Tichys Einblick
Die wilde Tamara

Die Strategie der Ablenkung und Verwischung bei der Berlin-Demo

Nicht das sachliche Anliegen der Demonstranten, sondern wer sie sind, wird in den Vordergrund geschoben. Es geht um die Ächtung der Personen, die sich für ihre Grundrechte vereinigen.

Laut Tagesspiegel vom 1.9. war es eine gewisse Heilpraktikerin Tamara K. (mit dem vielleicht heilpraktischen Werbenamen «Kirschbaum»), die wild gestikulierend auf der Bühne vor dem Reichstag dazu aufrief, die Polizeiabsperrungen zu überspringen und auf den Treppen des Reichstages ein friedliches «sit in» zu veranstalten. Was dann von ca. 100 Personen auch befolgt und von drei Polizisten relativ mühelos abgewehrt wurde.

So lächerlich diese mehr an Hippiezeiten erinnernde Aktion auch war: Sie wurde in ihrer Lächerlichkeit noch weit übertroffen durch die mediale und politische Hysterie, die bis hinauf zum Bundespräsidenten langte, und einen «Sturm auf den Reichstag», das «Herz unserer Demokratie» herbeiphantasierte. Die zum Teil mitgeführten «Kaiserflaggen» – ohne «Kaiserwetter», aber mit deutlichem Bezug auf die Gründerzeit des Reichstages, wurden flugs mit Naziflaggen (Hakenkreuzfahnen) verwechselt und ins Narrativ eines fast gelungenen, nur mit äußerster Not verhinderten Staatsstreiches durch «Rechtsextreme» (wer und was immer das sein soll) verwoben.

Dokumentiert wurde das ganze durch flugs von der Antifa hochgeladenen Videos, und so mancher mag sich fragen, wieso gerade die dort dabei waren. Geschenkt: Der «Sturm auf den Reichstag» wurde zum nationalen Skandal; was man mit souveräner Gelassenheit und einem guten Stück bürgerlichen Humors als den Angriff der wilden Tamara & hunderter Hinterteile auf die Reichtagstreppen hätte wegschmunzeln können, wurde via Nazikomplex zur Staatskrise gehypt, um eine ganze Demonstration gegen die coronabedingten Einschränkungen der Grundrechte zu delegitimieren.

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Und kopf- und gedankenlos, wie solche hysterischen Überreaktionen nun einmal sind, begab man sich damit wirklich in eine gefährliche Nähe zum Inaugurationsakt der nationalsozialistischen Diktatur: Denn war es damals nicht der durch einen Holländer gelegten Reichstagsbrand, der die Erlassung der Notstandsgesetze begründete, mit denen Hitler bis 1945 regierte? Muss der Staat nun nicht ebenso zum Schutz der Demokratie vor der wilden Tamara alle Demonstrationsrechte kassieren? Vor allem dann, wenn die «Falschen» demonstrieren?
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Es gibt – neben dem kabarettistischen Potential des Zwischenfalls – doch einige gewichtige Bedenken, das Lächerliche dieser Überreaktionen ernst zu nehmen. Seit den liberalen, eher lust- und partybetonten Zeiten Wowereits hat sich die Atmosphäre in Berlin dramatisch verändert: Es ist unter der Herrschaft des RRG-Senats kühler, autoritärer, zwanghafter geworden; es regiert das Dekret von oben, das recht unbekümmert um Verfassungsrecht die freie Entwicklung der Stadt lähmt und von Mietpreisstop, Enteignungsphantasien und Baurechtsschikanen auch das Demonstrationsrecht drangsaliert und nicht zuletzt seine eigene Klientel: die sogenannte «Kreative Szene» – durch die Anti-Coronamaßnahmen an den Rand des ökonomischen und existentiellen Abgrunds drängt.

Sichtet man die Menschenmassen, die am 1. wie dann am 29. August gegen die Corona-Maßnahmen die Berliner Straßen füllten, dann dürfte man nicht fehl in der Annahme gehen, dass es sich hier überwiegend um Wähler des RRG Lagers handelt. Und gerade diese sich vom aktuellen Berliner Senat, den Altparteien wie von allen MSM verraten und verkauft vorkommen. Worum geht es?

Demonstrationsrecht: Sachliches Anliegen und Person

Eine politische Demonstration hat immer ein sachliches Kernanliegen für oder gegen etwas; und dies ist ihr ausschließliches Thema, unter dem sich eine bestimmte Masse von Menschen zusammenfindet und vereinigt. Was diese Menschen sonst noch denken, ist ganz gleichgültig und kommt darin nicht vor: es hat mit dem Thema, um das allein es geht, nichts zu tun. Diese punktuelle Zielgerichtetheit der Demonstration macht auch ihre Schlagkraft aus; man protestiert nicht gegen «alles Mögliche», sondern konzentriert sich auf ein Ziel, so verschiedene Vorstellungen, Lebenshaltungen, politische Orientierung usf. die Teilnehmer auch sonst noch haben mögen.

Wer gegen die Atomkraft protestiert, frägt seinen Mitdemonstranten nicht, ob er eventuell für die Kohlekraft sei, oder gegen die technologisierte Welt überhaupt, oder welche sexuellen Vorlieben er habe, vielleicht pädophil sei oder homophob, ob er eher Fleisch oder Gemüse mag und welche politische Partei er wählt. Das alles und noch viel mehr ist für das politisch demonstrierte Anliegen völlig irrelevant: aber um nun eine politische Demonstration zu delegitimieren, sie in Verruf zu bringen und zu verfemen, wird genau das alles aus dem Sack gezogen: Es ist die Strategie der Ablenkung und Verwischung.

