondent ‚tu te tais salope et tu baisses les yeux‘. Deux m’attrapent chacun par un bras et le troisième me donne un coup de poing au visage. Et après, les trois s’enfuient. (francebleu.fr, 21.9.2020)
Zu Deutsch etwa:
Ich erlaubte mir, »Entschuldigung« zu antworten. Darauf antworten sie: »Du hältst die Klappe und du senkst deine Augen.« Zwei packten mich jeweils an einem Arm und der Dritte schlug mir ins Gesicht. Danach rennen die Drei weg.
Im welt.de-Artikel ist (aktuell) ein idyllisches Elsass-Foto verlinkt. In französischen Medien sieht man auf einem Video-Screenshot die Angegriffene selbst. Man sieht den Bluterguss um ihr Auge.
Die Dame heißt, so die Medienberichte, mit Vornamen Elisabeth – wie meine Gattin. Das ist nicht der einzige Grund, warum es mir nahe gehen muss. Soll das die neue europäische Realität sein, in welcher meine Tochter aufwachsen soll?
In ihrem Video-Zeugnis klagt die angegriffene Studentin Elisabeth die Feiglinge an, welche zusahen, und doch nicht halfen – sie nennt diesen Sommer den »Sommer der Feiglinge«, l’été des lâches.
Moral nur in seiner Sache
Die Studentin Elisabeth erzielte, weil und indem sie ihr Erlebnis zum günstigen Zeitpunkt auf medial wirksame Art berichten konnte, gewisse Aufmerksamkeit für das, was vielen Frauen in Europa seit Jahren geschieht.
Elisabeth wird den Preis zahlen müssen, dass sie ihr Leben lang »diejenige, die angegriffen wurde« sein wird. Nie wieder wird sie sich ohne Hintergedanken anziehen können, für lange Zeit nicht mehr frei und ungezwungen durch die Straßen bewegen. Womöglich werden die »jungen Männer« oder ihre Verwandten sich an ihr rächen wollen – auch das ist ein Grund, warum so viele Opfer lieber schweigen. Wer will denn erst von Linken und Tätern als »Nazi« beschimpft werden, und hinterher in noch mehr Angst leben müssen?
Die französische Zeitung Le Figaro schreibt im Kontext dieses Falles:
Die Stadt Straßburg schätzt, dass weniger als 10% der weiblichen Opfer von Belästigungen auf der Straße und sexistischen Angriffen es wagen, eine Beschwerde einzureichen. »Viele Frauen tun es nicht, weil sie glauben, dass die Polizei nichts unternehmen wird, dass diese Angreifer schwer zu finden sein werden und dass ihre Beschwerde im Müll endet«, so Anne-Cécile Mailfert, Präsidentin der Frauenstiftung. (lefigaro.fr, 24.9.2020, Original französisch)
Wir sind Passagiere auf einem Schiff, dessen Offiziere sich gegen uns und unsere Kinder verschworen zu haben scheinen. Ein System, das Leute wie Frau von der Leyen in seine Spitzenämter hievt, kennt Moral nur in seiner Sache und Gewissen nicht mal in der.
Europa steuert nicht nur auf scharfe Eisberge zu, wir schrammen längst an ihnen entlang, Teile der Schiffswand sind aufgerissen und Wasser dringt hinein.
Was soll der einzelne Passagier tun?
Gleichungen ins Nadelöhr
Früher stand auf meinem Schreibtisch, fein gerahmt, der Spruch: »Ora et labora!« – »Bete und arbeite!« – Heute ist dieser gerahmte Sinnspruch im Flur an der Wand angebracht. Jedes Mitglied unserer Familie kann es sehen und wird es hoffentlich bedenken, wenn wir morgens die Klosterzellen verlassen und zur Morgenvesper aufbrechen.
Ich rede nicht zu höheren Mächten, doch ich verurteile gewiss niemanden, der es tut. – »Beten«, das steht in meiner Deutung für den Versuch, sich selbst in eine »kompatible Harmonie zur Realität« zu bringen. »Beten« steht auch für den freien Entschluss, von den vielen möglichen Szenarien die guten und weniger schmerzhaften in den Blick zu nehmen (sprich: zu hoffen).
All mein In-Harmonie-bringen und Hoffen wäre schal und trübe wie das Geschwätz der Aktivisten in den Talkshows, wenn ich nicht zur Arbeit bereit wäre. Bete und arbeite.
Selbst wer im Boot flussabwärts und mit der Strömung fährt, tut klug daran, weiter zu paddeln und zu steuern, so dass er von Steinen und vom Ufer weit genug fort bleibt – um wie viel mehr sollte jener paddeln, der ohnehin flussaufwärts und gegen den Strom fährt!
Die Wand unseres Schiffes ist längst aufgerissen – und die Offiziere in ihrem Wahn halten weiter auf den Eisberg zu. Was tun? Ich bin wie einer, der mit dem Spielzeugeimer brav gegen das Eiswasser der Unvernunft ankämpft.
Vielleicht wurde ich so erzogen. Vielleicht wurde ich so geboren. Vielleicht hat mich die Geschichte meiner Familie so geformt. Wahrscheinlich von allem etwas.
Um einen weisen Mann aus alten Zeiten zu paraphrasieren. Hier kämpfe ich, ich kann nicht anders – und ich will auch nicht anders wollen!
Ist dies nur der Sommer der Feiglinge? Ist dies nicht gar das Zeitalter der Feiglinge? Ich weiß es nicht – allzu mutig würde ich selbst mich nicht nennen.
Mit uns, den Menschen, ist es fürwahr wie mit den Sätzen der höheren Mathematik – je mehr ich von ihnen höre, umso weniger verstehe ich sie.
Ich weiß nicht, warum wir stillhalten. Ich weiß nicht, warum wir so tödlich brav sind, während sie uns die Heimat niederbrennen und es Moral nennen. Eher gelangt ein Reicher ins Himmelreich als deren höhere Mathematik in mein Kamelgehirn.
Ich weiß, dass es heute Mathematiker gibt, welche den feinen Faden jener hohen Gleichungen ins Nadelöhr einzufädeln und daraus kunstvolle Beweise zu nadeln wissen, und dass es sie gibt, bereitet mir Freude – noch ist nicht alle Hoffnung verloren.
Was aber uns, die Menschen selbst angeht, alle Menschen, und zwar als Einzelnen, da wäre es ratsam, dass wir »Mathematiker in eigener Sache« würden – und wenn es bedeutet, dass wir mit dem Einmaleins beginnen.
Dies mag der »Sommer der Feiglinge« sein, ein viele Jahre langer Sommer, und wir alle sind gewissermaßen »Sommerkinder«.
Was jedoch unsere eigenen inneren Rätsel betrifft, etwa das Rätsel, warum wir all dies so brav hinnehmen, vielleicht könnten wir zumindest den wenigen Mut aufbringen, in uns hinein zu hören, und uns selbst zu fragen: Warum bin ich so feige?
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.