Die Sozialdemokraten geben das Ziel Platz eins auf
Roland Springer
SPD-Mitglieder glauben mehrheitlich nicht mehr an die Vision ihrer Partei-Führung, wieder stärkste Fraktion im Bundestag werden zu können. Der Spatz in der Hand an Merkels Kabinettstisch ist ihnen daher lieber als die Taube auf dem Dach des Kanzleramts.
Mehr als 66 Prozent der SPD-Mitglieder haben für die Fortführung der christ-sozialdemokratischen Koalition gestimmt. Die Mehrheit der Partei ist damit dem Votum der SPD-Führung gefolgt, als Junior-Partner die Kanzlerschaft von Angela Merkel zu verlängern. Begründet wird dieser Schritt seitens der Führung der Sozialdemokraten mit dem Argument, nur durch ein Mitregieren sei es möglich, sozialpolitische Verbesserungen, die im Koalitionsvertrag erstritten worden seien, für die eigene Wählerschaft in die Tat umzusetzen. Damit hat sie eine 180-Grad-Wende gegenüber ihrer Entscheidung vom Wahlabend des 24. September vollzogen, an dem sie angesichts ihres Wahlergebnisses jegliche weitere Koalitionsbereitschaft mit den Christdemokraten aufkündigte. Aus der Opposition heraus sollten wieder so viele Wähler für sozialdemokratische Politik gewonnen werden, dass die SPD bei der nächsten Bundestagswahl wie 1998 und 2002 erneut zur stärksten Fraktion werde und das Kanzleramt übernehmen könne.
Mit dieser Vision hatte Martin Schulz schon im Wahlkampf immer wieder gespielt, indem er öffentlich laufend insinuierte, was er tun würde, wenn er nach gewonnener Wahl vom Bundestag zum Kanzler gewählt werde. Angesichts der Umfrageergebnisse der SPD war aber jedermann klar, dass die Wähler der Sozialdemokraten allenfalls die Rolle des Junior-Partners in einer fortgeführten Koalition mit CDU/CSU zubilligten. Trotzdem schürte die SPD-Führung mit Schulz unter ihren Mitgliedern, Anhängern und Wählern die Erwartung, die Sozialdemokraten könnten wieder stärkste Fraktion werden. Ihr öffentlich erklärtes strategisches Ziel war somit ein anderes als ihr faktisch verfolgtes. So sollte der Eindruck aufrecht erhalten werden, die SPD verbleibe weiterhin die zweite große Volkspartei vergangener Zeiten, unter deren Führung Regierungen gebildet werden können. Nachdem sich am Abend der Bundestagswahl herausstellte, dass die SPD keine mehrheitsfähige große Volkspartei mehr ist, korrigierte sie jedoch nicht ihr strategisches Ziel, sondern erklärte lauthals, nun in einem neuen Anlauf aus der Opposition heraus das Kanzleramt im Jahr 2021 erobern zu wollen. Grundlage hierfür sei ein Erneuerungsprozess der Partei, der nur aus der Opposition heraus gelingen könne. Die Fortführung der Koalition mit den Christdemokraten führe dagegen zwangsläufig in den weiteren Niedergang.
Viele Mitglieder und Anhänger der SPD, namentlich die Jusos, nahmen ihre Parteiführung beim Wort und feierten den Gang in die Opposition als eine Art REHA-Kur zur Wiedererlangung alter Stärke. Allerdings haben sie dabei ihre Rechnung ohne den Wirt, in diesem Fall die SPD-Führung, gemacht. Diese schwenkte nach dem Jamaika-Aus plötzlich um und erklärte ihren verdutzten Mitgliedern und Anhängern, der Weg in Kanzleramt führe taktisch nicht über die Oppositionsbänke, sondern über das Kabinett von Angela Merkel. Es gehe bei einer Fortführung der Koalition mit den Christdemokraten nicht nur darum, die Arbeits- und Lebensverhältnisse der „kleinen Leute“ zu verbessern, sondern die Partei der Sozialdemokraten auf diesem Weg zu erneuern und wieder zu alter Stärke zurückzuführen.
Seit heute wissen wir: vierunddreißig Prozent der SPD-Mitglieder wollen diesen abrupten Schwenk ihrer Parteiführung nicht mitmachen. Sie halten ein Wiedererstarken der SPD als Juniorpartner der CDU offenbar für nicht möglich und wollen lieber in die Opposition gehen. Sechsundsechzig Prozent der SPD-Mitglieder haben sich aber für die Rolle als Juniorpartner der CDU entschieden. Daaa sie damit die Erwartung verbinden, die SPD könne wieder, wie von Scholz und Nahles versprochen, mehr als 30 Prozent der Wähler von sich überzeugen, ist eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass die Mitglieder der Partei inzwischen mehrheitlich davon ausgehen, dass sich mit dem Spatz in der Hand als Junior-Partner auf Dauer auch gut leben lässt, zumal, wenn die Taube auf dem Dach des Kanzleramts in immer weitere Ferne rückt. Sie gehen strategisch, was die Anerkennung politischer Realitäten betrifft, insofern ihrer Parteiführung wie aber auch den Jusos voraus, wohl wissend, dass die Sozialdemokraten nach der nächsten Bundestagswahl auch in einer Koalition mit den Christdemokraten und den Grünen ihre Rolle als sozialpolitisches Korrektiv bestens spielen können. Wir dürfen gespannt sein, ob die SPD-Führung dieser strategischen Einsicht der Mehrheit ihrer Mitglieder bei der nächsten Bundestagswahl folgt oder den Wahlkampf 2021 (oder früher) erneut mit einer aussichtslosen strategischen Zielsetzung führen wird.
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