Die Strategie der Ablenkung und Verwischung

Thema der Anti-Corona-Demonstrationen ist die Verhältnismäßigkeit von öffentlich bekanntem, wissenschaftlichem Erkenntnisstand in Sachen Covid-19 mit den regierungsamtlich getroffenen Maßnahmen. Für ersteres stehen die RKI (inkl. Sentinel) Daten, für letzteres die nationalstaatlich verordneten Eingriffe in die Grundrechte. Der Dissens der Corona-Demonstranten bezieht sich also nicht auf andere (imaginäre) Daten und (alternative) Erkenntnisse, sondern einzig und allein auf die Frage, ob und inwieweit diese dazu taugen, weitgehende Eingriffe in die Grundrechte der Bürger mit allen Konsequenzen für ihr wirtschafliches Leben zu begründen, d.h. zu legitimieren. In einer demokratischen und der Rationalität verpflichteten Gesellschaft würde man erwarten, daß diese Kontroverse in aller Ruhe und Gelassenheit ausgetragen und von den öffentlichen Medien bekannt gemacht wird.

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Genau dies ist nicht der Fall – und hier beginnen dann Ablenkung und Verwischung: Nicht das sachliche Anliegen: das Kernthema der Demonstranten, sondern, wer das alles ist, wird in der Vordergrund geschoben zum alleinigen Thema. Es geht um die Ächtung der Personen, die sich umwillen ihrer Grundrechte vereinigen – in der harten Version sind es alles Unmenschen, Nazis, Rassisten, Antisemiten, in der weichen Verschwörungstheoretiker, Esoteriker, Impfgegner, kurz: Spinner. Und wer sonst dann noch zufällig dabei war, gutgläubig und blauäugig: also doch ziemlich «doof», sollte sich klar machen, mit wem er sich da «gemein» macht: dass er also für ein ganz anderes Anliegen in Anspruch genommen wird – Tamaras «Sturm auf den Reichstag».

Dass hinter diesen Protesten das Fachurteil einer ganzen Reihe ausgewiesener Wissenschaftler und Ärzte steht, wird geflissentlich verschwiegen. Die Verkehrung wird total: Bürger, die die Wiederherstellung ihrer Grundrechte einfordern, werden zu solchen erklärt, die die verfassungsmäßige Ordnung der Republik umstürzen wollen – so der Innensenator Geisel im RBB. Von der Sache selbst ist nicht mehr die Rede – Ablenkung und Verwischung durch die persönliche Diffamierung der Teilnehmer sind geglückt, wenn auch um den Preis demokratischer Diskursivität.

Auch Michael Ballweg, Organisator der Querdenken-Demonstrationen, sollte am 1.9. im RBB-Gespräch («Wir müssen reden»: welch Ton erzieherischer Maßnahme!) auf diesen sachfremden Boden gezogen werden. Daran scheiterte das Gespräch, das einzig und allein das sachliche Anliegen und seine immanente Legitimität zu behandeln hätte, egal, welche Menschen es sich nun zueigen machen. Gerade dort, wo es um Grundrechte des Bürgers und damit um seine grundgesetzlich verbriefte «Würde» geht, ist ein weit über alle Parteigrenzen hinausreichendes Publikum zu erwarten, das in all seinen persönlichen, ethisch-politischen und weltanschaulichen Differenzen die ganze Diversität der Gesellschaft widerspiegelt: Da hat jeder das gleiche Recht auf Achtung seiner Person – jenseits aller moralideologischen Ausgrenzungen, die regierungsamtlich festlegt, wer ein demonstrationsberechtigter Guter und wer ein politisch zu entmündigender Böser ist.

Das war aber dann die Aufgabe von Olaf Sundermeyer, dem als «Experte für Rechtextremismus» scharfgemachten Dobermann von Innensenator Geisel, der seine ganze Bissigkeit auf die persönliche Diffamierung der Demonstranten auskläffte. Seine Verbissenheit war, Ballweg auf jenes sachfremde Terrain einer ethischen Totalbegutachtung der auszulesenden Demonstrationswürdigen zu ziehen. Auch abgesehen davon, dass weder Ballweg noch überhaupt ein Mensch über einen solchen Röntgenblick in die seelische Komplexität seiner Mitmenschen verfügt, blieb es auch offen, woran der bissige Olaf auf der Berliner Demo nun einen Nazi, einen Antisemiten, Impfgegner, Esoteriker und was für menschliches Gemüse denn noch erkannt haben will. Expertengeheimnis eines Dobermanns, der gerne Demokratie beißt.

Nur sei erinnert: Es ist ein Unding demokratischen Rechtsverständnisses und in diesem Sinne «totalitär» und «faschistoid», wenn die Legitimität politischer Anliegen von der regierungsamtlichen Begutachtung der ethischen Persönlichkeit abhängig gemacht wird. Aber konsequent ist es durchaus – im Sinne der faschistoiden Tendenzen des Berliner Senats.

Und Michael Ballweg sei daran erinnert, dass er allein das sachliche Anliegen: die Frage der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen – als den wesentlichen Kern der Demonstrationen im Blick zu behalten hat; und es dafür völlig gleichgültig ist, was die Teilnehmenden sonst noch so alles meinen und denken. Auch Hitler war Vegetarier: sind deshalb alle Vegetarier Nazis, Rassisten und Antisemiten?


Rudolf Brandner

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