Die Diskussion um Thilo Sarrazins Thesen, die mit seinem Ausschluss aus der Partei (vorläufig) endete, erscheint mir heute wie ein Film, der zum besseren Verständnis noch einmal ganz zum Anfang zurückgespult werden sollte. Ich erlebte die Debatte in einer Nebenrolle – als SPD-Bundestagsabgeordneter.
September 2007, in den Räumen der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin: Die SPD-Haushälter beraten in jährlicher Regelmäßigkeit ihre Linie für die kommenden Beratungen über den nächsten Bundeshaushalt. Hinzugeladen sind wie immer die SPD-Länderfinanzminister. Hauptreferent ist diesmal Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin. Ein übliches Verfahren; die Kollegen sind gespannt, wie Sozialdemokrat Sarrazin die aktuelle und kommende Finanzlage Berlins einschätzen wird.
Er gilt zu jener SPD-Zeit als kluger und vorausschauender Fachmann, der solide Finanzpolitik in Berlin umsetzen will. Die SPD ist noch der Auffassung, dass Wahlen in der Mitte und mit erfolgreicher Wirtschafts- und Finanzpolitik gewonnen werden, weil nur so die langfristige Finanzierung des Sozialstaats möglich ist. Thilo Sarrazin sieht das ebenso und befindet sich damit auf Mehrheitsseite. Sarrazin beschließt seine Erläuterungen mit einem längeren Statement zur „desaströsen“ Berliner Migrationspolitik. Seine Sorgen kreisen um Finanzierbarkeit und Erhalt des Sozialstaats, verbunden mit der Notwendigkeit der Integration – ein durch und durch sozialdemokratischer Ansatz.
In der anschließenden Sitzungspause ging ich zu Thilo Sarrazin, beglückwünschte ihn zu seinen klaren und wichtigen Aussagen und meinte, eigentlich sei das Stoff für ein kluges, auf Zahlen beruhendes Buch. Das Thema, meinte ich, muss öffentlich seriös diskutiert werden können. Er nickte und sagte, so etwas höre er oft, auch in der SPD.
Selbstverständlich bedurfte es meines Rates nicht für das drei Jahre später erscheinende „Deutschland schafft sich ab“. Die Idee hatte der Mann längst selbst im Kopf. Aber ich gehörte 2010 nicht zu den Leuten, die von Sarrazins Bestseller überrascht wurden. Das Thema lag seit Jahren in der Luft. Nur der Buchtitel war offen.
Aussprechen, was ist
„Deutschland schafft sich ab“, wenn es sich nicht besinnt! – so verstand ich vor zehn Jahren Thilo Sarrazins Buch als typisch ursozialdemokratisches Anliegen. Sagte Ferdinand Lassalle: „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“
So beschreibt Thilo Sarrazin nunmehr seit vielen Jahren, was geht, was nicht geht und was wie gehen könnte, um den Sozialstaat für seine Bewohner erhalten zu können. Wenn das nicht sozialdemokratisch ist, dann gibt es keine Sozialdemokratie. Sozialdemokraten, zumindest erfolgreiche Sozialdemokraten, verstanden sich nie als Gesellschaftsarchitekten, die für eine bessere Welt bessere Menschen brauchen.
Chancengleichheit in Freiheit und Demokratie waren Weg und Daueraufgabe, das heutige Umerziehen der Bevölkerung hätten weder Lassalle noch Bernstein noch Friedrich Ebert, kein Kurt Schumacher, kein Willy Brandt und erst recht nicht Helmut Schmidt mitgetragen. Selbst mit Gerhard Schröder war das nicht zu machen. Die SPD ist genverändert, Thilo Sarrazin ist es nicht. Er ist Sozialdemokrat im besten Sinne – unabhängig von seiner Mitgliedschaft.
Das gesamte, hochkomplexe Gefüge ist zwingend an den Staat in dessen klaren Grenzen gebunden. Keine oder unkontrollierte Grenzen lassen die Ausgaben explodieren und die Einnahmen weit unter einem unbekannt hohen Bedarf stagnieren. Die innerstaatlich definierte Zahl an Steuer- und Sozialabgabenzahlern müsste unbegrenzt in Haftung genommen werden. Eine Demokratie kann das bei Strafe ihrer Abwahl und ihres Untergangs nicht organisieren. Sozialstaaten können hilfsbedürftigen Regionen und Ländern helfen, aber nur in den Maßen, die zwischen den Regierungen und den Regierten beständig demokratisch ausgehandelt werden. Das letzte Wort spricht immer der Souverän in Wahlen.
Verflüchtigt sich der Sozialstaat bei Grenzenlosigkeit, so kollabiert die innere und äußere Sicherheit rasant, und er wird zum Freiheits- und Sicherheitsrisiko nicht nur für die eigenen Bürger. Grenzenlose, gleichsam hilflose und damit vor Chaos nicht geschützte Staaten verstärken das Elend in der Welt.
Das SPD-Experiment „Wahlen ohne Wähler gewinnen“ ist ein Schrumpfkurs, der eine der verdienstvollsten deutschen Parteien an den Rand der Selbstvernichtung treibt. Ein Sinnbild des SPD-Selbstmords ist der Versuch, Sozialdemokraten wie Thilo Sarrazin aus der Sozialdemokratie zu entfernen. Möglicherweise kommt an diesem Punkt Rettung für die SPD aus Karlsruhe, wo Sarrazin seinen Ausschluss überprüfen lässt. In der pluralen Gesellschaft müssen auch Parteien Diskussionen aushalten.
Hans-Ulrich Wehler (1931−2014), einer der ehemals renommiertesten Historiker Deutschlands und über Jahrzehnte für die SPD als Sympathisant rührig, schrieb 2010 in der „Zeit“: „Ein Buch trifft ins Schwarze“ und bescheinigte Thilo Sarrazin „ein leidenschaftliches Reformplädoyer“.
Wahlen gewinnen und rechnen können gehörten bis vor wenigen Jahren zum sozialdemokratischen Grundverständnis in möglichst realer Daseinswahrnehmung. Heute sind Wunsch und Wolke die Konstanten der neuen SPD. Eine Einladung zur Abwahl.
Thilo Sarrazin ist im richtigen, die SPD quält sich im falschen Film.